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Berlin, 03.12.2020 | Knapp 25 Teilnehmende aus den Mitgliedsorganisationen des Bundesforums Familie nahmen am 03. Dezember 2020 am Online-Fachgespräch „Wohnungslosigkeit von Familien im europäischen Vergleich“ der Themenperiode „Familie, Wohnen und kommunale Infrastruktur“ teil.
Nicht nur in Deutschland, sondern auch europaweit steigen die Zahlen wohnungsloser Familien. Vor diesem Hintergrund beleuchtete das digitale Fachgespräch das Thema der Wohnungslosigkeit von Familien aus europäischer Perspektive. Prof. Dr. Volker Busch-Geertsema eröffnete das Fachgespräch mit einer Problembeschreibung und -analyse der Lage in Europa. Leena Lehtonen, Petra Gergov-Keskelo und Wayne Stanley beschrieben die Wohnungslosenhilfe und -politik in Bezug auf Familien in Finnland und Irland sowie regionale Maßnahmen zur Bekämpfung von Wohnungslosigkeit von Familien.
Vortrag „Wohnungslosigkeit von Familien in Europa“
Zum Überblick fasste Prof. Dr. Volker Busch-Geertsema, von der Gesellschaft für innovative Sozialforschung und Sozialplanung, die Ergebnisse der Studie „Family Homelessness in Europe“ (European Observatory on Homelessness 2017) zusammen, welche in 14 europäischen Mitgliedstaaten durchgeführt wurde.
Prof. Dr. Busch-Geertsema führte aus, dass ein umfassender gesamteuropäischer Überblick schwierig sei, da viele Länder keine separaten Daten zur Wohnungslosigkeit von Familien erfassten. Dennoch ließe sich allgemein sagen, dass die Hilfesysteme häufig stark auf alleinstehende Wohnungslose ausgerichtet seien. Straßenwohnungslosigkeit von Familien in Europa sei eher selten.
In entwickelten Sozialstaaten gebe es eine starke Fokussierung auf das Kindeswohl und Leistungen für Familien, sodass Maßnahmen wie sozialer Wohnungsbau und weitere präventive Maßnahmen oftmals verhinderten, dass Familien wohnungslos würden. Andererseits sei ein bedeutender Anteil von wohnungslosen Familien nicht in Wohnungslosenstatistiken enthalten, da Mitwohnverhältnisse und Frauen mit Kindern in Frauenhäusern und Schutzwohnungen nicht in den Statistiken auftauchten. Somit gebe es in nicht unerheblichem Maße eine verdeckte Wohnungslosigkeit von Familien. Der Vergleich zwischen den Ländern sei generell durch die unterschiedliche Art der statistischen Erhebung und der jeweiligen Besonderheiten der Hilfesysteme sehr schwierig.
Ursachen für die Wohnungslosigkeit von Familien seien vielfältig; häufig spielten Beziehungsabbrüche und eine damit einhergehende verschlechterte sozioökomische Lebenslage oder häusliche Gewalt (in der Regel von Männern gegen Frauen) eine Rolle. Deutlich seltener sei die Wohnungslosigkeit von Familien mit Sucht oder psychischen Problemen verbunden – im Gegensatz zur Wohnungslosigkeit von alleinstehenden Menschen, wo diese Faktoren eine erhebliche Rolle spielten.
Lösungsansätze zum Problem der Wohnungslosigkeit von Familien sah Prof. Dr. Busch-Geertsema vor allem in präventiven und weniger in kurativen Maßnahmen, in der Gewährleistung eines raschen Zugangs zu bezahlbarem und angemessenem Wohnraum, in der schnellen Vermittlung in normale Wohnverhältnisse statt langer Aufenthalte in Sonderwohnformen, in der Förderung des Zugangs zu geeigneten Unterbringungsmöglichkeiten mit der Aufrechterhaltung lokaler Bezüge sowie in einer besseren statistischen Erfassung von verdeckter Wohnungslosigkeit und von Wohnungslosigkeit bei häuslicher Gewalt.
Bildschirmpräsentation „Wohnungslosigkeit von Familien in Europa“ (zum Download)
Wohnungslosigkeit von Familien in Irland
Wayne Stanley, Öffentlichkeits- und Politikreferent der Simon Communities in Irland, gab einen Einblick in die aktuelle Situation von Wohnungslosigkeit von Familien in Irland. Er führte zunächst kurz in die Entstehungsgeschichte der Simon Communities ein, welche vor ca. 50 Jahren von einer Gruppe Studierender gegründet wurden. Die Studierenden hätten Umfragen unter Menschen durchgeführt, die von Wohnungslosigkeit betroffen waren, um den deren Bedarfe passgenau zu ermitteln. Darauffolgend wurden wohnungs- und obdachlose Menschen mit Essen und Mahlzeiten versorgt. Außerdem hätten die Studierenden die irische Regierung auf die Problematik aufmerksam gemacht. Bis zum heutigen Tag sei der Bedarf an den Aktivitäten und Angeboten – nun deutlich gewachsen und professionalisiert – der Simon Communities groß.
Stanley erklärte, dass Wohnungslosigkeit von Familien in Irland in den letzten Jahren stark zugenommen habe und dadurch ein wichtiges Thema auf der politischen Agenda sei. Seit 2014 würden regelmäßig Daten zur Wohnungslosigkeit von Familien erhoben – derzeitig seien ca. 1.100 Familien in Irland wohnungslos. Die Ursachen von Wohnungslosigkeit bei Familien seien vielfältig und hätten sich im Verlauf der letzten 50 Jahre stark verändert.
Um wohnungslosen Familien ein neues Zuhause zu bieten, habe die irische Regierung ein Programm entwickelt, welches intensiv mit Hausbesitzer*innen zusammengearbeitet, um frei gewordenen Wohnraum an Familien mit geringen Einkommen zu vermitteln. Seit 2014 seien die Zahlen immer stärker gestiegen, immer mehr Familien verlören ihr Zuhause. Ein weiteres Programm sei initiiert worden, um Familien schnellstmöglich ein neues Zuhause zu vermitteln, sodass sie wenig Zeit in Übergangslösungen verbringen müssten. Auch dieses Programm habe zwar zunächst Erfolge verbuchen können, im Anschluss seien die Zahlen von wohnungslosen Familien immer weiter und schneller gestiegen. Die bedeutendste Ursache hierfür sei, dass der Wohnungsmarkt Familien mit geringen Einkommen zu wenig Möglichkeiten biete, geeigneten und bezahlbaren Wohnraum zu finden. Stanley erläuterte, dass die Wohnungslosigkeit von Familien paradoxerweise zugenommen habe, als die Auswirkungen der Finanzkrise ab 2007 in Irland abnahmen. Dies hätte daran gelegen, dass im öffentlichen sowie auch im privaten Wohnungsmarkt kein neuer Wohnraum geschaffen wurde und die Preise für Mietwohnungen und Eigentum immer weiter stiegen. Da Irland vor allem einen privaten Mietmarkt habe, seien die Mietkosten gestiegen als der Druck auf den Markt größer wurde.
Der Anteil versteckter Wohnungslosigkeit von Familien sei auch in Irland erheblich. Familien, die ihr Zuhause verlassen müssten, fänden häufig zunächst Obhut bei Freunden und Familie, wenn sie keine bezahlbare Wohnung auf dem privaten Mietmarkt fänden. Für die irische Regierung sei die Prävention und Bekämpfung von Obdachlosigkeit ein wichtiges Thema, so seien u.a. um Straßenobdachlosigkeit zu verhindern, zunächst auch Hotelzimmer für Familien angemietet worden, die jedoch keine angemessenen Unterkünfte gewesen seien. So seien Familienunterkünfte entstanden, in denen Familien neben Schlafräumen gemeinschaftlich genutzte Räume zur Verfügung stehen, um zu kochen, Hausaufgaben zu machen etc. Durch das Angebot der Familienunterkünfte habe sich der Fokus des Regierungshandelns verändert: statt Familien ein neues Zuhause zu vermitteln, werde ihnen zunächst Platz in einer Familienunterkunft angeboten. Stanley wies auch darauf hin, dass Irland während der COVID-Pandemie auf sinkende Wohnungslosenzahlen blicken könne. Dies liege vor allem daran, dass Zwangsräumungen aktuell ausgesetzt würden. Zudem seien durch die fehlende touristische Nutzung allein in Dublin 9.000 Airbnb-Wohnungen wieder auf dem Wohnungsmarkt verfügbar. Auch die Simon Communities nutzten solche Wohnungen um Familien Obdach zu bieten. Zusammenfassend unterstrich Stanley, dass vor allem bezahlbarer Wohnraum für Familien geschaffen werden müsse, um Familien in Irland vor der Wohnungslosigkeit zu bewahren.
Bildschirmpräsentation „Family Homelessness in Ireland“ (zum Download)
Wohnungslosigkeit von Familien in Finnland
Im Anschluss sprachen Leena Lehtonen, Projektmanagerin der Y-Stiftung und Petra Gergov-Keskelo, Projektberaterin bei der Federation of Mother and Child Homes and Shelters über Wohnungslosigkeit von Familien in Finnland. Die beiden Referentinnen arbeiten gemeinsam an dem Projekt „NEA – Securing Housing for Women“, dem ersten Projekt in Finnland, das auf die Bedarfe und Probleme von wohnungslosen Frauen zugeschnitten ist. Das Ziel des Projektes sei es, Wohnungslosigkeit von Frauen zu beenden indem sie unterstützt würden, ein Zuhause zu finden und zu sichern.
Finnland sei das einzige EU-Land, wo die Wohnungslosenzahlen in letzter Zeit gesunken sind. Basierend auf der europäischen Initiative „Housing First“ würden nationale und regionale Strategien gegen Wohnungslosigkeit erarbeitet und umgesetzt. Beispielsweise gebe es landesweit es ein Netzwerk an Wohnberatungsstellen, dessen Service vor allem auch viele Familien nutzten. Grundsätzlich habe Finnland ein starkes Sozialsystem, das z.B. für die Miete aufkomme, wenn Menschen arbeitslos seien. Während die Anzahl der Wohnungslosen insgesamt abnehme, steige allerdings die relative Zahl von wohnungslosen Frauen, was auch ein Grund für das NEA-Projekt sei. Unter Familien seien vor allem Ein-Eltern-Familien besonders betroffen von Wohnungslosigkeit, jedoch fehlten auch in Finnland genaue Zahlen. Wie auch in Irland, seien die Hauptursachen für Wohnungslosigkeit von Familien Finanzprobleme und steigenden Mietpreise. Vor allem in Städten gebe es zu wenig bezahlbaren Wohnraum für Familien. Derzeitig seien Familien in der Wohnungslosenhilfe nicht im Fokus, sodass wenig Familienunterkünfte bestünden sowie Strategien fehlten, wie Familien ein neues Zuhause bekämen, wenn sie einmal wohnungslos geworden seien.
Petra Gergov-Keskelo führte aus, wie die Federation of Mother and Child Homes and Shelters Familien Schutz und Unterstützung in schwierigen Zeiten anbiete. Dabei liege das Augenmerk vor allem auf dem Wohlergehen der Kinder. Neben der Etablierung von Austausch unter Betroffenen würde auch Beratung und Obdach für Familien in Problemlagen angeboten werden.
Bildschirmpräsentation „Homeless Families in Finland“ (zum Download)
Abschließende Diskussion
Im anschließenden regen Austausch der Teilnehmenden wurde verschiedene Punkte mit den Referent*innen diskutiert. So wurde darauf hingewiesen, dass es vor allem für Familien mit erwachsenen Kindern oder Kindern mit Behinderung als auch für große Familien schwierig sei, ein passendes neues Zuhause bzw. auch nur eine Übergangswohnung zu finden. Hingewiesen wurde auf Frauen mit Kindern, die vor häuslicher Gewalt in Frauenhäusern geflohen seien. Diese fänden dort zwar Schutz, gingen jedoch derzeitig nicht in die Wohnungslosenstatistiken ein, weil sie offiziell Wohnraum verfügten, der jedoch durch den Täter bewohnt werde. Hinsichtlich des Übergangs vom Frauenhaus auf den Wohnungsmarkt wurde sich von den Teilnehmenden für eine deutlich bessere Unterstützung und Begleitung der Frauen und Kinder ausgesprochen. Zusätzlich wurde darauf hingewiesen, dass für manche Familien vor der Wohnungslosigkeit auch in den eigenen vier Wänden unwürdige Lebensumstände vorliegen könnten, z.B. wenn Strom oder Gas etc. auf Grund von unbezahlten Rechnungen abgeschaltet würde. Solche Zustände gelte es ebenso wie Zwangsräumungen bei Familien mit minderjährigen Kindern wenn möglich zu verhindern. Abschließend wurde resümiert, dass eine deutlich bessere Versorgung von Familien mit adäquatem und für sie bezahlbarem Wohnraum unabdingbar sei, um Familien vor Wohnungslosigkeit bzw. vor dem Verbleib in Übergangswohnformen zu bewahren.