Impulsworkshop am 06. September 2024: „Auswirkungen des Klimawandels auf die psychische Gesundheit im Familienalltag“

Der Klimawandel ist nicht nur eine politische, technische und wirtschaftliche Herausforderung, sondern greift auch erheblich in den Gefühlshaushalt ein: die klimatischen Veränderungen und ihre Folgen nehmen auf vielen Ebenen erheblichen Einfluss auf die psychische Gesundheit – und damit auch auf das Miteinander im Familienalltag. Welche Folgen sich daraus ergeben und wie zukünftig auf diese Belastungen familien- wie gesundheitspolitisch reagiert werden kann, diskutierten knapp 40 Vertreter*innen aus den Mitgliedsorganisationen des Bundesforums Familie im Rahmen einer Online-Veranstaltung mit Katharina van Bronswijk (Sprecherin der Psychologists and Psychotherapists for Future).

Die Themenperiode „Familien und Klimawandel“ deckt viele Aspekte ab, die sich sowohl auf den Familienalltag und die individuelle Ebene, als auch auf die politisch strukturelle Ebene beziehen. Das Thema der Veranstaltung ist ein solches „Multilayer-Problem“, das in verschiedene Politikbereiche von Bildung, Gesundheit, Soziales und Umweltpolitik hineinreicht. Die Gesellschaft steht in all diesen Bereichen vor der Herausforderung multipler Krisen, die in emotional aufgeladenen Diskursen verhandelt werden. Studien zeigen, dass eine deutliche Mehrheit von 86 % der deutschen Bevölkerung aufgrund das Klimawandels besorgt sind. Hier gibt es keine signifikanten Unterschiede zwischen Haushalten mit und ohne Kinder (Vgl. Soziales Nachhaltigkeitsbarometer 2023). Fast ebenso groß sei jedoch die Sorge vor sozialer Spaltung, zunehmend mit der Umsetzung von Klimaschutzmaßnahmen in Verbindung gebracht würde. Wie wirken sich diese Sorgen und die damit verbundenen gesundheitlichen Belastungen auf Familien, familienpolitische Organisationen und Fachkräfte aus? Wie kann kluge Familienpolitik insbesondere hinsichtlich des Klimawandels Familien stärken? Werden durch die Klimakrise neue Unterstützungsangebote nötig? Welche Anpassungen müssen stattfinden, um den zukünftigen Herausforderungen besser zu begegnen? Um diese Fragen fundiert diskutieren zu können, informierte zunächst Katharina van Bronswijk über die Auswirkungen des Klimawandels auf die psychische Gesundheit. Hier unterschied sie zwei große Stränge: 1. den „Climate Change Impact of Human Health“, d.h. den Einfluss einer veränderten Umwelt auf den menschlichen Organismus und 2. den „Climate Distress“, der die emotionale Belastung durch die Klimakrise bezeichnet.

„Climate Change impact of Human Health“

Katharina van Bronswijk eröffnete ihren Vortrag mit einem Blick auf die sich verändernden Lebensbedingungen So seien die planetaren Belastbarkeitsgrenzen (d.h. die Grenzen, innerhalb derer sich die Erde selbst regenerieren kann) bereits in sechs von neun Bereichen deutlich überschritten. Wassermangel und Hitzewellen würden das Leben in Zukunft bestimmen. Durch den hohen Eintrag von Phosphat und Nitrat seien die biochemischen Kreisläufe aus der Balance gekommen. Neuartige Substanzen (Mikroplastik, Atommüll, Pestizide) seien in unsere Umwelt gelangt. Artensterben und die Abholzung von Wäldern führten zur Veränderung unserer Wassersysteme. Diese und weitere Entwicklungen hätten bereits heute gravierende Folgen für das Leben und das Zusammenleben.

Verschiedene Klimawandelfolgen können, so Katharina van Bronswijk, Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit (Vgl. WHO „Climate Change Impact of Human Health“) haben: anhaltende Hitzeperioden führten zu einem gesteigerten Risiko für Herz- Kreislauferkrankungen; aufgrund von Luftverschmutzung und Erderwärmung käme es vermehrt zu Asthma und Allergien. Epidemiologische Studien zeigten, dass Schwermetalle und Feinstaub Auswirkungen auf die Gehirnentwicklung von ungeborenen Kindern nehmen. Tropenkrankheiten (wie Malaria) würden sich zukünftig auch in Europa ausbreiten. Zudem sei damit zu rechnen, dass Extremwetterereignisse Ernteausfälle nach sich zögen und es daher zu einer schlechteren Nahrungsmittelversorgung kommen würde; Verteilungsproblematiken und vermehrte Migrationsbewegungen seien die Folge, was zu Konflikten und Kriegen führen könne. Sie vertiefte einzelne Aspekte:

 Naturkatastrophen und Wetterextreme

Als eine der gravierendsten Auswirkungen auf die psychische Gesundheit nannte Katharina van Bronswijk Angst- und Traumafolgestörungen. Durch das Erleben von Naturkatastrophen und durch die Zunahme von Extremwetterereignissen werde dies zukünftig mehr Menschen betreffen: bei 10 bis 15 % der Menschen führten derartige Erlebnisse zu einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTB). Entscheidend dafür sei die Art der Traumatisierung sowie die psychosoziale Versorgung nach den Ereignissen. Bei Nichtbehandlung drohe eine Chronifizierung der Symptome. In Folge dessen können Depressionen, Angststörungen oder Suchterkrankungen entstehen, laut Studien sei dies bei bis zu 49 % der Betroffenen der Fall. Somatisierungsstörungen (körperliche Symptome durch psychische Störungen) seien insbesondere bei Kindern zu beobachten.

Katharina van Bronswijk plädierte angesichts dieser Entwicklungen für eine flächendeckende Notfallversorgung und professionellere Strukturen. Der Anstieg an Menschen mit einer PTB werde in Zukunft zu einer Herausforderung für die Gesundheitssysteme, denn bereits jetzt betrage die Wartezeit für einen Therapieplatz in Deutschland ca. 5-6 Wochen. Durch die Zunahme von Naturkatastrophen sei auch in Deutschland mit einem höheren Bedarf an Psychotherapie-Plätzen zu rechnen. In Deutschland bestehe die psychosoziale Notfallversorgung (PSNV) derzeit fast ausschließlich aus ehrenamtlichen Helfer*innen – dies sei perspektivisch nicht weiter tragbar.

Hitze

Hitzeepisoden werden zukünftig zunehmen – mit zahlreichen Konsequenzen: Katharina van Bronswijk verwies auf Studien, die die Abnahme von Arbeitsproduktivität und Konzentration bei Hitze aufzeigten. Nicht zu unterschätzen sei, dass sich unter Hitzeeinwirkungen das Sozialverhalten ändere. Bei Hitze reagierten Menschen aggressiver, dies könnte insbesondere in Hochkonfliktfamilien eine Rolle spielen. Auch müsse zukünftig von großen Gruppen vulnerabler Personen ausgegangen werden: Bis zu zwei Drittel aller Menschen würden zukünftig zu den durch Hitze gefährdeten Personen zählen. Neben älteren Menschen und Kindern beinhalte das auch Menschen, die durch körperliche Arbeit, Arbeit unter freiem Himmel oder Obdachlosigkeit besonders exponiert seien. Menschen mit chronischen Erkrankungen seien ebenfalls gefährdet. Hitze, so Katharina van Bronswijk, gelte zudem als verstärkender Faktor von Demenz, bipolarer Störung oder Schizophrenie. Auch sei eine erhöhte Zahl an Suiziden und Gewaltverbrechen im Zusammenhang mit Hitzewellen festzustellen. Zudem hätten Medikamente bei Hitze teilweise veränderte Wirkungsweisen, die zu berücksichtigen seien. Manche Substanzen führten zudem zu einer schlechteren Hitzeanpassungsfähigkeit und so zu einer höheren Vulnerabilität der Behandelten.

Es sei notwendig, öffentliche Hitzeschutzräume auszubauen und zugänglich zu machen. Auch für den privaten Bereich brauche es Empfehlungen für Hitzeschutzmaßnahmen. Besonders wichtig sei, ein Verständnis in der Bevölkerung zu fördern, wie vielseitig die Wirkung langanhaltender hoher Temperaturen auf unseren Organismus und unsere Psyche ist.

Neue Herausforderungen für das Gesundheitswesen

Katharina van Bronswijk zeigte den Zusammenhang von individueller Gesundheit und Gesundheitswesen auf. Im Zentrum stehe das individuelle Wohlbefinden. Eine Verschlechterung individuell erlebter Lebensqualität wirke als Stressor im Sinne des Vulnerabilitäts-Stress-Modells. Stress könnte in einem resilienten System und durch Ressourcen abgepuffert werden. Wird ein System jedoch immer wieder gestresst und verfügt nicht über ausreichend Ressourcen, steige die Anfälligkeit für psychische Erkrankungen. Das bedeutet, dass Menschen mit Dispositionen für Krankheiten unter guten Lebensbedingungen ohne Erkrankung leben können. Stress – etwa stark veränderte Lebensbedingungen nach Naturkatastrophen, Hunger, gesundheitliche Probleme von Angehörigen – macht den Ausbruch eben dieser Krankheit wahrscheinlicher. Ein Beispiel: für einen Menschen mit depressiver Veranlagung wird mit Verschlechterung der Lebensumstände (=Stress) die Wahrscheinlichkeit höher, an einer Depression zu erkranken. Dieser Zusammenhang könne auch in der Zusammenarbeit mit Menschen mit Migrationsgeschichte relevant werden. Hier sei eine Sensibilisierung für die Problemlagen notwendig.

Nicht nur die Resilienz des Individuums, sondern des ganzen familiären Systems müsse in den Blick genommen werden. Systemische Belastungen könnten aus sozialpsychologischer Sicht zu einer Abnahme von sozialer Kohärenz und Stabilität führen. Eine Folge davon kann es zu einer gesellschaftlichen Entsolidarisierung und vermehrter Gewaltbereitschaft kommen. Dazu verwies Katharina van Bronswjik auf Studien, die den Zusammenhang von Sparpolitik im sozialen Bereich und demokratiegefährdenden Wahlergebnissen darlegen.

Climate Distress

Der Klimawandel und seine Folgen seien Auslöser von Unsicherheit und Angst, so Katharina van Bronswijk. Es gehe um die Bedrohung unserer körperlichen Unversehrtheit. Der Begriff Climate Distress  bezeichne emotionale Auswirkungen des Klimawandels: Angst – Climate Anxiety; Wut – Eco Anger und Trauer – Climate Grief/ Solastalgia. Angst und Wut seien im Diskurs relativ präsent, Trauerprozesse verliefen hingegen leise und hintergründig. Gerade das mache die Trauer zu einer Belastung, auch weil sie besonders intim sei und selten kollektiv ausgelebt werde. Der Begriff „Solastalgia = Trostschmerz“ bezeichne das Erleben ehemaliger Wohlfühl-Orte als verschwundene oder negativ veränderte Orte: wie zum Beispiel der gefällte Baum der Kindheit, die abgestorbenen Wälder im Harz, das leere Dorf an der Abbruchkante des Kohlereviers. Der Klimawandel führe bei vielen Menschen zu einem Gefühl von Kontrollverlust.

In der Diagnose von psychischen Erkrankungen seien diese spezifischen Phänomene nicht aufgenommen worden. Denn in der Diagnostik seien Gefühle keine emotionalen Störungen, sondern Bedürfnisanzeiger. Wenn sie erfüllt seien, gehe es uns gut. Sinnvoll sei daher, so Katharina von Bronswijk, diese Bedürfnisse als solche erkennen und zu erfüllen. Dies bedeute vor allem: (gemeinsam) aktiv zu werden.

Maladaptiver Umgang mit Klimagefühlen

Die Klimakrise bedrohe uns und unser Zusammenleben auf existenzielle Weise. Damit umzugehen sei nicht leicht. Katharina van Bronswijk ging auf verschiedene Coping-Strategien ein. Eine schlechte Anpassung, d.h. ein maladaptiver Umgang mit Klimagefühlen sei das Vermeiden von Nachrichten (News Fatigue). Laut Umfragen würden etwa zwei Drittel der Deutschen diesen Weg wählen. Ein gegenteiliger Umgang sei der ausdauernde Konsum von Nachrichten (Doomscrolling): das Erhalten von möglichst viel Information suggeriere einen Ausweg aus dem erlebten Kontrollverlust. Sowohl der verringerte als auch der exzessive Nachrichten-Konsum sei laut Studien mit einer wachsenden, indifferenten Wut auf Mitmenschen verbunden und daher auf Dauer nicht hilfreich.

Verarbeitungsstrategien (Climate Grief)

Verarbeitungsstrategien zu entwickeln sei eine wesentliche Aufgabe für Individuen und Institutionen. Katharina van Bronswijk stellte in dem Zusammenhang das Phasenmodell von Elisabeth Kübler-Ross vor, welches die verschiedenen Stadien im Sterbeprozess formuliert: Leugnung, Wut, Aushandlung, Depression und Akzeptanz. Diese Phasen der Verarbeitung einer existenziellen Transformation seien auch für den Umgang mit der Klimakrise erkennbar. In der Phase der Leugnung seien indes immer weniger Menschen, laut einer Studie seien etwa 6% der deutschen Bevölkerung als Klimawandelleugner*innen einzustufen.

Haltung im Diskurs einnehmen

Katharina van Bronswijk forderte das Ende des politischen Verzögerungsdiskurses. Der Ausreden-Rhetorik des „Klimaschutz ja, aber…“ müsse mit Haltung und Argumenten begegnet werden: Klimaschutz sei zwar teuer, aber nicht so teuer wie kein Klimaschutz, wenn langfristig gedacht wird. Die „Anderen“ müssten auch klimafreundlicher werden, aber das sei kein Argument für das eigene Nichtstun. Es sei zwar spät, aber nicht zu spät. Bei Verweisen auf kommende Technologien müsse man gut prüfen, ob diese Innovationen nur Scheinlösungen und Ausreden für das eigene Nichtstun oder tatsächliche Schritte auf dem Weg zu einer sozial-ökologischen Transformation seien.

Resilienz stärken

Um die psychische Widerstandsfähigkeit in Krisenzeiten zu fördern, brauche es, so Katharina van Bronswijk, drei Punkte: 1. Aufklärung und Information – um zu verstehen, was los ist; 2. Handhabbarkeit – um zu wissen, an welcher Stelle zu Lösungen beigetragen werden kann und 3. das Erleben von Sinnhaftigkeit – um zu fühlen, dass das eigene Handeln Bedeutung habe.

Der Umgang mit der Klimakrise und alle drei Aspekte gehörten in den Schulalltag. Kindern und Jugendlichen müsse hier Raum für ihre Fragen und Gefühle gegeben werden. Ebenso wichtig seien Prozesse auch in der Familie: wenn Kinder Fragen zum Klimawandel und den Folgen haben, sei es wichtig, altersgemäße, ehrliche Antworten zu bieten und gemeinsame Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen.

 Diskussion

Die Runde diskutierte, welche Herausforderungen sich aus den psycho-sozialen Folgen der Klimakrise für den familienpolitischen Bereich ergeben. Ein Ziel müsse sein, Ressourcen aufzubringen, um pädagogische und therapeutische Angebote in entsprechenden Einrichtungen und ein Netz psychosozialer Versorgung auszubauen. Diskutiert wurde in diesem Zusammenhang auch eine Vereinfachung der Zulassungensverfahren von Therapeut*innen. Es müssten Wege gefunden werden, das System flexibler zu gestalten, um auf neue Versorgungslagen im Bereich der psychischen Gesundheit reagieren zu können.

Viel stärker müsse die wissenschaftlich belegte Tatsache, dass Sparpolitik zu „extremen“, d.h. demokratiegefährdenden Wahlergebnissen führe, an die Politik herangetragen werden. Die Runde diskutierte die enge Verbindung von Ausgaben im sozialpolitischen Bereich, Demokratiestärkung bzw. –verteidigung und Klimapolitik. Gerade auf der kommunalen Ebene, die sich sehr auf das Ehrenamt stütze und sowohl durch eine angespannte Haushaltslage als auch durch die gesellschaftliche Stimmung unter Druck gerate, sei es zunehmend schwierig, sich für familienfreundlichen Klimaschutz einzusetzen. Elena Gußmann verwies darauf, dass zu diesem Thema eine weitere Veranstaltung des Bundesforums Familie in Planung sei.

Als Reaktion auf eine der Hauptaussagen des Inputs, dass gemeinsames Handeln eine zentrale Komponente für die psychische Gesundheit sei, diskutierte die Runde, wie Familien als „change agents“ verstanden und angesprochen werden können. Das Aufzeigen von Handlungsmöglichkeiten für die ganze Familie sei hier elementar – etwa eine Kinder-Fahrraddemo (Kidical mass), die auf die Notwendigkeit der Mobilitätswende hinweist und die ganze Familie anspricht. Hier müsse klassismussensibel vorgegangen werden. Klimafreundliches Verhalten müsse allen Familien offenstehen und es sei eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, dafür zu sorgen, dass alle Kinder Zugang zu zum Beipiel gesundem, ökologischen Essen sowie zu Reparatur-Treffen und Kleiderkreiseln haben. Diese Orte und Praktiken sollten nicht zu Stigmatisierung und Segregation, sondern zu einem „Wir-Gefühl“ beitragen. Als mögliche Orte für den Aufbau dieser Angebote wurden Einrichtungen benannt, an denen sich bereits Kinder und Jugendliche aufhalten: Grundschulen, Schulen, soziale Zentren. Abschließend wurde der Wunsch geäußert, das Bundesforum Familie noch mehr als Plattform für Verbände zu nutzen, die sich in diesem Bereich engagieren wollen. So könnte mehr Gewicht in die politischen Debatten eingebracht werden.

 

Impulsworkshop am 4. Juni 2024: „Recht auf Klima!? Über die Einklagbarkeit von einem besseren Klimaschutz für Familien“

Familien haben ein Recht auf eine intakte natürliche Umwelt. Nicht nur auf einer moralischen oder rechtsphilosophischen Ebene, sondern handfest in der Gesetzgebung festgeschrieben. Welche Gesetze befassen sich damit, was sind „ökologische Kinderrechte“ und werden diese auch umgesetzt? Wenn nicht, sind sie einklagbar? Auf der Suche nach Antworten auf diese Fragen versammelten sich knapp 40 Vertreter*innen aus den Mitgliedsorganisationen des Bundesforums Familie zu einem Online-Impulsworkshop.

Einführung

Projektkoordinatorin Elena Gußmann eröffnete die Runde und lenkte den Blick auf einige politische und gesetzliche Rahmen, in denen sich Berührungspunkte zu den ökologischen Lebensbedingungen von Familien finden lassen. Auf internationaler Ebene sei die UN Agenda 2030 und deren Ziele für eine nachhaltige Entwicklung, die bekannten SDGs (Sustainable Developement Goals) von Bedeutung, jedoch nicht rechtlich bindend. Zahlreiche Inhalte der 17 Ziele wiesen elementare Bezüge zu dem Lebensalltag von Familien auf, etwa die Zielbereiche Armut, Bildung, Geschlechtergerechtigkeit und Gesundheit. Die Bundesrepublik Deutschland habe zugesagt, die SDG im Rahmen der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie, die sich derzeit in einem Weiterentwicklungsprozess befinde, umzusetzen.

Die UN-Kinderrechtskonvention sei hingegen rechtlich bindend. Insbesondere der Comment Nr. 26 (Version für Kinder) sei für die heutige Veranstaltung von Bedeutung. In diesem formuliere der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes eine offizielle rechtliche Einschätzung und Handlungsanweisungen für Staaten im Kontext ökologischer Kinderrechte. Auf EU-Ebene sei wiederum die Europäische Charta der Rechte des Kindes in Artikel 24 (Rechte des Kindes) ein wichtiger Bezug. Hier würde zwar nicht das Recht auf intakte Umwelt und gutes Klima direkt aufgegriffen, wohl aber die Gewährleistung des Kindeswohls. Darin könne ein Argument für ökologische Lebensbedingungen gesehen werden. Auf nationaler Ebene verpflichte insbesondere Artikel 20a des Grundgesetzes den Staat. Zwar müssten die Maßnahmen zum Schutz der „natürlichen Lebensgrundlagen“ mit anderen Belangen abgewogen werden, jedoch betone nicht zuletzt das „Klima-Urteil“ des Bundesverfassungsgerichts von 2021 die Wichtigkeit von Maßnahmen als Teil einer „intertemporalen Freiheitssicherung“, die vor einer einseitigen Verlagerung der Lasten auf zukünftige Generationen schützen solle. Zudem formuliere auch §1 des Kinder- und Jugendhilfegesetzes , dass die Jugendhilfe dazu beitragen solle „eine kinder- und familienfreundliche Umwelt zu erhalten oder zu schaffen“.

Insofern gebe es zwar zahlreiche politische und rechtliche Gesetze und Bereiche, die Familien und Kinder mit Klima in Verbindung bringen, jedoch verhandle kaum ein Gesetz Klima- und Kinderrechte explizit gemeinsam und rechtsverbindlich.  Daher müsste, um beide Aspekte zu bedienen oft „über Bande gespielt“ werden. Eine Ausnahme sei der General Comment 26, in dem sich gleichermaßen soziale und ökologische Ansprüche befänden. Daher sei dieser und insbesondere dessen Umsetzung von besonderem Interesse – aus diesem Grund sei eine Auseinandersetzung mit dem General Comment 26 als erster Programmpunkt der Veranstaltung gesetzt worden.

Der General Comment 26 in der politischen Praxis

Nina Eschke (wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Menschenrechtspolitik International) und Sophie Funke (wissenschaftliche Mitarbeiterin der Monitoring-Stelle UN-KRK) vom Deutschen Institut für Menschenrechte stellten vor, wie mit Berufung auf die UN-Kinderrechtskonvention aus der Perspektive der Kinder und Familien für mehr Klimaschutz argumentiert und auf die Verpflichtung der Staaten verwiesen werden könne.

Das Übereinkommen über die Rechte der Kinder wurde 1989 verfasst. Die UN-Kinderrechtskonvention schreibe hierin völkerrechtlich fest, dass Kinder auf gleicher Ebene wie Erwachsene wahrgenommen werden müssten.
Der Staat sei dazu verpflichtet, Kinder nicht an der Ausübung ihrer Rechte zu hindern (Achtungspflicht), Kinder vor Übergriffen und Ausbeutung durch Dritte zu schützen (Schutzpflicht) und die Umsetzung der Kinderrechte durch z.B. Infrastrukturmaßnahmen, soziale Leistungen oder Rechtsbehelfe zu gewährleisten (Gewährleistungspflicht). Der Staat stehe außerdem in der Pflicht, die Einhaltung der Rechte zu prüfen, unterstützt durch ein unabhängiges Monitoring durch Zivilgesellschaft und Wissenschaft. Darauf basierend formuliere der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes konkrete Änderungshinweise. Auch wenn es sich dabei nur um Empfehlungen handele, betonte Sophie Funke, seien diese von hoher politischer Relevanz. Die allgemeinen Bemerkungen des General Comment seien hierfür als Interpretationshilfe anzusehen.

Der General Comment 26 sei im August 2023 durch den UN-Ausschuss veröffentlicht worden und schreibe fest: jedes Kind hat ein Recht auf eine saubere Umwelt. Entsprechend würden darin umwelt- und klimapolitische Maßnahmen empfohlen. An der Entstehung des General Comment 26 seien16.000 Kinder und Jugendliche aus 121 Staaten beteiligt gewesen. Sophie Funke  wies darauf hin, dass der UN-Ausschuss sich nach weltweiten Protesten von Kindern und Jugendlichen des Themas angenommen habe. Dies zeige einmal mehr, wie wichtig es sei, Kinder als Akteure anzuerkennen.

Der General Comment 26 sei entlang der Grundprinzipien der UN-Kinderrechtskonvention aufgebaut – dazu gehöre beispielsweise das Recht, nicht diskriminiert zu werden, das Wohl des Kindes, das Recht auf Leben, Überleben und Entwicklung, das Recht gehört zu werden, der Zugang zu Information sowie das Recht auf Gesundheit. Die Bemerkungen führten jeweils aus, was dies in Bezug auf das Recht auf saubere, gesunde und nachhaltige Umwelt bedeute, z.B.: Kindern müsse der Zugang zu leicht verständlichen, wahrheitsgetreuen Informationen über Umwelt und Klima gewährleistet werden, ebenso wie der Zugang zu Justiz und Beschwerdeverfahren. Sophie Funke betonte, dass in zahlreichen Staaten noch ein innerstaatlicher Rechtsweg fehle, auch in Deutschland. Hier seien Kinder nach wie vor auf die Unterstützung Erwachsener angewiesen. Jedoch sei ein Individualbeschwerdeverfahren vor dem UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes möglich, wenn Kinder und Jugendliche ihre in der Kinderrechtskonvention oder in den beiden Fakultativprotokollen festgehaltenen Rechte verletzt sehen.

Nina Eschke lenkte die Aufmerksamkeit auf aktuelle politische Prozesse. Insbesondere aktuell, wo viele Maßnahmen im Rahmen des Bundes-Klimaanpassungsgesetzes (KAnG) diskutiert und beschlossen würden, gelte es genau hinzusehen, inwieweit die Maßnahmen die Kinderrechte gemäß der UN-KRK achten, schützen und gewährleisten. Es sei wichtig mitzudenken, inwiefern Klimaschutzmaßnahmen auch negative Auswirkungen auf Kinder und deren Rechte haben könnten. Dazu plane die Bundesregierung (Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz sowie das Bundesministerium für Arbeit und Soziales) den Aufbau eines „Sozialmonitoring Klimaschutz“. Dieses solle die sozialen Verteilungswirkungen von Klimaschutzmaßnahmen bereits im Vorfeld analysieren und Maßnahmen möglichst sozial und gerecht entwickeln. Dazu gebe es aktuell eine öffentliche Ausschreibung für die Konzeption des Monitorings. Nina Eschke verwies darauf, dass dies interessante Möglichkeiten biete, sich aktiv in den Prozess einzubringen. Im Zuge einer sozialen Klimaanpassung solle insbesondere der Schutz von Rechten von Menschen mit Behinderungen und Kindern mehr Aufmerksamkeit zukommen. Nina Eschke betonte, dass die sich aktuell im Entstehen befindliche „Vorsorgende Klimaanpassungsstrategie auf Bundesebene“ bei Festlegung von messbaren Zielen und Indikatoren und der Auswahl von Maßnahmen eine öffentliche Beteiligung vorsehe. Interessensvertretungen vulnerabler Gruppen und Verbände könnten sich hier gezielt einbringen. Die Etablierung einer „Vorsorgenden Klimaanpassungsstrategie Länder und Kommunen“ sei bis Januar 2027 vorgesehen. Auch hier eröffne sich die Möglichkeit, sich aktiv zu beteiligen.

Dr. Manuela Niehaus – „Klimaklagen – Einklagbarkeit von Klimaschutz und Wirksamkeit“

Dr. Manuela Niehaus ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, für Öffentliches Wirtschaftsrecht und Klimaschutzrecht der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer. Sie stellte vor, was unter Klimaklagen national und international sowie auf völkerrechtlicher Ebene zu verstehen sei, machte auf die vielen „juristischen Fallstricke“ aufmerksam und zeigte auf, welche Ansatzpunkte besonders relevant für familienpolitische Belange sein könnten.

Unter dem Begriff Klimaklagen verberge sich eine Vielzahl an Formen des Klagerechts, die alle zur sogenannten strategischen Prozessführung gezählt würden. Klimaklagen, so Manuela Niehaus, vereine die Grundidee, die politische Ebene gefährde durch das Nichtstun die Zukunft und das Leben bzw. die Lebensqualität der Kläger*innen. Klimaklagen argumentierten vorrangig mit wissenschaftlichen Erkenntnissen (insbesondere den Berichten des IPCC) und seien häufig geprägt von einer Zusammenarbeit dreier Akteure: NGOs, die die Klagen anstoßen und unterstützen, oft jugendliche oder junge Kläger*innen und hochspezialisierte Anwält*innen. Gerichte würden hier nicht nur zu Orten der Rechtsprechung, sondern zu Foren des Protests und zur Möglichkeit, vulnerablen und oft nicht öffentlich sichtbaren Gruppen – etwa junge Menschen, oder Menschen im globalen Süden – in die Öffentlichkeit zu bringen. Eine erfolgreiche Klage fungiere dabei immer als Anstoß für weitere Klagen.

Umweltklagen zielten, so Manuela Niehaus, auf einen sozialen und/oder rechtlichen Wandel ab. Sie verfolgten in den konkreten Fällen verschiedene Ziele, richteten sich gegen verschiedene Akteure. Dementsprechend seien sie verschiedenen Rechtsbereichen zugeordnet und damit verschiedenen Zuständigkeiten. Um mit Klimaklagen erfolgreich zu sein, sei es daher zentral, die formalen Voraussetzungen zu kennen. Nur so könne vermieden werden, dass Klimaklagen allein aufgrund formaler „Nichtzuständigkeit“ bereits im Vorfeld abgelehnt würden.

Entscheidend für die Zuständigkeit der Gerichte sei, gegen wen geklagt werde und was erreicht werden solle: Klimaklagen, die sich gegen den Staat richteten, beträfen das öffentliche Recht. Dies liege in der Zuständigkeit der Verwaltungs-, Verfassungs- und internationalen Gerichte. Geklagt werden könne hier gegen einen Verwaltungsakt, ein Gesetz oder ein gesetzgeberisches bzw. politisches Unterlassen (zum Beispiel die fehlende Umsetzung von Klimaschutzmaßnahmen). Klimaklagen gegen den Staat könnten somit neben den Verwaltungsgerichten auch vor dem Bundesverfassungsgericht, dem Gericht der Europäischen Union, dem Europäischen Gerichtshof sowie vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verhandelt werden. Für Klagen gegen Unternehmen oder Einzelpersonen gelte das Zivilrecht. Zuständig dafür seien die Nationalen Zivilgerichte (Amtsgerichte, Landgerichte, Oberlandesgerichte sowie der Bundesgerichtshof). Zivilrechtliche Klagen könnten auf Unterlassung sowie auf Entschädigung und/oder Schadensersatz klagen. Unter das Strafrecht fielen Klagen, die die Legitimität von Protestformen erstreiten – beispielsweise im Kontext von Sitzblockaden sogenannter „Klimakleber*innen“. Diese würden überwiegend von NGOs genutzt und zielten auf öffentliche und politische Aufmerksamkeit.

Die meisten Klimaklagen, so Manuela Niehaus, stützen sich nicht auf das Recht auf gesunde Umwelt, da dies bislang nicht rechtsverbindlich anerkannt sei. Vielmehr würden klassische Menschenrechte „eingegrünt“. Mit dem sogenannten „greening“ würden Rechte, die per se keinen Umweltbezug haben, im Kontext von Umweltzerstörung und Klimawandel interpretiert. So werde z.B. aus dem Recht auf Familien- und Privatleben ein Recht auf eine intakte Umwelt abgeleitet, da es nur in dieser möglich sei, ein gutes Familienleben in Würde zu führen. Nur Klagen mit anthropozentrischer Perspektive seien erfolgsversprechend – d.h. die Natur selbst gelte nur insofern als schützenswert, als sie wichtig für den Menschen sei. Manuela Niehaus stellte eine Auswahl erfolgreicher Klimaklagen auf nationaler und internationaler Ebene vor, wie zum Beispiel die Klage der Klimasenior*innen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte im Jahr 2024. Diese habe Erfolg gehabt, da sie die Schutzpflicht des Staates – in dem Fall der Schweiz – und damit dessen Kernaufgabe adressierte. Dem Staat blieben jedoch Ermessungsspielräume, wie der Schutz gewährleistet werden könne. Es sei demnach kaum möglich, gegen eine konkrete klimaschädliche Maßnahme (z.B. Autobahnbau) zu klagen oder eine konkrete klimaschützende Maßnahme einzuklagen.

Anhand weiterer Beispiele erläuterte Manuela Niehaus die Problematik der Klagebefugnis. In Deutschland und in der EU seien sogenannte Popularklagen nicht erlaubt, die Selbstbetroffenheit der Kläger*innen müsse gegeben sein. Viele Klagen würden an diesem Punkt scheitern, denn Kläger*innen müssten darlegen, inwiefern gerade sie in ihren Rechten verletzt seien. Bei einer globalen Konstellation wie der Klimakrise, die letztendlich alle betrifft, sei dies besonders schwierig. Dass sich hier etwas bewegen müsse und aktuell auch bewege, zeige das Beispiel von „Carvalho gegen die EU“ im Jahr 2021. Die Klage sei aus dem Grund der nicht ausreichend dargelegten Betroffenheit als unzulässig abgewehrt worden. Im Nachspiel der Klage wurde die Aarhus-Konvention geändert, so dass neue Klagemöglichkeiten für Verbände eröffnet worden seien. Die Verbände müssten dabei nicht nachweisen, dass ihre Mitglieder persönlich mehr als andere betroffen sind, sondern nur, dass die Menschenrechte ihrer Mitglieder verletzt werden und dass sie als Organisationen qualifiziert sind, die Betreffenden zu repräsentieren. Vielleicht, so Manuela Niehaus abschließend, folge der Änderung der Aarhus-Konvention nun bald ein Schwung neuer Klimaklagen vor den EU Gerichten.

Diskussion

Die Voraussetzungen für Verbandsklagen waren Gegenstand der anschließenden Diskussion. Manuela Niehaus erklärte, dass es ein Umweltrechtsbehelfsgesetz gebe, in dessen Kontext Umweltrechtsverbände vor einem Verwaltungsgericht klagen könnten, wenn es eine entsprechende Umweltrechtslage gebe. Die neue Klagemöglichkeit vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bezögen sich jedoch nicht explizit auf Umweltverbände, sondern allgemein auf Verbände, die sich entschließen, Klimaschutzrechte bzw. Menschenrechte im Hinblick auf Umwelt und Klima geltend zu machen – dies sei für familienpolitische Akteure also durchaus relevant. Inwiefern sich dieses neue Urteil auf die nationale Klimapolitik auswirke, werde sich noch zeigen.

Nachgefragt wurde auch die Dauer von Klageprozessen. Für diese sei entscheidend, so Manuela Niehaus, mit welcher Priorität die Klage behandelt und ob eine weitere Verfassungsbeschwerde angestrebt werde. Drei oder mehr Jahre seien durchaus möglich. Die Diskussionsrunde interessierte sich für sinnvolle Schritte eines strategischen Vorgehens. Als Bündnis zusammen eine Klage anzustreben sei vielversprechender als ein individuelles Vorgehen, es müsse jedoch berücksichtigt werden, ob die Klage im Hinblick der genannten Klägereigenschaften zulässig sei. Daher würden sich juristisch versierte NGOs oft erst im zweiten Schritt geeignete Kläger*innen suchen, die auf die angestrebten strategischen Prozesse passten.

Kritisch hinterfragt wurde, warum das Recht auf eine gesunde Umwelt noch kein Rechtsstand in Deutschland sei. Zwar stehe dies auch im Koalitionsvertrag, aber es zeichne sich bisher keine Veränderung ab. Hier könne eine Veränderung über Gerichte geschaffen werden. Es müsse auch verfolgt werden, was diesbezüglich auf europäischer Ebene entschieden werde, hier gebe es derzeit im Europäischen Gerichtshof (EUGH) interessante Entwicklungen. Diskutiert wurde in diesem Zuge auch das Konzept des „ökologischen Existenzminimums“, das von mehreren Akteuren im rechtspolitischen Rahmen des Art. 20a des Grundgesetzes eingefordert wird. Auf die Frage, weshalb die Forderung noch nicht viel Gehör fände, vermutete Manuela Niehaus, dass die Zustände wohl noch nicht apokalyptisch genug seien.

 

Auftaktveranstaltung am 13. März 2024: „Familien und Klima“

Welche Themenfelder ergeben sich an der Schnittstelle von Klima- und Familienpolitik? Der Klimawandel, dessen Auswirkungen heute bereits erleben, beeinflusst zunehmend den Alltag von Familien – und das auf vielen Ebenen: ökonomisch, sozial, emotional, gesundheitlich. Um diese Themen für den familienpolitischen Diskurs zu erschließen, trafen sich rund 60 Vertreter*innen der Mitgliedsorganisationen zum Online-Auftakt des Bundesforums Familie.

Einführung „Familien und Klima“

Zum Auftakt begrüßte Projektkoordinatorin Elena Gußmann Ulrike Bahr, Mitglied des deutschen Bundestages und Vorsitzende im Ausschuss für Familie, Frauen und Jugend. Ulrike Bahr würdigte die Themenwahl des Bundesforum Familie: sich mit Familie und Klima zu beschäftigen, sei ein zentrales und zukunftsentscheidendes Thema. Ulrike Bahr betonte, Klimaschutz sei als ein Staatsziel im Grundgesetz definiert, der klimaneutrale Umbau der Wirtschaft und des Verkehrs müsse trotz Schuldenbremse umgesetzt werden. Familienpolitische Maßnahmen und Bedürfnisse dürften dabei nicht zu kurz kommen. So verändere die Frage des Flächenverbrauchs zukünftig familiäre Wohnformen, dennoch sollte eine Berücksichtigung kindlicher Bedürfnisse und Elternwünsche auch zukünftig möglich sein.

Ulrike Bahr betonte, dass auch bei Budgetknappheit und fehlenden Ressourcen die Notwendigkeit bestehe, ein Umdenken hin zu einer nachhaltigen Lebensweise zu erreichen. Viele Menschen würden den Bedarf für klimafreundliches Verhalten sehen, aber wenig eigene Handlungsmöglichkeiten erkennen. Aufgabe der Politik sei es, diese Gestaltungsmöglichkeiten aufzuzeigen und ernst zu nehmen, dazu gehöre die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen in politischen Prozessen. Für junge Menschen seien auch Bewegungen wie Fridays for Future entscheidend.

Der neue Themenschwerpunkt berühre viele Themen, so Ulrike Bahr. Sie sei gespannt, wie diese Fragen von Bildung, Mobilität, Ressourcenverbrauch und vielem mehr im Bundesforum Familie in den nächsten Jahren bearbeitet würden.

Input: Warum und wo der Klimawandel Familien besonders betrifft

An die familienpolitische Eröffnung schloss Mona Treude, Senior Researcherin am Wuppertal-Institut für Klima, Umwelt, Energie, mit einem Beitrag aus der Perspektive der Klimawissenschaften an. Sie verwies auf die Dringlichkeit klimapolitischen Handelns. Würden die sogenannten Kipppunkte erreicht, könne der Klimawandel nicht mehr gestoppt werden. Betroffen von den heutigen Entscheidungen seien vor allem Kinder und zukünftige Generationen. Obwohl die junge Generation am wenigsten für den heutigen Klimawandel verantwortlich sei, werde sie die Generation sein, die zukünftig am meisten darunter leide. Klimapolitik sei daher nicht nur eine Frage der globalen, sondern auch der intra- und intergenerationellen Gerechtigkeit. Die ökologische Krise sei, so Mona Treude, im Kern eine soziale Frage.

Zur Gerechtigkeitsfrage gehöre, dass die heutigen Generationen in allen Teilen der Welt unterschiedlich stark von den Auswirkungen betroffen seien. Erderwärmung, aber auch Artensterben verändere den Lebensalltag von Familien jetzt und perspektivisch unterschiedlich stark. Soziale Disparitäten seien derzeit so groß wie nie zuvor. Es sei belegt, dass mit höherem Einkommen der Einfluss auf den Klimawandel steige, jedoch auch die Möglichkeiten, sich vor den Auswirkungen zu schützen. Diese Schutzmöglichkeiten hätten einkommensschwächere Haushalte oft nicht. Innerhalb der Familien lebten zudem besonders vulnerable Bevölkerungsgruppen wie pflegebedürftige Menschen, was Familien doppelt stark betroffen mache. Andererseits seien auch Familien selbst die Treiber der Klimakrise.

Problematisch sei, dass klimapolitische Maßnahmen gegenwärtig zu viele Auswirkungen auf einkommensschwächere Haushalte haben. Politik müsse die Rahmenbedingungen schaffen, damit einerseits die Belastungen auf stärkere Schultern verteilt werden, andererseits müsse es Familien erleichtert werden, sich klimafreundlich zu verhalten. Ansätze hierfür wären die Sicherung einer gerechteren Wohnraum- und Bodenverteilung, soziale Garantien wie das Grundeinkommen und nachhaltige Konzepte wie das der autofreien Stadt. Die Bausteine für Klimagerechtigkeit des konzeptwerks neue ökonomie böten eine gute Orientierung, welche acht Maßnahmen für eine solidarische Zukunft maßgeblich seien. Als konkretes positives Umsetzungs-Beispiel nannte Mona Treude die nachhaltige Stadtentwicklung der Stadt Wien.

In der gegenwärtigen Krisensituation befinde sich die Menschheit zwischen Allmacht und Ohnmacht. Der Klimawandel sei menschengemacht und könne ebenfalls durch menschliches Handeln abgeschwächt werden. Dafür sei ein Umdenken alternativlos – wie kann das gelingen?

Mona Treude betonte die Notwendigkeit, den Blick auf „Change Agents“ zu lenken. Wer sind die, die Veränderung anstoßen? Ängste führten dazu, dass Menschen ihr Selbstwirksamkeitsgefühl verlören, was die eigene Handlungsfähigkeit blockiere. Bewegungen wie Fridays for Future zeigten dagegen, dass auch Kinder, Jugendliche und Familien großartige Akteure sein könnten. Denn man wisse viel über das Problem der Klimakrise, man kenne gute Lösungen, es fehle an der Umsetzung bzw. der Einforderung der Umsetzung. Hier fehle eine klare politische Kommunikation und vor allem nachhaltige Bildung.

Mona Treude betonte die Vorbildfunktion von und in Familien und zeigte mehrere Ansätze auf, wie in Familien klimarelevantes Handeln thematisiert werden könnte: so zeige die Berechnung des CO2-Fußabdrucks, dass Klimaschutz in der Verantwortung jeder und jedes Einzelnen stehe. Die Betrachtung des eigenen ökologischen Handabdrucks zeige die Wirksamkeit des eigenen Handelns. Mit gemeinsamen Herausforderungen wie der „Klimafit-Challenge“, zu der man sich auch als Familie anmelden könne, werde klimafreundliches Handeln lern- und erfahrbar. Es gehe insgesamt darum, eigene Handlungsspielräume zu erkennen, zu nutzen und an das Umfeld zu kommunizieren. Dabei sei es sinnvoll, alle Lebensbereiche zu beachten und nicht nur Bereiche wie Mobilität und Nahrung, sondern auch Geldanlagen auf eine nachhaltige Ausrichtung zu überprüfen. Dies alles gelte nicht nur für Familien, sondern auch für Familienorganisationen, die hier ebenfalls mit gutem Beispiel vorangehen könnten.

Nicht zuletzt gehöre zu einer sozial-ökologischen Transformation ein Umlernen zu einem anderen Verständnis von Wohlstand. Es müsse gesellschaftlich neu ausgehandelt werden, was gutes Leben bedeute: zum Beispiel Zeit zu haben und diese in intakter Natur verbringen zu können, mit sauberer Luft und gesunden Lebensmitteln. Die wissenschaftliche Kommunikation thematisiere im bisherigen Diskurs zu sehr den Verzicht. Auf diese Verzichtsdebatte solle verzichtet und stattdessen betont werden, dass durch einen Lebenswandel, der die planetaren Grenzen nicht überschreite, mehr Lebensqualität gewonnen werden könne. Es gehe nicht allein um Suffizienz („weniger“), sondern um mehr Effizienz („besser“) und Konsistenz („anders“). Diese Sichtweise sei besonders bedeutend für Kinder und Jugendliche.

Diskussion

In der anschließenden Diskussionsrunde wurden im Vortrag angesprochene Aspekte aufgegriffen. Mehrfach wurde der Eindruck geteilt, dass bei der Größe des Themas im Diskurs leicht der Überblick verloren gehe. Dies gelte sowohl dafür, was es bereits an Bausteinen, Zielvorgaben oder Aktionsplänen auf den unterschiedlichen Ebenen (UN/EU/National) gebe, als auch dafür, was eigentlich das Ziel der Handlungen sei – Klimaschutz oder Klimagerechtigkeit, Naturschutz oder Menschenrechte. Ebenfalls wurde diskutiert, inwiefern, Arbeitszeitverkürzung klimagerecht sei. Mit mehr verfügbarer Zeit werde ermöglicht, so Mona Treude, den eigenen Lebensstil nachhaltiger auszurichten. Dies sei jedoch kein Selbstläufer, es brauche dafür die richtigen Rahmenbedingungen. Die Runde diskutierte die Rolle von Familien in der sozialökologischen Transformation und die Verantwortung, gerade Kindern und Jugendlichen nicht nur die Bedrohung durch die Klimakrise, sondern auch die Handlungsmöglichkeiten in der Klimakrise aufzuzeigen. Die Generationen müssten hier gemeinsame Lösungen finden. Familien seien dafür relevante „Change-Agents“, da sie nicht nur als wichtige Orte des Generationendialogs, sondern auch schlicht durch die große Anzahl ins Gewicht fallen. Wie können Bedingungen geschaffen werden, damit Familien eine ökologische Lebensweise möglich ist? Welche Projekte, welche Angebote sind sinnvoll? Hier diskutierten die Teilnehmer*innen die Rolle der Kommunen und regten an, dies im Verlauf der Themenperiode zu intensivieren.

Familienorganisationen und Klima

Im zweiten Teil stellte Elena Gußmann die Ergebnisse der Mitgliederbefragung vor, mit der im Vorfeld der Veranstaltung Interessen und existierende Ansätze der Organisationen im Themenfeld „Klima“ erhoben worden waren.

Die mehr als 30 Antworten zeigten, dass sich viele Mitgliedsorganisationen des Bundesforums Familie bereits eingehend und auf unterschiedlichen Ebenen mit der Thematik beschäftigen. Von konkreten Maßnahmen im Arbeitsalltag, wie der Umstellung auf regionale und/oder vegane Verpflegung oder Nutzung des ÖPNV bei Dienstreisen bis zu inhaltlicher Bearbeitung des Themas in Stellungnahmen, Veranstaltungen oder Materialien wurde eine große Bandbreite sichtbar. Um einen Einblick zu erhalten, wurden zwei Mitgliedsverbände eingeladen, ihre Maßnahmen und Projekte vorzustellen.

DEUTSCHER CARITASVERBAND

Liliane Muth vom Deutschen Caritasverband startete mit der Anmerkung, dass derzeit alle großen Wohlfahrtsverbände aktiv dabei seien, Maßnahmen für den Klimaschutz zu entwickeln. Der Deutsche Caritasverband habe es sich zur Aufgabe gemacht, mit seinen rund 25.000 Einrichtungen und Diensten bis 2030 klimaneutral zu werden. Dabeiwürden unterschiedlichen Bedingungen, Personalmangel und Finanzierungsgrundlagen der Caritas-Einrichtungen den Weg häufig erschweren. Klimaschutz sei leider trotz der ambitionierten Selbstverpflichtung im konkreten Fall oft noch eine „C-Priorität“. Es gelte daher, im Einzelfall zu schauen, welche Möglichkeiten für jeweilige Einrichtungen machbar seien, etwa in den Bereichen Gebäude und Mobilität oder in der Beschaffung von Lebensmitteln, Textilien, Hygieneartikeln und Elektrogeräten. Eine erste interne Klimabilanz habe gezeigt, was bereits erreicht wurde und wo weitere Einsparungsmöglichkeiten lägen. Von dieser Bestandsaufnahme ausgehend, könnten Veränderungen strukturiert angegangen werden. Der Bundesverband der Caritas stelle dafür seinen Mitgliedern Tools zu Verfügung. Oft liege es jedoch an einzelnen „begeisterten Kümmerern“, ob diese auch genutzt würden.

Liliane Muth betonte, dass der Kern der pädagogischen Arbeit der Caritas die Stärkung von Kindern und Jugendlichen für die Zukunft sei. Dies müsse im Sinne der Notwendigkeit der Generationengerechtigkeit umgesetzt werden. Ein Bezugspunkt für diese Ausrichtung sei der General Comment 26, der zum Schutz der Kinderrechte umgesetzt werden müsse. Die UN-Kinderrechtskonvention erfordere deutlich mehr Umsetzung von Klimaschutz, als derzeit realisiert werde. Entscheidend für die Umsetzung einer sozioökonomischen Wende sei nicht die Selbstverpflichtung weniger, sondern politisches Handeln maßgeblich, insbesondere die Einführung des Klimagelds und die Stärkung einer solidarischen Politik. Dazu gehöre beispielsweise, energetische Sanierungen auch von günstigen Mietwohnungen umsetzbar zu machen, ohne dass Mieter*innen einen Nachteil haben. Der ÖPNV sollte zudem kostenlos sein und besonders im ländlichen Raum mehr ausgebaut werden.

Liliane Muth stellte als konkretes Projekt der Caritas den „Stromsparcheck“ vor. Das Verbundprojekt von Caritas und Bundesverband der Energie- und Klimaschutzagenturen Deutschland werde vom Bundesumweltministerium gefördert und sei in mehr als 150 Städten und Landkreisen aktiv. Das Programm richte sich an Menschen mit wenig Geld, die Bürgergeld, Sozialhilfe, Grundsicherung oder Wohngeld, eine geringe Rente, Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz oder Kinderzuschlag beziehen oder deren Einkommen unter dem Pfändungsfreibetrag liegt. Mit dem Projekt werde gleichzeitig der Klimaschutz und die Energiearmut thematisiert, indem für konkrete Haushalte Energieeinsparpotentiale aufgezeigt werden. Auch eine Bezuschussung beim Neukauf klimafreundlicher Geräte sei möglich. Die Erfahrung des Projekts zeige, dass in Haushalten Energie-Einsparungen von bis zu 15 % möglich seien.

BUNDESVERBAND DER MÜTTERZENTREN

Sarah Schöche, Nachhaltigkeitsbeauftragte des Bundesverbands der Mütterzentren, betonte, dass Nachhaltigkeit seit der Gründung vor 40 Jahren als leitendes Prinzip der Mütterzentren gelte. Mitnahmeregale oder Repair-Cafés seien Beispiele für diese gelebte Praxis. Das Projekt „Fairändern“ der Nachhaltigkeitsgruppe in Langen, das 2023 einen Nachbarschaftspreis erhielt, zeige etwa auf, wie durch verändertes Konsumverhalten im Familienalltag ein plastikfreies Leben möglich werde. In der, in den Mütterzentren umgesetzten Umwelterziehung für Kinder werde Wert daraufgelegt, positive Beispiele und Einsichten zu geben, statt allein von Verzicht zu sprechen. Sarah Schöche benannte dazu einzelne Projekte wie eine Ferienspielwoche, die Auszeichnung zur Umweltheld*innen oder gemeinsames Basteln mit Upcyling-Materialien. Die Grundidee der Bildungsangebote sei „Was ich kenne und liebe schütze ich“ – und so gelte es, mit Kindern und Jugendlichen etwa Insektenhotels zu bauen und Pflanztage zu veranstalten und erfahrbar zu machen, dass Naturschutz selbst in die Hand genommen werden kann. Wissensvermittlung zur klimafreundlichen Ernährung werde anwendungsorientiert, zum Beispiel durch Kochkurse mit Gemüse aus dem eigenen Garten, vermittelt. Sarah Schöche nannte weitere Projekte wie Lebensmittelrettung und ein nachhaltiges Weihnachtsfest als Beispiele für die Vermittlung von Nachhaltigkeit für Familien. Bundesweit sorge die Vernetzung der Mütterzentren für einen Austausch, so dass diese Ideen weitergegeben werden und kooperiert werden könne.

DISKUSSION

Klimawandel, so stellte die Diskussionsrunde fest, sei eine komplexe Herausforderung, verbinde die globale Dimension mit kleinen Alltagshandlungen, individuelle, kollektive und institutionelle Dynamiken. Gerade wegen dieser Vernetzung der Probleme müssten auch die Lösungsansätze vernetzt gedacht werden. Daher sei es wichtig, Klima- und Sozialpolitik zusammenzudenken, wobei Familienpolitik durch die Thematisierung und Adressierung von unterschiedlichen Generationen eine besonders relevante Rolle zukomme. Zusammenarbeit zwischen familienpolitischen und umweltpolitischen Organisationen sei hier sehr sinnvoll, wie auch durch die vorgestellten Beispiele verdeutlicht werden konnte. Gerade in der Jugendhilfe oder an Schulen könne das gut gelingen. Die weltweit angelegte Kampagne „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ biete hier wertvolle Ansatzpunkte. Bemerkt wurde, dass durch die Größe des Themas oft der Überblick fehle: Es gebe bereits viele rechtliche Konstrukte, Aktionsprogramme und Zielsetzungen auf UN-, EU- und nationaler Ebene. Jedoch sei in der familienpolitischen Arbeit sowie in Fragen der Umsetzung nicht immer offensichtlich, mit welchen dieser unterschiedlich verbindlichen Grundlagen sich gut für die Belange von Familien argumentieren lasse.

Kritisch gesehen wurde, dass es vielen Organisationen an verlässlicher und ausreichender Finanzierung fehle, die es erschwerten, in der eigenen Arbeit mehr Klimaschutz umzusetzen. Zwar könne weniger finanzielle Ausstattung auch unfreiwillig zu klimafreundlicherem Handeln führen – wenn etwa aus Kostengründen keine Flugreisen mehr getätigt werden. Gerade Investitionen in Klimaschutzmaßnahmen, etwa bei energetischen Sanierung, seien jedoch zu oft nicht umsetzbar. Im Zusammenhang mit dem Thema „Klimawandel und psychische Gesundheit“ wurde angemerkt, dass Klimaängste nicht nur ein Problem von Familien seien, sondern auch Fachkräfte betreffen würden. Hierfür brauche es mehr Sensibilisierung und vor allem Hilfestellung.

Aussicht auf 2024/25

Elena Gußmann stellte das weitere Vorgehen des Bundesforums Familie in der Themenperiode 2024/25 vor. Die Geschäftsstelle habe aus den Diskussionen des Netzwerktreffens am 17. Oktober 2023, den Rückmeldungen der Mitgliederbefragung Anfang 2024 und dem Austausch mit dem Beirat mehrere Vorschläge erarbeitet, über die nun abgestimmt werden könne. Die Auswahl bilde einen Großteil der genannten Interessen und Fragestellungen ab – von „Klimageld“ über „ökologische Kinderrechte“ bis zu „Generativität“.

Da nicht alles bearbeitet werden könne, solle nun gewichtet werden, zu welchen Aspekten die Geschäftsstelle Veranstaltungen organisieren soll. Ad-Hoc-AGs solle es in dieser Themenperiode nicht geben, dennoch solle die Expertise der Mitgliedsorganisationen aktiv in die Veranstaltungsplanung einfließen und eine Beteiligung bei der inhaltlichen Gestaltung und Nachbereitung der Ergebnisse möglich gemacht werden. Zuletzt wurde das Netzwerktreffen am 16. Oktober 2024 angekündigt, das als Präsenzveranstaltung in Berlin stattfinden wird.

 

 

 

Publikation “Unterstützungsstrukturen für Familien” vom Bundesforum Familie an die Vorsitzende des Familienausschusses übergeben

Am 15. Januar übergaben Elena Gußmann, die Projektkoordinatorin des Bundesforums Familie und Sven Iversen, Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft der deutschen Familienorganisationen die Abschlusspublikation der Ende 2023 abgeschlossenen Themenperiode an die Vorsitzende des Familienausschusses im Bundestag, Ulrike Bahr.

Übergabe der aktuellen BFF-Publikation an Ulrike Bahr

Bild: Dr. Ruth Vornefeld / Büro Ulrike Bahr

In den Jahren 2022/2023 arbeiteten die Mitglieder intensiv zum inhaltlichen Schwerpunkt „Unterstützungsstrukturen für Familien: Wie sind Angebotsstrukturen der Familienunterstützung in Deutschland konzipiert, organisiert und umgesetzt?“. Die nun übergebene Publikation „Unterstützungsstrukturen für Familien – Zielsetzungen, Zugänge, Angebote“ fasst den Prozess, der aus Fachveranstaltungen und Arbeitsgruppentreffen bestand, zusammen.

Bei der Übergabe unterstützen alle Beteiligten die im Bericht betonte Bedeutung des politischen Willens, präventive Maßnahmen umzusetzen. Dies stets zu betonen sei auch deshalb wichtig, weil deren Effekte oft schwer quantifizierbar seien und sich erst Jahre später zeigen. Im Bericht heißt es dazu: „There is no glory in prevention“. Gleichzeitig wird dort der zwingend notwendige gesamtgesellschaftliche, von den (monetären) Interessen von Einzelressorts befreite Blick hervorgehoben.

In einem zweiten Teil des Gesprächs wurde die neue Themenperiode des Bundesforum Familie in den Jahren 2024 und 2025 thematisiert: Familie und Klima. Hier begrüßten die Beteiligten die Themenwahl der Mitglieder des Bundesforums Familie und betonten die hohe Bedeutung für Familien. Insbesondere wird die nächsten Generationen wird dies existenziell beschäftigen, aber auch Älteren macht die klimatische Veränderung zu schaffen. Angesprochenw urde auch, dass zum Beispiel monetär benachteiligte Familien sowohl von den Auswirkungen des Klimawandels, als auch von den politischen Maßnahmen zu deren Abschwächung verhältnismäßig stärker getroffen als wohlhabende Familien, obwohl sie verhältnismäßig wenig zu deren Ursachen beitragen. Betont wurde auch, dass bei der Behandlung des Themas die Klimafolgenanpassung und der Klimaschutz sowohl auf der individuellen als auch auf der gesellschaftlich / politischen Ebene angesprochen werden müssen und auch die Rolle der Organisationen und Akteure selbst thematisiert werden sollten.

Die Ausschussvorsitzende wird im Anschluss an das Gespräch die Publikation des Bundesforums Familie an die einzelnen Mitglieder des Familienausschusses übergeben.

Diese kann hier auch als PDF abgerufen werden. Für Druckexemplare wenden Sie sich gerne an die Geschäftsstelle des Bundesforums Familie: info@bundesforum-familie.de.

Neue Publikation des Bundesforums Familie: „Unterstützungsstrukturen für Familien – Zielsetzungen, Zugänge, Angebote“

Mit einem Klick öffnet sich im Browser die Publikation als PDF. eine barrierearme Version ist derzeit noch in Arbeit. Bitte wenden Sie sich bei Interesse an info@bundesforum-familie.deIn den Jahren 2022/2023 arbeiteten die Mitglieder zum inhaltlichen Schwerpunkt „Unterstützungsstrukturen für Familien: Wie sind Angebotsstrukturen der Familienunterstützung in Deutschland konzipiert, organisiert und umgesetzt?“ Die nun vorliegende Publikation fasst den Prozess, der aus Fachveranstaltungen und Arbeitsgruppentreffen bestand, zusammen.

In der Publikation wird unter anderem betont, wie wichtig der politische Wille ist, präventive Maßnahmen umzusetzen, auch wenn deren Effekte schwer quantifizierbar sind und sich erst Jahre später zeigen – „There is no glory in prevention“. Hierfür ist zwingend der gesamtgesellschaftliche, von den (monetären) Interessen von Einzelressorts befreite Blick zentral. Stattdessen müssten sowohl die individuellen Effekte für die Familien als auch die gesamtgesellschaftlichen Effekte in das Zentrum rücken. Dies gelte umso mehr angesichts der zahlreichen Krisen, denen sich die Familien und die Gesellschaft aktuell ausgesetzt sehen. Nur dann könne es  gelingen, die große Stärke der Heterogenität sowohl in der Arbeit mit Familien, als auch in der Arbeit mit familienunterstützenden Strukturen als eine zentrale Stärke zu nutzen. Denn diese Potentiale zu heben, brauche viel Aufmerksamkeit und Zuwendung, die derzeit noch nicht ausreichend möglich sind.

Mit diesen Plädoyers bildeten die Diskussionen einen wichtigen thematischen Kontrapunkt in der familienpolitischen Debattenlandschaft.

In der Publikation werden mehrere Themen vertieft:

  • Rechtliche und finanzielle Rahmenbedingungen für gelingende Familienunterstützung: Monetäre und infrastrukturelle Unterstützung von Familien dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Nur durch die kombinierte Verschränkung von finanziellen und strukturellen Maßnahmen – ergänzt um Investitionen in Infrastruktur – ist eine langfristige Verbesserung der Situation für Familien möglich.
  • Strukturelle Herausforderungen und Chancen im Bereich der Familienbildung: Die (überwiegend weiblich geprägte) Personalstruktur der Familienbildung baut auf Ehrenamt, Honorarverträge und Teilzeitarbeit auf und ist damit zugleich eine Struktur, die zunehmend unter Druck gerät. Hier muss mit gesellschaftlicher und finanzieller Anerkennung, guten Ausbildungsbedingungen und der Sichtbarkeit des Arbeitsfeldes auf dem Bildungsmarkt gegengesteuert werden. Das Umsetzungsdefizit in Bezug auf rechtlich klar geregelte Zuständigkeiten bei der Organisation und Koordination von Angebotsstrukturen muss strategisch angegangen werden.
  • Ansprache und Werthaltungen in der Familienunterstützung: Gelingende Unterstützungssettings verlangen die Reflexion der eigenen Position. Die Rolle der Sprache ist dabei kaum zu überschätzen. Die Publikation benennt strukturelle Rahmenbedingungen, die für respektvolle und hilfreiche Unterstützungsarbeit essentiell sind.

Diese kann als PDF hier abgerufen werden. Für Druckexemplare wenden Sie sich gerne an die Geschäftsstelle des Bundesforums Familie: info@bundesforum-familie.de

Netzwerktreffen: Abschluss der Themenperiode „Unterstützungsstrukturen für Familien“ und Wahl des Schwerpunktthemas 2024/25 am 17. Oktober 2023

Rund 40 Teilnehmende aus den Mitgliedsorganisationen des Bundesforums Familie kamen am 17. Oktober 2023 im Centre Monbijou in Berlin Mitte zusammen. Inhalt des Netzwerktreffens war die abschließende Reflexion der Themenperiode 2022/23 sowie die Wahl des neuen Schwerpunktthemas für 2024/25.

Elena Gußmann (Bundesforums Familie) eröffnete die Veranstaltung mit einem Rückblick auf die vergangene Themenperiode. Politisch bewegte und beschleunigte Zeiten würden es vielen „leiseren“, aber nicht weniger wichtigen Themen schwermachen, ausreichend in Politik und Gesellschaft wahrgenommen zu werden. In der Arbeit von Unterstützungsstrukturen für Familien seien es aber gerade diese weniger schnellen und weniger lauten Aspekte wie Partizipation, Verbindlichkeit und Nachhaltigkeit, die den Unterschied machten. Für diese Hartnäckigkeit und Geduld erfordernden Themen brauche es mehr Aufmerksamkeit, aber auch Wissen.

Die inhaltliche Bearbeitung im Rahmen der Themenperiode sei durch die enorme Bandbreite und Heterogenität der Familienunterstützung anspruchsvoll gewesen. Im Laufe der zwei Jahre seien die Mitglieder des Bundesforums Familie mit drei Fachforen und zwei zusätzlichen Workshops zum Thema „Empowerment“ und „Sprachsensibilität“ dennoch zu einem guten fachlichen Austausch gelangt. Ein Anliegen des abschließenden Netzwerktreffens sei es, den zurückliegenden Diskussionsprozess mit zwei netzwerk-externen Sichtweisen zu betrachten, weshalb je ein*e Vertreter*in aus der Volkswirtschaft und der politischen Praxis eingeladen wurde. Die im Laufe der Themenperiode erarbeiteten zentralen Thesen könnten durch diese Blickwinkel nochmals überprüft und gegebenenfalls ergänzt werden, um die formulierte politische Argumentation zu stärken.

Teilnehmende diskutierenDie Geschäftsstelle des Bundesforums bedankte sich bei den beteiligten Vertreter*innen der Ad-Hoc-AGs für die engagierte Vor- und Nachbereitung der Veranstaltungen. Die gesammelten Ergebnisse des gemeinsamen Prozesses werden bis voraussichtlich Anfang des Jahres 2024 in Form einer Publikation veröffentlicht und an alle Mitgliedsorganisationen verschickt.

Impuls: Volkswirtschaftliche Perspektive auf die präventiven Effekte der Familienunterstützung

Die volkswirtschaftliche Perspektive auf die präventiven Effekte der Familienunterstützung stellte Dr. Wido Geis-Thöne vom Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) dar. Er betonte, dass Beratung, Begleitung und spezifische Hilfen für Familien in Konfliktsituationen darauf zielten, das Wohlergehen, die Gesundheit und die Leistungsfähigkeit von Eltern zu erhalten und eine gute Entwicklung von Kindern zu ermöglichen. Dieser präventive Ansatz hätte nicht nur für die Familien individuell positive Folgen, sondern führe auch volkswirtschaftlich langfristig zu Einsparungen im Gesundheits-, Bildungs- und Sozial- und Arbeitsmarktsystem führe. Beispielsweise würden Kinder, die psychisch und physisch gesund seien, im Bildungssystem zurechtkommen, ein stabiles soziales Netzwerk aufbauen, sich später besser am Arbeitsmarkt positionieren und Arbeits- und Innovationskraft aufbringen. Gelinge langfristige positive Entwicklung der Kinder, würden auch deren Kinder und Enkelkinder davon profitieren.

Problematisch für die politische Entscheidungsfindung seien jedoch vor allem zwei Faktoren: Zum einen seien diese ökonomischen Effekte nur schwer mit konkreten Zahlen unterlegbar. Ein Grund dafür sei, dass sich familienpolitische Maßnahmen auf Eltern und deren Beziehungen innerhalb und außerhalb der Familie auswirkten. Gerade weil Familien als integrales Element der Gesellschaft so vernetzt seien, habe die Forschung hier Schwierigkeiten. Zudem seien Unterstützungsleistungen oft an Schnittstellen von Familien- und anderen Politiken und könne daher nicht eindeutig zugeordnet werden. Ebenso sei nicht messbar, wie die  Entwicklung eines Kindes / einer Person ohne die Inanspruchnahme einer familiären Unterstützungsleistung erfolgt wäre. Trotz dieser starken Einschränkungen könnten dennoch einzelne fiskalischer Effekte familienpolitischer Leistungen ermittelt werden.

Zur Präsentation von Dr. Wido Geis-Thoene bitte auf das Bild klicken, PDF öffnet sich im Browser

Als zweiten wichtigen Punkt für die zu geringe Bereitschaft für entsprechende Investition in präventive Unterstützungsstrukturen hob Geis-Thöne hervor, dass es in der Tagespolitik eine dominierende Gegenwartspräferenz und die auf die Ausgaben im jeweiligen Haushalt verengte Perspektive gebe: Ausgaben für präventive familienunterstützende Maßnahmen würden zum einen in der Gegenwart anfallen und zum anderen überwiegend von den Kommunen getragen. Von zukünftigen Mehreinnahmen bzw. reduzierten Ausgaben würden jedoch oft die Sozialversicherungen und der Bundeshaushalt profitieren. Die Mittel stünden damit den Kommunen selbst nicht wieder zur Verfügung. Mit dem Wissen um diese Effekte müsse man sich um passende Ausgleichsmechanismen bemühen.

Geis-Thöne betonte zusammenfassend, dass die positiven Effekte von präventiver Familienunterstützung zwar vorhanden, jedoch nicht ausreichend quantifizierbar seien. Insofern seien qualitative Argumentationen und die Beforschung ganz konkreter Maßnahmen umso relevanter.

Impuls: Implementierung präventiver familienunterstützender Maßnahmen aus der Perspektive der politischen Praxis – das Beispiel Berlin

 Marianne Burkert-Eulitz, Sprecherin für Familie und Bildung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus, stellte den Prozess zur Entwicklung des Berliner Familienfördergesetzes vor, das zahlreiche präventive Maßnahmen beinhalte. Zu beachten sei jedoch, dass Berlin durch seine Funktion als Stadtstaat Vorteile gegenüber Flächenländern habe. Zudem habe Berlin eine hohe Zuzugsquote, wodurch Berlin von der präventiven Unterstützungsarbeit profitiere, die woanders geleistet wurde.

Burkert-Eulitz beschrieb, dass Anfang der 2000er Jahre weder die Familien noch der familiäre Sozialraum in die Jugendhilfe einbezogen worden seien und die Rechtsansprüche auf Jugendhilfe oft schwer umsetzbar waren. Im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg sei damals eine bezirksweite Arbeitsgemeinschaft gegründet als auch Qualitätszirkel zwischen Jugendamt und einzelnen Einrichtungen initiiert worden. Insgesamt seien ca. vier Mio. Euro in den Bereich der Familienunterstützung investiert worden.

Die Herausforderung sei gewesen, diese erfolgreichen Ansätze auf die Landesebene zu übertragen – auch, weil die Bedarfs- und Haushaltslage der Bezirke sehr heterogen sei. Dennoch sei ein Familienfördergesetz partizipativ erarbeitet worden, das unter anderem Anreize für Bezirke vorsieht, die sich selbstständig um die Umsetzung zu bemühen. So würden beispielweise in Kreuzberg Familienservicebüros bei Hort- und Kita-Anträgen unterstützen, in Mitte würde zu Fragen zur Familienkasse beraten. In das Gesetz einbezogen seien auch weitere Bereiche wie Elternbegleitung und Stadtteilmütter. Einige Familienzentren seien an Grundschulen angesiedelt. Um den unterschiedlichen Ausgestaltungen gerecht zu werden, sei 2020 ein „Flexibudget“ eingeführt worden, mit dem bedarfsorientierte Schwerpunktsetzungen auf Bezirksebene finanziert werden können.

Burkert-Eulitz hob hervor, dass das Familienfördergesetz in der öffentlichen Wahrnehmung wenig präsent gewesen sei, so. Dennoch – oder vielleicht gerade deshalb – werde es fraktionsübergreifend mitgetragen. Auch aktuell sei es Ziel, Regelungen, die zugleich verbindlich und flexibel seien, im Gesetz zu verankern. So soll unabhängig von den jeweiligen haushaltspolitischen Bedingungen dauerhaft die Stärkung von Familien finanziert werden.

Diskussion

 In den Diskussionen wurde betont, welche sozialen und finanziellen Argumente hilfreich sein könnten, eine frühzeitige Familienunterstützung zu etablieren. Ein Beispiel seien die hohen Kosten, die bei einer Inobhutnahme bei Kindeswohlgefährdung entstehen würden. Hervorgehoben wurde, dass je jünger die Familien seien und je früher diese kontaktiert würden, desto offener seien sie in der Annahme von unterstützenden Angeboten. Infrage gestellt wurde, ob eine kommunale Aufsichtsbehörde, die eine Umsetzung des gesetzlichen Auftrags sicherstellt, sinnvoll sein könnte. Eingeworfen wurde, dass unklar sei, wer die Rechtsansprüche einklage. Fraglich sei auch, wie mit der Einklagbarkeit umgegangen werden sollte, wenn entsprechende finanzielle Mittel fehlten. Andererseits würden Mittel die beim Bund bereitstünden, durch die Länder und Kommunen häufig nicht abgerufen. Das Beispiel Berlin sei positiv, durch die besonderen Voraussetzungen jedoch nicht einfach 1 zu 1 auf Flächenländer übertragbar. Als zentral wurde gesehen, wie sich die geteilte Verantwortung zwischen Bund, Ländern und Kommunen auch in den Strukturen sinnvoller abbilden ließe. Betont wurde dabei, dass der Bund hier noch mehr als Partner für Länder und Träger auftreten solle.

Wahl des Schwerpunktthemas für 2024/25

Im zweiten Teil des Netzwerktreffens stand die Wahl des neuen thematischen Schwerpunktes im Mittelpunkt. Elena Gußmann stellte den Auswahlprozess vor: Im Vorfeld wurden mehr als 40 Themenvorschläge von den Mitgliedsorganisationen eingereicht. Diese wurden durch den Beirat des Netzwerktreffens gesichtet und geclustert. Dabei wurden Querschnittsfelder identifiziert, die unabhängig von der Wahl bei jeder Thematik berücksichtigt werden sollten: 1) Armut, Ungleichheit und soziale Disparitäten, 2) Gesundheitliche Auswirkungen von Problemlagen, 3) Diversität von Familien und Intersektionalität, 4) Das Einnehmen einer selbstreflexiven Perspektive, 5) Bezug auf die europäische Ebene. Folgende vier Themenvorschläge wurden von Themenpatinnen aus den Mitgliedsorganisationen vorgestellt:

  1. Familien im Klimawandel
  2. Inklusion – Familiale Lebenszusammenhänge und ihre politische und gesellschaftliche Teilhabe
  3. Familien in der digitalen Welt
  4. Vereinbarkeit und Zeitpolitik: Sorgearbeit, Lohnarbeit, Ehrenamt

 

Nach einer Kleingruppenphase, in der alle Teilnehmenden jedes Thema kurz andiskutierten, wählten die Vertreter*innen den neuen Schwerpunkt: Familien im Klimawandel. Elena Gußmann verabschiedete sich von der Runde mit dem Ausblick, die zahlreichen Anregungen aus der Diskussion dazu zu nutzen, in Abstimmung mit dem Beirat einen spannenden Fahrplan für die neue Themenperiode zu entwerfen.

Fotos: Holger Agolph |  AGF

Neuer Schwerpunkt für Themenperiode 2024/2025 gewählt: „Familien und Klima“

Vertreter*innen aus den Mitgliedsorganisationen wählten im Rahmen des diesjährigen Netzwerktreffens des Bundesforums Familie am 17. Oktober 2023 das Thema  „Familien und Klima“ zum neuen inhaltlichen Schwerpunkt für 2024/2025.

Im Vorfeld des Netzwerktreffens hatten Mitgliedsorganisationen über 40 Themenvorschläge eingereicht.

Ein Veranstaltungsbericht sowie eine Einladung zum Kick-Off-Meeting, das Weichen für die inhaltliche Bearbeitung der Thematik durch das Bundesforum Familie stellen wird, finden Sie in Kürze ebenfalls auf dieser Website.

Fachforum am 16. Mai 2023: „Familienunterstützung finanzieren: Rahmenbedingungen, Umsetzungen, Ziele“

16.05.2023, Berlin | Das dritte und letzte Fachforum der Themenperiode „Unterstützungsstrukturen für Familien – Wege zu wirksamen Angeboten“ fand am 16. Mai 2023 im Festsaal der Berliner Stadtmission statt. Die über 40 Teilnehmer*innen aus den Mitgliedsorganisationen des Bundesforums diskutierten die rechtlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen von Familienunterstützung, deren Umsetzung und identifizierten gemeinsam notwendige Schritte in Richtung einer flächendeckenden, ausfinanzierten und nachhaltigen Angebotsstruktur für Familien.

Neben den finanziellen Mitteln standen auch Ressourcen wie Personal und strukturelle Fragestellungen im Zentrum der Veranstaltung. Den Auftakt machte Dr. Till Nikolka (Deutsches Jugendinstitut), der zu kommunalen Finanzen und Angebote der Kinder- und Jugendhilfe referierte. Anschließend gab Dr. Laura Castiglioni (Deutsches Jugendinstitut) Aufschluss über die Frage nach gesetzlichen Rahmenbedingungen und Umsetzungspflichten, die sich durch das SGB VIII ergeben. Auf diesen Input aufbauend, wurden konkrete Umsetzungsbeispiele aus Thüringen (Dr. Stefanie Hammer | Thüringer Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie) und NRW (Christina Wieda (Universität Speyer / Bertelsmann Stiftung) vorgestellt. Am Nachmittag eröffnete Christina Wieda die Diskussion über kommunales Handeln vor dem Hintergrund der Kooperationsgesetze im Sozialgesetzbuch. In einer World-Café-Diskussion entwickelten die Teilnehmer*innen konkrete Ideen, wie Familienunterstützung strukturell und finanziell besser in Recht und Gesellschaft verankert werden könnte.

Impulsvortrag: „Kommunale Finanzen und Angebote der Kinder- und Jugendhilfe“

Dr. Till Nikolka vom Deutschen Jugendinstitut präsentierte Forschungsergebnisse zu kommunalen Finanzen und Angeboten der Kinder und Jugendhilfe (KJH). In die Untersuchung einbezogen waren Daten von öffentlichen Ausgaben der Verwaltungshaushalte anhand der Einnahmen- und Ausgaben-Statistik der KJH, Ausgaben aller öffentlicher Träger der KJH sowie Regionalkennzahlen der amtlichen Statistik (2015—2020). Diese Daten wurden jeweils anhand der Gesamtvolumina pro Einwohnerzahl auf der Ebene der Landkreise und kreisfreien Städte berechnet. Dr. Till Nikolka gab zu bedenken, dass Ausgaben von freien Trägern und Eigenfinanzierungen nicht in diesen Statistiken erfasst seien. Als Forschungsergebnis habe sich ein deutlicher Anstieg von Ausgaben über die Jahre gezeigt. Dieser sei unter anderem durch die Aufnahme vieler unbegleiteter geflüchteter Jugendlicher zu erklären. Ein weiteres Ergebnis seien die sehr stark variierenden Höhen der Ausgaben pro Einwohner*in. Die Forschungsergebnisse ließen erkennen, so unterstrich Dr. Till Nikolka, dass insgesamt nicht zu wenig Geld im System der KJH für Familien vorhanden sei. Finanzielle Ressourcen für Angebote der KJH seien jedoch in den Regionen sehr unterschiedlich verteilt. Beforscht wurden daher die kausalen Verbindungen zwischen kommunalen Strukturen und der Ausgestaltung der Finanzierung. Schlussfolgernd sei erkennbar: die Konkurrenz um Mittel und Ressourcen steige, je höher die Kommunen belastet seien. Das SGB II und die Hilfen zur Erziehung stünden in Konkurrenz um eine konstante Mittelversorgung. Dies erkläre sowohl die große Variation der einzelnen kommunalen Ausgaben bei den Hilfen zur Erziehung als auch den Anstieg der Mittelausgaben über die Zeit sowie die Varianzen auf der Bundes- und Landesebene. Entscheidend sei daher gewesen, bei der Ergebnisbewertung strukturelle Unterschiede der Kommunen, Kreise und kreisfreien Städte zu berücksichtigen. Insbesondere bei den Hilfen zur Erziehung sei der strukturelle Aufbau innerhalb der Kreise und die wahrgenommene Zuständigkeit der Jugendämter entscheidend.

Dr. Till Nikolka (DJI)

Einschränkend gab Dr. Till Nikolka zu bedenken, dass aufgrund der Datenlage bisher nur eine rein deskriptive Darstellung jedoch keine umfassende Analyse der Zusammenhänge möglich sei. So sei zum Beispiel in den amtlichen Statistiken der KJH keine Differenzierung der Mittelherkunft möglich. Eine interregionale Vergleichbarkeit sei daher nicht gegeben. Auch seien die Produktkataloge der KJH der einzelnen Kommunen sehr unterschiedlich. Eine Datenerweiterung sei geplant, die zukünftig die Jahresrechnungsstatistiken der Kommunen sowie die Personalstatistik der nicht-stationären Einrichtungen der KJH berücksichtige. Zukünftig müsse die Datenqualität jedoch verbessert werden, um u.a. einzelne Themen der Sozialarbeit oder Finanzierungsvariationen, etwa die Kofinanzierung von Angeboten durch die Familien selbst, einzeln zu erfassen und auszuwerten.

Diskussion

Das Fachforum diskutierte die Ergebnisse von Dr. Till Nikolka insbesondere im Hinblick auf die Freiwilligkeit und die verpflichtenden Leistungen der Kommunen sowie auf die Herausforderungen föderaler Strukturen. Als problematisch wurde erkannt, dass laut den Ergebnissen primär die präventiven Maßnahmen von Kürzungen betroffen seien, bei invasiven Maßnahmen hingegen die Ausgaben stiegen. In diesem Zusammenhang wurde gefordert, dass es sei wünschenswert sei, empirisch zu belegen, dass höhere Ausgaben im präventiven Bereich Ausgaben im invasiven Bereich auf lange Sicht mindern.

Wahlmöglichkeit und Umsetzungspflicht

Die Freiwilligkeit und Verpflichtung der Länder und Kommunen zur Finanzierung und Ausgestaltung familiärer Unterstützungsstrukturen war Thema im Beitrag von Dr. Laura Castiglioni. Sie stellte den gesetzlich bindenden Rahmen des Bundes im § 16, SGB VIII vor, dessen rechtliche Stellung sowie die Rolle der Länder bei der Umsetzung. Dr. Laura Castiglioni stellte heraus, dass der allgemeinen Förderung der Erziehung in Familien eine präventive Funktion zugeordnet sei. Die im Gesetzestext formulierte Konkretisierung der Erziehungshilfen begründeten dafür eine Verbindlichkeit (Sollpflicht). Rechtlich festgehalten sei ebenso in § 16, Abs. 1, dass die näheren Ausführungen durch das Landesrecht geregelt seien. Durch diese Kombination entstehe die Schwierigkeit, dass kein individueller Rechtsanspruch bestehe, der das Recht für Familien einklagbar machen würde. Die Rechtslage zeige weiterhin Überschneidungen der Paragrafen § 16 und § 17 des SGB V III, so dass es zu einem fließenden Übergang zwischen präventiven und invasiven Angeboten komme. Entscheidend sei daher, wie die Länder diese rechtliche Lage handhaben.

Wie es aussehen kann, wenn die Länder diese Ausgestaltungsmöglichkeiten nutzen, zeigten anschließend zwei länderspezifische Umsetzungsbeispiele:

1. Thüringen: Familienförderungssicherungsgesetz

Dr. Stefanie Hammer, Referentin für Familien- und Seniorenpolitik im Thüringer Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie stellte das Thüringer Familienförderungssicherungsgesetz (ThürFamFöSiG) vor. Das erste ThürFamFöSiG (2006) sei nach einem Paradigmenwechsel 2018 neu aufgestellt und nach einer Modellphase seit 2019 in Kraft. Ziel des neuen Gesetzes sei eine bedarfsgerechte, Demografie feste und beteiligungsorientierte Familienförderung. Die Reform sei durch den Koalitionsvertrag 2014 angestoßen und unter Beteiligung aller Akteure entwickelt worden.

Dr. Stefanie Hammer (TMASGFF)

Der Paradigmenwechsel sei vom Land Thüringen als notwendig erachtet worden, um auf gesellschaftliche Veränderungen (z.B. neue Familienformen, demografischer Wandel) zu reagieren. Ein nun genutzter inklusiver Familienbegriff werde auch älteren Menschen gerecht, die jetzt explizit als Bestandteil der Familien verstanden würden. Um auch den heterogenen Lebensbedingungen in Thüringen (starke Stadt-Land-Unterschiede) gerecht zu werden, sei auf der Grundlage des Familienförderungssicherungsgesetzes eine regionale und überregionale Trennung der Familienförderung sowie eine regionale und überregionale Sozialplanung eingesetzt worden. Eine Bedarfsermittlung habe Aufschluss über unterschiedliche soziale Lagen gegeben. Durch den überregionalen Landesfamilienförderplan sowie einem überregionalen Landesfamilienrat wird die Finanzierung und Steuerung der Familienförderung auf überregionaler Ebene gewährleistet. Das Landesprogramm „Solidarisches Zusammenleben der Generationen“ ist für die Steuerung auf regionaler Ebene zuständig. Damit werden Projekte auf Mikro-, Meso- und Makroebene finanziert; auch die Finanzierung freiwilliger Leistungen ist möglich. Zuwendungsempfänger sind Landkreise und kreisfreie Städte, welche die Mittel an die Träger weitergeben. Damit hat das Land die Steuerung der Ausgaben teilweise an die Kommunen abgegeben.
Erfolgsfaktoren des neuen Familienfördergesetzes, so Dr. Stefanie Hammer, seien insbesondere der politische Wille, die gesetzliche Festlegung der Fördersumme von 10 Millionen Euro sowie die Vorerfahrung im Bereich der Sozialplanung auf kommunaler Ebene durch die ESF-Förderungen. Als regionale erfolgreiche Formate nannte Dr. Stefanie Hammer Dorfkümmerer, Familienlotsen, mobile Familienzentren oder das Netzwerk Pflege.

2. NRW: Landesinitiative „Kein Kind zurücklassen

Als zweites länderspezifisches Umsetzungsbeispiel stellte Christina Wieda von der Universität Speyer die Landesinitiative „Kein Kind zurücklassen“ aus NRW vor. Ziel sei, den Aufbau kommunaler, ämter- und rechtskreisübergreifender Präventionsketten zu fördern. In der Perspektive „vom Kind aus gedacht“ sollen so entlang des Lebenslaufes eines Kindes Präventionsketten ohne Brüche entstehen. Bis 2020 wurde die Landesinitiative durch die Bertelsmann Stiftung in der Modellphase forschend begleitet. Hinter der Idee der Modellinitiative, kommunale Angebote ineinandergreifen zu lassen, stehe der Gedanke, das Bundes- und Landesebene entlastet würden, wenn Prävention funktioniere.
Als Ergebnis des Projekts zeigte sich die Notwendigkeit eines „Ankerpunkts“ für die unterschiedlichen Lebensphasen. Regelinstitutionen (Schule, Kita, Jugendeinrichtungen) spielten daher für das Gelingen eine große Rolle. Elternbefragungen bestätigten außerdem die Bedeutung von Vertrauenspersonen. Problem sei nach wie vor die Versäulung der Institutionen auf EU-, Bundes- und Länderebene, die europäische Förderprogramme leider oft noch verstärkt würden. Im Ergebnis zeige sich, so Christina Wieda, dass gerade eine frühzeitig datenbasierte, bedarfsorientierte Planung Prävention begünstige.

Diskussion zum Thema Finanzierungsmodelle

In der anschließenden Diskussion wurde die „Pflichtleistung“ des § 16 im SGB VIII, insbesondere aber dessen mangelnde Umsetzung kritisch hinterfragt und diskutiert. In Folge der Novellierung des SGB VIII sei es die Aufgabe der Kreise und öffentlichen Träger, eine sozialräumliche Bestandsaufnahme zu machen und anhand der Themen, wie in SGB V III § 16 benannt, ihre Angebote zu gestalten. Wichtig sei außerdem, dass die Förderung von Familien selbstverständlich sein sollte und nicht an Defiziten festgemacht werden dürfe. In diesem Zusammenhang wurde der Begriff „Prävention“ kritisch diskutiert, da dieser ein defizitäres Menschenbild reproduziere.
Als Umsetzungs-Barriere wurde erkannt, dass es keine oder zu wenig Anreize für Entscheidungsträger*innen gebe, die Maßnahmen umzusetzen. Präventive Effekte seien zu wenig sichtbar, um damit zum Beispiel Wahlkampf machen zu können. Um hier mehr Sichtbarkeit und damit Handlungsspielräume zu entwickeln, sei Forschung wichtig. Es wurde angeregt, dass das Deutsche Jugendinstitut sich stärker diesem Bereich zuwenden könnte. Letztlich sei aber für einen Paradigmenwechsel der Familienförderung vor allem ein entsprechender politischer Wille notwendig.

Impulsvortrag: „Von der Familie aus denken: Kommunales Handeln vor dem Hintergrund der Kooperationsgesetze im Sozialgesetzbuch (SGB)“

Christina Wieda stellte ihre Forschung am Lehrstuhl für Sozialrecht und Verwaltungswissenschaften der Universität Speyer vor. Ausgangspunkt war die Aufgabenstellung laut Sozialgesetzbuch: Es solle dafür sorgen, dass jedem Kind die gleiche Voraussetzung für die freie Entfaltung der Persönlichkeit geschaffen werde und die dafür nötigen Angebote rechtzeitig und ausreichend zur Verfügung stehen. Der Aufbau kommunaler, ämter- und rechtskreisübergreifender Präventionsketten entlang des Lebenslaufes eines Kindes seien dafür sinnvoll.

Hinsichtlich der Sozialgesetzgebung seien dafür die Rahmenbedingungen (Auskunfts-, Beratungs-, Hinwirkungs- und Kooperationspflichten) vorhanden und Präventionsketten damit sozialrechtlich gut verankert.
Kommunen seien im Sinne der freien Selbstverwaltung somit in der Lage, Gesetze umzusetzen. Ein Realitätscheck auf Grundlage des Berichts zur Kinderarmut und dessen Auswirkungen auf Teilhabe, Bildung, Wohlbefinden und Gesundheit zeige aber: hier gebe es Handlungsbedarf. Umsetzungsprobleme lägen im Föderalismus und in der Ausgestaltung des Verwaltungsrechts. Auch wenn ein Gleichbehandlungsgrundsatz bestehe, könne dieser nicht immer überall gleich wahrgenommen werden oder sei den Betroffenen nicht bekannt. Beispielsweise würden die Leistungen der Bildung und Teilhabe weniger in Anspruch genommen, als diese den Familien eigentlich zustünden.

World-Café

Im anschließenden World-Café diskutierten die Teilnehmer*innen des Fachforums an vier Tischen konkrete Schritte und Handlungsempfehlungen. Diese bezogen sich jeweils auf die vier Ebenen: Bundesebene, Landesebene, kommunale Ebene und freie Akteurs-Ebene.

 

Abschlussdiskussion

„Was könnte direkt verändert werden?“, „Wer muss dafür aktiv werden?“ und „Was kann ich dafür tun?“ waren die einleitenden Fragen der Abschlussrunde, in der Elena Gußmann dazu einlud, die zuvor erarbeiteten Ideen zusammenzutragen. Als ein Ansatz wurde die Reformierung der föderalen Strukturen genannt, um zielgerichtet und ohne Reibungsverluste finanzieren zu können. Durch interkommunale Vernetzung, so ein weiterer Vorschlag, könnten sich Kommunen gegenseitig besser beraten und sich über gelingende Umsetzungspraktiken austauschen. Die Umverteilung von Finanzen sei jedoch ein zentraler Punkt, um strategisch anzusetzen: Konnexitätsprinzip und Kooperationsgebot wurden als wichtige Stichworte genannt, ebenso die Notwendigkeit eines Bundesrahmengesetzes und einer integrierten Sozialplanung. Inspiriert von den vorgestellten Familienfördergesetzen der Länder und deren positiven Effekten sowohl auf die strukturelle Fördersituation als auch auf die Sichtbarkeit von Familien auf politischer Ebene, wurde die Ausgestaltung eines Bundesfamilienfördergesetzes angedacht. Auf eine ganz andere Ebene zielte der Aufruf, mehr Aufmerksamkeit auf den Familienbegriff zu legen. Familie verwirkliche sich in einer Vielfalt von Erscheinungsformen und gehe durch viele verschiedene Lebensphasen (bspw. Pflegeaspekte), die zukünftig mehr in der Familienförderung berücksichtigt werden müssten. Familie solle neu gedacht, ihre Sichtbarkeit gestärkt werden. Familie als Verantwortungsgemeinschaft sei eine große, auch volkswirtschaftlich genutzte Ressource. Unbezahlte Sorgearbeit, die hauptsächlich immer noch von Frauen geleistet werde, sei weiterhin zu wenig berücksichtigt. Dies müsse sich in den politischen Entscheidungen widerspiegeln. Auch gelte es, die Wirtschaft mehr in die Verantwortung zu nehmen.

 

Fachforum am 14. März 2023: „Familienunterstützung verzahnen, verknüpfen, entsäulen: Potenziale und Ansätze aus der Familienbildung“

14.03.2023 | Im Rahmen des zweiten Fachforums der Themenperiode „Unterstützungsstrukturen für Familien – Wege zu wirksamen Angeboten“ kamen am 14. März 2023 knapp 50 Vertreter*innen aus den Mitgliedsorganisationen zusammen. Die Online-Veranstaltung thematisierte die Strukturen und Netzwerke von Familienunterstützung und fokussierte dabei insbesondere auf den Bereich der Familienbildung.

Wie wird Familienunterstützung organisiert? Welche Strukturen gibt es, die befördern oder verhindern, dass Angebote ineinandergreifen? Wie müssen Netzwerke strukturell gebaut sein, um Partizipation von Familien zu ermöglichen und Versorgungslücken zu schließen? Der Weg zu einer flächendeckend gelingenden Angebotslandschaft muss an den oft langfristig gewachsenen Strukturen ansetzen. Im System der unterstützenden Angebote spielt gerade die Familienbildung eine wichtige Rolle – historisch gesehen war es die Familienbildung, die stets auf neue gesellschaftliche Herausforderungen reagierte und so strukturelle Lücken auffangen konnte. Mit dieser Rolle gehen jedoch auch strukturelle Eigenheiten, Stärken und Schwächen einher. Das Fachforum hatte das Ziel, ausgehend von der aktuellen Lage der Familienbildung strukturelle Richtungsentscheidungen für familienunterstützende Angebote zu suchen. In einer Gesellschaft, in der sich sowohl Rahmenbedingungen als auch Ansprüche an Unterstützung dynamisch ändern, müssen Strukturen überdacht und angepasst werden.

Impulsvortrag: „Familienbildung – ein Modell für familienunterstützende Systeme?“

Anhand einer in Nordrhein-Westfalen durchgeführten Evaluation der Familienbildung ermöglichte Prof. Dr. Ute Müller-Giebeler (Technische Hochschule Köln) einen Einblick in das Arbeitsfeld und die aktuellen politischen Herausforderungen für die Familienbildung. Sie verdeutlichte, weshalb die Familienbildung ein weiblicher Arbeitsbereich sei und welche strukturell relevanten Konsequenzen sich daraus ergäben.

Die Familien und mit ihr die Familienbildung stehen laut Müller-Giebeler vor vielfältigen internen und externen Herausforderungen. Kritisch sei das Modernisierungsdefizit in der Familienbildung. Die Überzahl der kirchlichen Träger sei ein Indiz, dass sich die Trägerlandschaft nicht zusammen mit der Gesellschaft diversifiziere. Zudem stellten in der Personalstruktur erwerbstätige Mütter seit je her den größten Anteil. Aufgrund gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse habe sich die Rolle der Frauen jedoch gewandelt, weshalb sich die Möglichkeiten, sich ‚nebenfamiliär‘ zu engagieren, reduzierten. Diese gleichstellungspolitisch positive Entwicklung zöge somit personelle Engpässe nach sich, die durch externe Krisen wie zum Beispiel der Pandemie und der Inflation zugespitzt würden.

Frau Müller-Giebeler betonte das breite Spektrum an Alltagsthemen, die durch die Angebote der Familienbildung abgebildet würden. Dies stehe jedoch angesichts von unzureichenden Mitteln häufig im Konflikt mit der geforderten Professionalisierung. So sei zwar angesichts der Vielfalt der Herausforderungen und Themen eine Professionalisierung notwendig. Andererseits zeige sich jedoch, dass Beziehungen und idealistisches Engagement für eine erfolgreiche unterstützende Familienbegleitung weitaus relevanter seien. Wichtig sei es daher, auch bei einer Zunahme der Professionalisierung, die Stärke des (historisch) gewachsenen niedrigschwelligen Zugangs sowohl von Anbietenden als auch Annehmenden nicht aufzugeben. Hierfür seien die Netzwerke in den Sozialraum gut geeignet.

Als eine der neuen politischen Herausforderungen skizzierte Müller-Giebeler, dass das Selbstverständnis der Familienbildung zunehmend in Frage gestellt würde. Seit den 2000er Jahren gäbe es vermehrte Aufmerksamkeit für die Familienbildung. Jedoch rücke die Familie zunehmend Produktionsstätte von Humankapital in den Fokus statt als Ort kritischer Aufklärung und Bildung. Dies sei nicht mit der ursprünglichen Auffassung der Familienbildung vereinbar.

Für die Familienbildung betonte sie folgende charakteristische Strukturmerkmale:

  • gute Netzwerkstrukturen in den Sozialraum
  • hoher Idealismus als Arbeits- und Motivationsfaktor
  • authentische Arbeitsweise nah am lebensweltlichen Geschehen
  • relativ wenig Professionalisierung und relativ wenig hauptberuflich Angestellte
  • historisch gewachsene Peer-to-Peer-Ansätze
  • hohes Vertrauen der Zielgruppen

Diskussion: „Neue Anforderungen an Familienbildung“

Im Anschluss diskutierte das Fachforum die genannten vielfältigen Ansätze der Familienbildung.
Vielversprechend und gleichzeitig kritisch wurde der Ansatz der Familienbildung als „dritter Sozialraum“ gesehen, da die Familienbildung nachweislich überwiegend von Familien der Mittelschicht genutzt werde. Entsprechend spiegele der Sozialraum der Familienbildung nicht die gesellschaftliche und familiäre Heterogenität wider. Gleiches gelte entsprechend für das Personal. Ungelöst bliebe daher auch die Frage nach einer heterogenen Trägerlandschaft: Wie kann die Trägerlandschaft diverser werden? Als größtes Problem wurden die prekären nebenberuflichen bzw. nebenfamiliären Arbeitsbedingungen in der Familienbildung diskutiert. Diese Form der Nebenberuflichkeit könne hier nur unter Bedingungen „echter Selbstständigkeit“ mit entsprechend hohen Honoraren erhalten werden.

Hinsichtlich des angesprochenen strukturellen Dilemmas der Familienbildung sei einerseits sei eine Spezialisierung notwendig, um sich den Bedürfnissen der Familien besser anzupassen. Andererseits sollten breite und niedrigschwellige Angebote bereitgestellt werden, die von im Sozialraum angebundenen und vernetzten Akteuren gestaltet werden. Angemerkt wurde, dass die Geschichte der Familienbildung zugleich auch eine Geschichte der Frauenbildung und Frauenselbstbildung sei. Dies sei eine große Stärke – informelle Bildung solle eine höhere Anerkennung bekommen.

Einigkeit bestand in der Forderung, dass in der Familienbildung die häufige prekäre Beschäftigung von Frauen beendet werden müsse. Auch die Rolle des Ehrenamts wurde diskutiert: Es sei problematisch, wenn staatliche Aufgaben an das Ehrenamt ausgelagert würden, ohne dafür gleichzeitig gute Voraussetzungen zu schaffen. In diesem Zusammenhang wurde geäußert, dass die Familienbildung mit der Ehrenamtlichkeit im Prinzip von Familien selbst finanziert würden: Schließlich sei davon auszugehen, dass ehrenamtliche Tätigkeit Frauen meist nur dann möglich sei, wenn sich ich auf einen „Ernährer der Familien“ stützen könnten.

Austausch in Kleingruppen: „Unausgeschöpfte Potenziale“

Im zweiten Teil des Fachforums vertieften die Teilnehmer*innen herausfordernde Aspekte der Familienbildung anhand vier verschiedener Themen: Netzwerkarbeit, Personalstruktur, Digitalisierung und gesetzliche Ausgestaltung. Ein- und angeleitet wurde der Austausch von Themenpatinnen aus den Mitgliedsorganisationen des Bundesforums Familie.

Arbeitsgruppe 1: „Kommunale Netzwerke“

Nach einer kurzen Eröffnung der Fragestellung durch Britta Kreuzer (LAG Soziale Brennpunkte Niedersachsen) diskutierte die Kleingruppe die Rolle der Sozialraumorientierung für die Angebotsstrukturen von Familienunterstützung sowie die Bedingungen guter Zusammenarbeit zwischen Akteuren auf kommunaler Ebene.

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Es wurde betont, dass es eine verantwortliche Stelle geben müsse, die die Angebote kontinuierlich koordiniert, Netzwerke pflegt und um die Bedarfe der Familien weiß. Gesetzlich sei diese Rolle seit in Kraft treten des KJSG 2021 den Jugendämtern zugeschrieben – jedoch setzten nicht alle diesen Auftrag um. Hier brauche es länderübergreifenden Austausch, um gelingende Abläufe bekannt zu machen: So arbeite beispielsweise das bayerische Landesjugendamt eng mit den kommunalen Jugendämtern zusammen, um auf Bedarfslagen mit passenden Angeboten reagieren zu können und Ungleichgewichte in der regionalen Abdeckung abzubauen. Diskutiert wurde, inwiefern eine gute Vernetzung kommunaler Akteure wie z.B. dem Quartiersmanagement, der Gemeinwesenarbeit oder Beratungsstellen Zugang zu Personen schaffen kann, die sonst eher selten erreicht werden –sowohl als Nutzende als auch als potenzielle Familienbildner*innen, z.B. als Trainer*innen, Referent*innen oder Elternbegleiter*innen.

 

Arbeitsgruppe 2: „Personalstruktur in der Familienbildung mit Blick auf den Gender-Aspekt“

Die Kleingruppe rekapitulierte nach einem einleitenden Impuls von Ulrike Stephan (eaf | evangelische arbeitsgemeinschaft familie), dass sich Familienbildung durch einen strukturell bedingten hohen Anteil von (fluktuierenden) Teilzeit- und Honorarkräften sowie Ehrenamt auszeichne.

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Zudem sei aus historischen und strukturellen Gründen der Frauenanteil überdurchschnittlich hoch.  Vor diesem Hintergrund diskutierte die Kleingruppe die Dilemmata, die mit der strukturellen Verquickung von gesellschaftlichen Rollenbildern, (familien-)ökonomischen Realitäten und gesetzlichen Rahmenbedingungen einhergehen. Als besonders frustrierend wurde der Umstand genannt, dass diese, aus gleichstellungspolitischer Sicht untragbaren, Schräglagen in der Familienbildung selbst reproduziert würden: Frauen beschäftigten Frauen prekär. Durch die aktuelle Förderstruktur würden für die Familienbildung eben jene Frauen gewonnen, die Teil eines Familienbildes sind, das aus familienpolitischer Sicht immer weniger zu halten sei. Als wichtigste Stellschraube wurde die tarifgerechte Bezahlung genannt. Auf diese Weise könne (weiblicher) Altersarmut entgegnet werden und die Berufe würden für Männer attraktiver. Als weitere Stellschraube wurde die Sichtbarkeit der Familienbildung identifiziert – so gebe es zwar immer mehr männliche Fachkräfte, die in der Sozialen Arbeit oder als Erzieher arbeiteten, die Familienbildung sei aber in der Ausbildung als Arbeitsfeld zu wenig wahrnehmbar.

Das Problem sei außerdem, dass mit dem gesellschaftlichen Wandel von Rollenbildern, aber auch den aktuellen ökonomischen Herausforderungen (Stichworte Pandemie, Inflation) die Zahl der Ehrenamtlichen deutlich zurückgehe. Hier entstehe durch den Wegfall des freiwilligen Engagements eine sehr große Lücke, mit der man umgehen müsse. Hierfür könnten zum Beispiel die Schaffung von Arbeitsplätzen bzw. Bereitstellen von finanziellen Mitteln Ansatzpunkte sein. Hilfreich sei auch eine bessere gesellschaftliche Anerkennung und politische Ermöglichung von Lebensrealitäten, in denen Zeit und Raum für ehrenamtliches Engagement bliebe.

 

Arbeitsgruppe 3: „Digitalisierung“

Dr. Susanne Eggert (JFF | Institut für Medienpädagogik) leitete in die Diskussion mit der Frage ein, wie Digitalisierung sinnvoll strukturell in der Familienbildung verankert werden könnte.

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Übersichtsportale, eine digitale Angebotsstruktur, die Bewerbung der Angebote über Social Media: Digitalisierung biete auf verschiedenen Ebenen Chancen, Familienunterstützung wirksamer zu gestalten. Mit digitalen Angeboten könnten auch Personen erreicht werden, die bisher eher selten Angebote wahrgenommen hätten. Insgesamt seien bspw. mit der digitalen Familienbildung überproportional viele Männer erreicht worden. Auch Alleinerziehenden erhöhe ein digitaler Zugang die Teilnahmemöglichkeiten. Einschränkend wirke die digitale Ausstattung von Familien: Nicht alle Familien hätten die notwendige Hardware oder mediale Kompetenz um digitale Angebote entsprechend zu nutzen. Gerade im ländlichen Raum fehle oft die notwendige Internetverbindung.

Die Diskussionsrunde stellte fest: Digitalisierung gelte es zu gestalten. Hier könne viel aus der Corona-Zeit gelernt werden. Ebenso könnte an die bestehenden Kompetenzen der Eltern und damit bereits an verfügbare Lösungen gedacht werden. Dies ermögliche einen niedrigschwelligen Einstieg und knüpfe zugleich an die Lebenswelt der Zielgruppen an. In der Diskussion blieb jedoch die Blickrichtung offen: Sollten Familien für digitale Formate „fit“ gemacht werden, in dem Geräte, Software, Anwendungen, Kompetenzen, etc. verbessert werden? Oder sollten sich die Formate an den bestehenden Ressourcen der Familien orientieren? Es brauche digitale Lösungen, die technisch und im Sinne der Handlungskompetenz für die Familien leicht erreichbar seien. Dazu müssten digitale Angebote professioneller aufgebaut sein. Als Vorteil benannten die Diskutierenden, dass zielgruppengerechte Informations- bzw. Qualifizierungsangebote (z.B. für Multiplikator*innen und Eltern/Familien) digital gut angepasst werden könnten. Eine Verlagerung der Angebote ins Digitale sei sehr sinnvoll – jedoch nur unter der Voraussetzung, die Technikausstattung, Internet-Abdeckung, Datenschutz, Know-How, etc. sei gegeben. Die Teilnehmer*innen betonten zuletzt, dass sich viele positive soziale Wechselwirkungen des direkten Kontakts nicht in den digitalen Bereich übertragen ließen, Digitalisierung aber die Chance biete, die Vielfalt der Familienbildung sichtbar zu machen.

 

Arbeitsgruppe 4: „Gesetzliche Ausgestaltung“

Braucht es Nachbesserungen in den gesetzlichen Regelungen – wenn ja, welche? Wo sind konkrete Baustellen, woran wird gearbeitet? Sandra Clauß (Bundesarbeitsgemeinschaft Landesjugendämter) eröffnete die Diskussion mit einer generellen Einordnung der Lage der Familienbildung in Deutschland

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Sie erinnerte daran, dass es landesspezifisch sehr unterschiedliche Umsetzungen gebe. Eine gesetzliche Grundlage für die Familienbildung bestehe derzeit nur in Berlin: das Familienfördergesetz von 2019. Das Gesetz zur Förderung und Beteiligung von Familien solle die Qualität und die Finanzierung der Angebote der Familienförderung und damit auch der Familienbildung im Land Berlin sichern. Andere Länder wie Baden-Württemberg erarbeiteten derzeit vergleichbare Gesetzesentwürfe. Deutlich wurde, dass diese Unterschiedlichkeit besonders in finanzieller Hinsicht zu unterschiedlichen Ausgangslagen führe. Projektfinanzierungen, oft über Drittmittelförderungen, sei in vielen Ländern üblich, obwohl die Familienbildung eine stabile Grundfinanzierung benötige. Problematisch sei insbesondere die Notwendigkeit der Eigenanteile in der Projektfinanzierung. Diese könne insbesondere von kleineren Trägern oft nicht geleistet werden. In der Diskussion wurde betont, dass die Bedarfe aller Familien berücksichtigt werden müssten. Sinnvoll sei daher eine am Sozialraum orientierte Steuerung durch das Jugendamt. Problematisch sei, dass Familien auch sozialräumlich nicht immer erreichbar seien. Der Vorschlag, Programme für verschiedene Zielgruppen themenspezifisch zu konzipieren, wurde von den Teilnehmer*innen kontrovers diskutiert. Eine Ausrichtung nach aktuellen Themen sowie Programme für verschiedene Zielgruppen würde die Finanzierung noch komplizierter machen. Ein Perspektivwechsel hin zur Bedarfsorientierung ermögliche eine präventive Steuerung (wie in Berlin), in enger Zusammenarbeit mit dem Jugendamt. Zukünftig sei zudem denkbar, Familienbildung als aufsuchende Komm- und Gehstrukturen zu entwickeln. Alle genannten Veränderungen seien mit der jetzigen Ausgestaltung des Paragraph § 16 des SGB bereits möglich. Es sei keine Frage der finanziellen Ausstattung, sondern des politischen Willens.

 

Abschlussdiskussion im Plenum

Abschließend wurde in großer Runde diskutiert, inwiefern Stärken der Familienbildung auch auf andere Bereiche der Familienunterstützung übertragbar seien. Diese Transferfrage offenbarte gleich zwei Herausforderungen: Erstens seien die sehr heterogenen Strukturen der Familienbildung – die diverse Trägerlandschaft, die länderspezifischen Umsetzungen, die verschiedenen lokalen Gegebenheiten – kaum zu überblicken. Dadurch würde die Suche nach generellen Aussagen oder Lösungsansätzen erschwert. Zweitens würde die Familienbildung durch historisch gewachsene Spezifika charakterisiert, die heute im Rahmen von sich verändernden Bedingungen und wachsenden Ansprüchen unter starkem Druck stünden. Deutlich wurde, dass gerade der Bereich der Familienbildung strukturell von gesellschaftlichen Verhältnissen – Familienmodell, Geschlechterrollen, Bildungsbegriff – abhängig ist. Dies sind Problematiken, die nicht allein durch Richtungsentscheidungen innerhalb der Institutionen aufgelöst werden können. Ein politischer gesamtgesellschaftlicher Diskurs ist ebenfalls dafür zwingend notwendig.

Impulsworkshop am 28. Februar 2023: „Wenn die Familien wüssten, was wir in unseren Projektanträgen über sie schreiben, würden sie nicht mehr kommen“

Berlin, 20.03.2023 | Sprache in der sozialen Arbeit mit Familien – darüber wurde in einem Impulsworkshop des Bundesforums Familie am 28. Februar gesprochen. Er schloss sich an das Fachforum „Ansprache & Werthaltungen in der Familienunterstützung“ vom 20. Oktober 2022 an. Welche Wirkung kann Sprache haben und wie kann die Arbeit mit und für Familien durch eine sensible Sprache erleichtert werden? Hierzu diskutierten knapp 40 Teilnehmende online mit dem Referenten Prof. Dr. Christian Philipp Nixdorf.

Zu den Teilnehmenden zählten neben Vertreter*innen aus den Mitgliedsorganisationen des Bundesforums Familie auch Studierende und Kolleg*innen von Christian Nixdorf. Nach der Begrüßung vergegenwärtigte Projektkoordinatorin Elena Gußmann den Ursprung der Idee zu diesem Workshop.

Einleitung: Sprache im Fokus

Der Impulsworkshop sei eine Ergänzung zum Fachforum Ansprache & Werthaltungen am 20. Oktober 2022, so Elena Gußmann. Hier war das Thema Sprache kaum thematisiert worden – zumindest nicht systematisch. Punktuell wurde das Thema jedoch gestreift: So habe die Referentin Elizaveta Khan vom Integrations-Haus Köln betont, dass ihr Team den Begriff „Integration“‘ zwar ablehnen würde, ihn aber dennoch zur Ansprache ihrer Zielgruppe verwendete. Der Effekt dieses Signalwortes „Integrationdas ist was für uns, hier werden wir gemeint, da gehen wir hin“ sei hier in der Abwägung wichtiger als die korrekte Bezeichnung dessen, was in dieser Einrichtung gelebt werde. Ebenso berichtete Elizaveta Khan von einem täglichen sprachlichen „Spagat“: Sie müssten in Berichten und Anträgen die Klient*innen als defizitär darstellen, weil für die Behebung akuter Missstände eher Gelder flössen als für Präventivangebote. Aus diesem „2-Sprachen“ bzw. „2-Adressat*innen-System“ stamme der zugegebenermaßen etwas lange Titel dieser Veranstaltung, in der die Sprache im Zentrum stehe.

Impulsvortrag: Sprache und deren Wirkung im Sozialwesen

Der Workshop begann mit einem Impulsvortrag von Christian Nixdorf. Als Sozialwissenschaftler, Organisationspädagoge und Sozialarbeiter unterrichtet er als Professor für Soziale Arbeit und Integrationsmanagement an der Hochschule der Wirtschaft für Management in Mannheim. Er ist Autor des Buches „Sprachverwendung im Jobcenter – Wenn Kunden keine Kunden sind“ (2020). Für einen Kommentar war Sandra Clauß vom Landesjugendamt Rheinland und dem Beirat des Bundesforums Familie eingeladen, bedauerlicherweise konnte sie jedoch aus gesundheitlichen Gründen nicht teilnehmen.

Der Titel des Vortrags von Christian Nixdorf lautete „Sprache und deren Wirkung im Sozialwesen“. Christian Nixdorf stellte zu Beginn die These auf, dass der Sprache im Sozialwesen eine herausragende Bedeutung zukomme. Sozialarbeitende seien darauf angewiesen, dass Klient*in­nen bereit sind, mit ihnen zu sprechen. Diese Bereitschaft werde durch die Art beeinflusst, wie mit und über Klient*innen gesprochen wird. Kleine Unterschiede im Formulieren könnten große Wirkung haben – im Positiven wie im Negativen.

Sozial schwach: Unwort oder nicht?

Christian Nixdorf stellte Aussagen aus dem Bereich der sozialen Arbeit zum Ausdruck „sozial schwach“ vor (s. Präsentation, Folie 5) und fragte die Teilnehmenden: Wie verstehen Sie diesen Ausdruck „sozial Schwache“? Die Teilnehmenden antworteten:

  • „Menschen mit wenig sozialer Kompetenz und Empathie“
  • „Menschen mit wenig Empowerment, die kommen mit ihrem Leben nicht klar, brauchen Hilfe; aber besser wäre es, Elon Musk als sozial schwach zu bezeichnen“
  • „Menschen, die nicht sozial kompetent sind und andere ausgrenzen“
  • „Menschen, die sich nicht sozial verhalten.“

Christian Nixdorf bestätigte diese Assoziationen, die auftreten, wenn insbesondere in den Medien Arme als „sozial Schwache“ bezeichnet würden. In der Soziologie jedoch sei der Begriff nicht abwertend, sondern neutral beschreibend gemeint. In der Netzwerkforschung beziehe sich soziale Schwäche nicht auf individuelles (Fehl)verhalten, sondern auf das Fehlen von Strukturen und Kontakten, mit denen man Interessen durchsetzen oder Gehör finden kann. Arme hätten genauso wie andere Menschen starke soziale Beziehungen in ihrem nahen Umfeld (Familie, Freundschaften), aber weniger an schwachen sozialen Beziehungen und losen Kontakten zu Personen, die ihnen bei der beruflichen Entwicklung oder anderen Herausforderungen hilfreich sein können (Anwält*innen, Universitätsangehörige, Führungskräfte usw.). Arme oder in diesem Sinne sozial schwache Menschen seien strukturell benachteiligt.

Die Rahmung unserer Worte macht den Unterschied

Christian Nixdorf nannte weitere Beispiele für Ausdrücke und Formulierungen, die je nach fachlichem Hintergrund oder Milieu unterschiedlich aufgefasst würden. Auf die divergenten Verständnisse von sprachlichen Ausdrücken zu achten, sei im Sozialwesen sehr wichtig, so Nixdorf, weil das Sozialwesen oft mit Menschen zu tun habe, die Abwertung erfahren oder psychisch krank sind. Sie seien daher in besonderem Maße auf Sprache sensibilisiert. Es mache z. B. einen Unterschied, ob man sagt „Frau S. ist hilflos“ oder „Frau S. benötigt viel Unterstützung.“ Der Ausdruck „Systemsprenger“ wecke Zerstörungsassoziationen, wo eher Hilfeassoziationen angebracht wären.

Warum Worte im Sozialwesen so wichtig sind. Folie.

Die Herausforderung hierbei bestehe darin, dass das Reden von einer Normalität nötig ist, um einen Vergleichsmaßstab zu haben – das impliziere aber auch, dass das, was dieser Normalität nicht entspricht, anormal (und behandlungsbedürftig) sei. Probleme sollten benannt werden, aber um negative Assoziationen insbesondere bei den Klient*innen zu vermeiden, sollte auf die Rahmung oder Einbettung (engl. Framing) geachtet werden.

Framing/Rahmung „bezeichnet den Effekt, dass ein und dieselbe inhaltliche Information vom Empfänger unterschiedlich aufgenommen wird, je nachdem, wie sie (z. B. positiv oder negativ) formuliert oder (mit unterschiedlichen Begleitinformationen) verknüpft wird.“ (Schubert & Klein 2020)

Beispiel: Soziales Netz oder soziale Hängematte? Bei „soziales Netz“ sei das Framing Absicherung, die Wirkung Neutralität oder Zufriedenheit. Bei „soziale Hängematte“ hingegen sei das Framing Ausnutzung, und die Reaktion Wut über die „Sozialschmarotzer*innen“.

Christian Nixdorf führte diverse Begrifflichkeiten an, die Handlungsweisen und Überzeugungen professioneller Sozialer Arbeit beschreiben, wie Lebensweltorientierung, Ressourcenorientierung, Empowerment, etc. Diese Begriffe seien positiv besetzt und würden die Fähigkeiten der Klient*innen betonen. In der Praxis spräche man in der Sozialen Arbeit aber oft negativ über Klient*innen – das sei jedoch keine Anklage, denn es gebe Gründe dafür, z. B. Anreize bei der Antragstellung.

Fazit: Sprachsensibilität erleichtert die Arbeit

Sozialpädagogisch angemessen sei es, achtsam zu reflektieren, was trotz der Probleme noch alles möglich wäre – und das sprachlich abzubilden. Sprachsensibilität bedeute nicht Selbstzensur. Der Vorwurf der Sprachpolizei verkenne, dass es etwas mit Wertschätzung zu tun habe, wie gesprochen wird. Sprachsensibel vorzugehen sei gerade im Sozialwesen hilfreich, weil viele Klient*innen sie in ihrem Leben sonst oft eher selten erfahren. Eine sprachsensible Rahmung bedeute keinesfalls, alles durch die rosarote Brille zu sehen und Probleme schönzureden oder zu leugnen. Aber eine wirksame Unterstützung sei kaum möglich, wenn unsere Sprache zu sehr problemgeprägt sei. Klient*innen helfe eine lösungsorientierte Rahmung, da diese Machbarkeitsassoziationen wecke.

Diskussion: Menschenrechte der Kund*innen

Im Anschluss diskutierte die Runde zunächst, ob der Ausdruck „Kund*in“ für Unterstützungsnehmer*innen adäquat sei. Diese benenne die Menschen richtig als als Inanspruchnehmer*innen von Leistungen. Christian Nixdorf wies darauf hin, dass die „Kund*innen“ nur leider die Leistung oft nicht ablehnen dürften und dieser Umstand in dem Begriff nicht abgebildet werde. Eine andere Teilnehmerin hielt den Ausdruck „Kunde/Kundin“ für schwierig, „Ratsuchende“ sei besser geeignet als „Klient*innen“. Auch von „ALG II“ statt von „Hartz IV“ zu sprechen, mache etwas mit den Menschen.

Wie lassen sich nicht nur Fachkräfte, sondern auch große Träger für diese sprachlich wirkmächtigen Feinheiten sensibilisieren? Christian Nixdorf schlug vor, mit gutem Beispiel voranzugehen und in Briefen und Gesprächen auf eine sensible Sprache hinzuweisen. In seiner Zeit im Jobcenter habe er Briefe an die Leitung geschrieben und damit eine Änderung der Begriffe in offiziellen Schreiben erwirkt. Elena Gußmann fragte, ob es einen Code of Conduct oder Leitfaden gebe, der zu empfehlen sei. Christian Nixdorf nannte den Sprachleitfaden der Bundesagentur für Arbeit.

Fazit der Diskussion: an vielen Stellen intervenieren

Aus der Runde wurde auf das Problem hingewiesen, dass Alleinerziehende in der meist verwendeten Sprache oft kaum vorkämen, sie würden nicht mitgedacht. Hier müsse es eine Änderung geben, besonders in der Politik. Eine angemessene Sprache müsse als Menschenrecht gelten. Vorgeschlagen wurde, dass die Runde einen Brief an die Politik und die Medien für mehr Selbstreflektivität in der Sprache im Sozialwesen formulieren solle. Die Soziale Arbeit müsse sich ebenfalls verändern, das wäre eher intern zu bewerkstelligen. Christian Nixdorf teilte die Einschätzung, dass hierin eine große Chance läge – es sei auch die Verantwortung der Verbände. Man müsse selbst – da, wo man ist – aktiv werden und nicht auf die Aktivität von Anderen warten.

Download: Prof. Dr. Christian Philipp Nixdorf: „Sprache und deren Wirkung im Sozialwesen“ (Präsentation, 28.02.2023)

Fachforum am 20. Oktober 2022: „Ansprache & Werthaltungen in der Familienunterstützung“

Berlin, 20.10.2022 | Knapp 40 Vertreter*innen aus den Mitgliedsorganisationen des Bundesforums Familie kamen anlässlich des ersten Fachforums der aktuellen Themenperiode „Unterstützungsstrukturen für Familien – Wege zu wirksamen Angeboten“ im Festsaal der Berliner Stadtmission zusammen. Im Fokus der fachlichen Diskussion stand der enge Zusammenhang zwischen der Wirksamkeit von Unterstützung und den Werthaltungen seitens der unterstützungsgebenden Fachkräfte sowie der Träger und Fördermittelgeber. Damit stellte das Fachforum bewusst eine selbstreflexive Perspektive in den Vordergrund: Welche Werthaltungen in den Organisationen führen zu Ansprachen, die eine Unterstützung ermöglichen oder verhindern? Wie kann hier Veränderung stattfinden?

Einleitung durch die Ad-Hoc-AG „Ansprache und Werthaltungen“

DSabine Felgenhauer (PEKiP)r. Verena Wittke (Arbeiterwohlfahrt Bundesverband) und Sabine Felgenhauer (PEKiP) stellten im Auftrag ihrer das Fachforum vorbereitenden Arbeitsgruppe den bisherigen Diskussionsstand vor: Im Austausch innerhalb der AG sei bewusst geworden, dass sowohl Wissen als auch Sensibilität für die unterschiedlichen Lebenslagen der Familien Voraussetzung für eine wirksame Zusammenarbeit sei. Zuschreibungen durch gesellschaftliche Familienbilder sowie die eigene sozial erworbene Werthaltung beeinflusse die Arbeit mit den Familien.

Von elementarer Bedeutung sei es daher, dass Institutionen bzw. deren Fachkräfte die eigenen Werthaltungen und die eigene „Hauskultur“ hinterfragten, da gerade hier etablierte Machtebenen oft unmerklich reproduziert würden. Es brauche diese kritische Beschäftigung mit „dem Eigenen“, um von einer zuschreibenden zu einer zuhörenden Unterstützungsstruktur zu kommen. Im Zuge dessen sei es wichtig, dass die Partizipation von Familien gestärkt werde – unter anderem dadurch, dass Familien ihren Unterstützungsbedarf selbst definieren können.

Dr. Verena Wittke (AWO Bundesverband)Im Kontext von Partizipation sei der Begriff des „Empowerments“ im Verlauf der bisherigen Themenperiode von den Mitgliedsorganisationen sehr kritisch diskutiert worden. Klar geworden sei, dass es in der Unterstützung von Familien eher um ein „Powersharing“ ginge: „Menschen oder Gruppen können nur sich selbst empowern und nicht von Anderen empowert werden“, so Dr. Verena Wittke. Im Sinne des Powersharings sei zufragen, wer in der Unterstützungs-Begegnung die Definitionsmacht habe, welche Privilegien die Fachkraft besitze (oder gerade nicht) und letztlich auch, wie und welche Ressourcen geteilt und verteilt werden könnten.

Als Ergebnis der AG-Diskussion wurden vier Fragen vorgestellt, die das Fachforum inhaltlich leiten sollten:

  1. Wie gehen wir mit der Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Lebenswelten um?
  2. Inwieweit ist die vielzitierte „Begegnung auf Augenhöhe“ in familienbegleitenden und -unterstützenden Angeboten möglich?
  3. Welche Bedeutung haben die Art der Sprache und die Wortwahl in der Ansprache von Familien?
  4. Partizipation – wer definiert Bedarfe und Themen? Wie können die Menschen vor Ort in Bedarfsentwicklung und Angebotsgestaltung einbezogen werden?

Ziel sei es, so Sabine Felgenhauer abschließend, in der Diskussion des Fachforums nicht nur theoretische Ansätze, sondern auch Umsetzungsideen zur Frage: „Was bedeutet Powersharing für die Arbeit mit Familien?“ zu finden.

Praxisimpuls „Partizipation als Antwort auf Hürden bei der Inanspruchnahme Früher Hilfen“

Till Hoffmann (NZFH)Till Hoffmann vom Nationalen Zentrum Frühe Hilfen (NZFH) stellte in seinem Beitrag am Beispiel der Frühen Hilfen vor, auf welche konkreten Hürden Unterstützungsstrukturen in der Praxis stoßen und zeigte auf, welche Bedeutung Werthaltungen und Ansprache in diesem Kontext einnehmen. Ein bekanntes Grundproblem sei das Präventionsdilemma – ein Effekt, der beschreibt, dass durch Präventionsmaßnahmen der Abstand zwischen erreichten ressourcen-starken und nicht erreichten ressourcen-schwachen Familien noch verstärkt wird. Um auf diese Problemlage zu antworten, setze das NZFH auf einen partizipativen Ansatz bei der Inanspruchnahme Früher Hilfen.

Das Nationale Zentrum Frühe Hilfen

Till Hoffman stellte zunächst den Aufbau und die Arbeit des NZFH vor. Der Aufbau der Frühen Hilfen werde in Form von Netzwerken gestaltet und koordiniert. Ausgangspunkt und Bestandteil seien dabei die bereits bestehenden kommunalen Strukturen. Die Kommune definiere den Bedarf an Frühen Hilfen und sei für deren Organisation zuständig. Frühe Hilfen würden dabei von allen Mitgliedern des Netzwerkes geleistet, die Kontakt zu psychosozial belasteten Familien und deren Kindern haben, insbesondere Kinderärzt*innen und Hebammen etc. Der Schwerpunkt der Arbeit läge bei den benachteiligten Familien, die Arbeit im Netzwerk der Frühen Hilfen richte sich jedoch prinzipiell an alle werdenden bzw. jungen Eltern und deren Kinder bis zum 3. Lebensjahr. Die regelmäßige Evaluation habe gezeigt, dass die Angebote eine hohe Akzeptanz erfahren und eine nachhaltige Wirkung entwickelten, so Till Hoffmann.

Partizipationsansatz

Der Ansatz des NZFH sehe vor, die Zusammenarbeit jeweils an den Ressourcen der Familie auszurichten, das Selbsthilfepotential zu stärken und in der Praxis an der elterlichen Verantwortung anzusetzen. Ziel sei es, durch einen niedrigschwelligen Zugang Hilfen für alle, insbesondere aber für psychosozial belastete Familien zu bieten. Partizipation sei hier auch auf der institutionellen und professionellen Ebene ein wichtiger Ansatz. Till Hoffmann stellte in dem Zusammenhang die Partizipationspyramide nach Straßburger und Rieger vor, welche die Stufen der Partizipation sowohl aus der Perspektive der Institutionen als auch der Bürger*innen beschreibt.

Partizipationspyramide nach Straßburger/Rieger (Hg.): Partizipation kompakt - Für Studium, Lehre und Praxis sozialer Berufe 2014, S. 232f.

Partizipationspyramide nach Straßburger/Rieger (Hg.): Partizipation kompakt – Für Studium, Lehre und Praxis sozialer Berufe 2014, S. 232f.

Partizipation brauche vor allem Zeit und Flexibilität, um der dafür notwendigen Interaktion Raum zu geben. Von den Fachkräften verlange der Ansatz mehr Risikobereitschaft und die Offenheit, auf die Lebensweltperspektive der Eltern einzugehen. Till Hoffman betonte, dass dies für Beratungssituationen in Zwangskontexten umso wichtiger sei. Dafür seien hohe soziale Kompetenzen sowie methodische Kenntnisse von den Fachkräften gefordert.

Erreichbarkeitsstudie

Till Hoffmann betonte, dass Partizipation und Erreichbarkeit sich wechselseitig bedingen. Um besser zu verstehen, warum Familien nicht erreicht und so auch nicht beteiligt werden können, gab das NZFH 2018 eine Erreichbarkeitsstudie in Auftrag, die subjektive Lebensrealitäten und Bedürfnisse von Familien erfragte. In einem Studiendesign wurden 123 Mütter mit Kindern im Alter von 0-3 Jahren in Form von häuslichen Interviews befragt. Die qualitative Studie bestand aus Leitfadeninterviews sowie standardisierten Fragebögen. Anhand der Erreichbarkeitsstudie konnten als Fazit verschiedene Hürden für die Inanspruchnahme Früher Hilfen abgeleitet werden: gesellschaftliche Rollenbilder wie „die gute Mutter“, die eigene soziale Identität, der Anspruch, es „alleine zu schaffen“. Ebenso bestehe eine Angst vor Stigmatisierung bei Inanspruchnahme Früher Hilfen, was wiederum zu Versagensgefühlen und Selbstzweifeln führe. Das Ziel Früher Hilfen müsse es daher sein, diese Zweifel, Sorgen und Ängste der Eltern bereits in der Ansprache und in der Kommunikation von Angeboten ernst zu nehmen und soweit möglich aufzufangen. Die Schaffung einer wertungsfreien und vertrauensbildenden Atmosphäre „auf Augenhöhe“ sei hier besonders wichtig. Für die konkrete Zusammenarbeit bedeute dies z.B. mit sprachlicher Sensibilität vorzugehen und das fachliche Wissen unterstützend anzubieten, anstatt zu belehren.

Partizipation sei immer eine Querschnittsaufgabe, die auf allen Netzwerkebenen verankert werden müsse. Um diese Verankerung zu unterstützen, habe das Netzwerk das Projekt „Qualitätsdialoge Frühe Hilfen“ entwickelt, das im Qualitätsrahmen im Zeitraum 2017—2021 umgesetzt wurde. Das Projekt entwickelte Praxismaterialien, die den Fachkräften ermöglichen, das Thema Partizipation und damit konkrete Vorgehensweisen zu deren Umsetzung gemeinsam im Netzwerk zu erarbeiten.

Diskussion

In der anschließenden Diskussion wurden einzelne Aspekte der Frühen Hilfen kritisch sowie im Hinblick auf ihre Übertragbarkeit auf andere Unterstützungsstrukturen diskutiert. Im Kontext von Werthaltungen diskutierten die Teilnehmenden das Verständnis von Augenhöhe, die Definitionen von Zielgruppen sowie den Umgang mit Diversität in der Zusammenarbeit mit den Familien.

Diskussion weiterlesen

Augenhöhe: Kontrovers diskutiert wurde insbesondere der Begriff der Augenhöhe. Einerseits sei fraglich, was genau unter Augenhöhe verstanden werde und ob andererseits Augenhöhe in einer asymmetrischen Begegnung von Unterstützungsnehmenden und –gebenden überhaupt möglich sei. Unabhängig davon sei es jedoch auf jeden Fall möglich und wichtig, eine respektvolle Beziehung zwischen Fachkräften und Familien zu entwickeln, in der beide Seiten als Expert*innen ihres Fachs bzw. ihrer Lebenswelt anerkannt werden. Seitens der Fachkräfte sei es wichtig, sich die Gründe für den eigenen Wissensvorsprung vor Augen zu führen. Insbesondere in der Frage, wer den Unterstützungsbedarf bestimmt, sei besondere Sensibilität gefordert.

Zielgruppen: Einerseits ermögliche eine Definition von Zielgruppen eine genauere Zuschreibung der Angebote und Bedarfe der Familien. Andererseits gehe mit der Definition von Zielgruppen häufig bereits eine Stigmatisierung einher. Wie die Erreichbarkeitsstudie des NZFH festgestellt habe, könne dieses Gefühl der (potentiellen) Stigmatisierung eine Hürde für die Inanspruchnahme von Hilfen darstellen. Dies führe letztlich zu einer Ablehnung von Hilfsangeboten. Fraglich sei daher, ob eine universelle Ausrichtung nicht besser sei. Till Hoffmann betonte, das Angebot des NZFH richte sich zwar im Schwerpunkt an psychosozial belastete Familien, sei aber vom Leitgedanken her ein Angebot für alle Familien. Bedeutend sei, dass die Zielgruppen in den Netzwerken vor Ort festgelegt werden, da diese den Bedarf und die Strukturen vor Ort kennen.

Diversity: Es wurde diskutiert, dass es im Sinne eines Diversity-Ansatzes notwendig sei, diesen auch im Monitoring der Netzwerkakteure zu berücksichtigen. Die Frühen Hilfen seien mit ihren Angeboten an alle Formen von Familien adressiert. Da die konkrete Ausgestaltung jedoch vor Ort stattfinde, variierten die Angebote je nach Bedarf der kommunalen Strukturen vor Ort. Hierzu verwies Till Hoffman an noch offene Kommunalbefragungen, die dazu mehr Ergebnisse bringen werden.

Erreichbarkeit: Deutlich wurde, dass der Aufbau von gut funktionierenden Netzwerken mit vermittelnden Akteuren vor Ort als ein wichtiges Kriterium für Unterstützung gelten muss. So könnten bspw. Familienhebammen den Bedarf in den Familien erkennen und Angebote unmittelbar an die Familien herantragen. Lotsendienste in den Geburtskliniken könnten eine ähnlich wichtige Funktion einnehmen. Die gelungene Erreichbarkeit durch die Frühen Hilfen müssten durch lebenslauforientierte Anschluss-Angebote weitergeführt werden. Wenn die Frühen Hilfen beendet seien, in der Regel mit dem erreichten 3. Lebensjahr, entstehe bisher unter Umständen ein Kompetenzverlust der teilnehmenden Eltern und Familien. Es werde hierzu bereits diskutiert, die Frühen Hilfen auf ein anderes Altersspektrum auszuweiten. Offen sei dazu die Finanzierung: Seit 2012 seien 50 Millionen Euro für Angebote für 0–3-Jährige bereits nicht ausreichend gewesen. Ohne finanzielle Absicherung könne das Angebot nicht ausgeweitet werden. Wie hier sinnvoll Übergänge geschaffen werden können, müssten die Kommunen klären.

Aufbau von wirksamen Strukturen: Es wurde die Möglichkeit diskutiert, dass bestimmte Angebote der Frühen Hilfen, wie zum Beispiel Familienhebammen, als Regelleistung angeboten werden könnten. Davon sei die derzeitige Versorgungslage noch weit entfernt, fehle an diesem Punkt doch die Finanzierung, die Fachkräfte und teils der strukturelle Aufbau. Um daran zu arbeiten, sei es notwendig, redundante Strukturen zu erkennen und Akteure wie Selbsthilfeinitiativen oder Kitas besser zu verknüpfen. Till Hoffman betonte die Notwendigkeit, die Konzeptionen der Frühen Hilfen durch Kommunalbefragungen mit der Realität abzugleichen und gegebenenfalls anzupassen. Problematisch sei es jedoch, dass die Befragung der kommunalen Akteure fast ausschließlich über kommunale Hilfen erfolge. Die Kinder- und Jugendhilfe sei jedoch auf allen Landes- und Bundesebenen anders. Förderale Strukturen seien hier für ein sehr heterogenes Bild in der Ausgestaltung der Netzwerke verantwortlich. Till Hoffmann verwies außerdem darauf, dass Partizipation auf Fachkräfte-Ebene im Kontakt mit den Familien mitgedacht werde, die Partizipationsmöglichkeiten innerhalb von Behörden jedoch sehr gering seien. Hier lohne eine weitere Diskussion.

Workshop-Phase

Am Nachmittag kamen die Teilnehmer*innen des Fachforums in zwei verschiedenen Workshops zusammen:

1. „Für oder mit? Familien erreichen, Familien beteiligen – eine Frage der Haltung?“

Britta Kreuzer von derBritta Kreuzer, Landesarbeitsgemeinschaft Soziale Brennpunkte Niedersachsen e.V. Landesarbeitsgemeinschaft Soziale Brennpunkte Niedersachsen e.V. und Jasmin Harbers, Koordinatorin der bundesweiten Programme „Griffbereit“ und „Rucksack KiTa“ im Landkreis Ammerland, stellten Projekte vor, deren kultursensible Ansätze in der Familienarbeit anschließend diskutiert wurden. Fokus der Programme sei ein Angebot an mehrsprachige Eltern, welches wiederum von mehrsprachigen Eltern umgesetzt werde.

Workshop-Bericht weiterlesen

Das Angebot richte sich an Familien mit Kindern in einem Alter ab einem Jahr bis zur 2. Schulklasse. Die Eltern und Kinder fänden sich über ein Jahr in gemeinsamen festen Gruppen zusammen, die von Elternbegleiter*innen angeleitet würden. Die Gruppen seien mehrsprachig. Gemeinsam arbeiteten die Eltern an verschiedenen Themen zu Erziehungs- und Bildungsfragen, zum Angebot zählten zudem Spiele oder Gruppenaktivitäten (z.B. Eltern-Kind-Frühstück). Die Themen würden parallel der Themen in Kita, Schule und Elterngruppe festgelegt. Zur Umsetzung und Begleitung der Gruppen arbeiteten Elternbegleiter*innen mit den pädagogischen Fachkräften der jeweiligen Partnereinrichtung (Kita bzw. Schule) zusammen. Dafür würden Eltern aus den am Programm beteiligten Kitas und Schulen ausgebildet. Die pädagogischen Fachkräfte der Bildungseinrichtungen fungierten als Gruppenleiter.

Britta Kreuzer und Jasmin Harbers betonten, dass durch die Umsetzung dieses Peer-Ansatzes (von Eltern für Eltern) gleich mehrere Effekte erreicht würden, die für eine gelungene Ansprache und Werthaltung in der Familienarbeit zentral seien.

Die Augenhöhe würde unter anderem dadurch erreicht, dass Elternbegleiter*innen und Eltern beide mehrsprachig seien und aus dem gleichen Sozialraum stammten. Ohnehin entstehe durch die Sozialraumorientierung eine authentische Verbundenheit und Vertrauensstärkung zwischen den Eltern. Im Mittelpunkt der Zusammenarbeit stünden zwar die beteiligten Familien und deren Kinder, aber auch die Elternbegleiter*innen selbst würden dadurch in ihren Kompetenzen gestärkt. Die Eltern erlebten, dass ihre eigenen Lebenserfahrungen und ihre Erziehungskompetenz anerkannt werde und sie diese in die Förderung ihrer Kinder einbringen könnten. Eltern würden sich hier gleichzeitig als Teilnehmende und Mitgestaltende erleben. Das Programm verfolge einen Multiplikatorenansatz von Eltern für Eltern, statt Fachkräfte „von außen“ einzusetzen. Zudem würden die Elternbegleiter*innen durch die Qualifizierung Fachkompetenzen erlangen und sich für den ersten Arbeitsmarkt qualifizieren. Die Stärkung der Sprachbildung, insbesondere durch das mehrsprachige Angebot, stärke dabei die Familiensprache und verhelfe zur einer Anregung zur Spracherziehung.

Ein weiterer Leitgedanke sei, dass der partizipative Ansatz auf allen Ebenen Wirksamkeit entfalte: Die Eltern hätten Mitsprache und Gestaltungsspielraum in der Angebotsentwicklung. Die Familienbegleiter*innen würden als Akteure im Gemeinwesen wahrgenommen. Pädagogische Fachkräfte und Bildungsinstitutionen würden von der Wechselseitigkeit profitieren und sich hinsichtlich einer effektiveren Unterstützungsleistung weiterentwickeln. Für die Umsetzung des partizipativen Ansatzes sei das Projekt auf Offenheit und Flexibilität der Bildungseinrichtungen angewiesen. Es brauche eine hohe (Kultur-)Sensibilität sowie eine Bedarfsorientierung für die Erreichbarkeit der Familien und die Annahme der Angebote. Hervorgehoben wurde, dass generell eine stärkere Diversitätsorientierung der Bildungseinrichtungen notwendig sei, um Familien besser anzusprechen. Die Bildungseinrichtungen müssten sich stärker auf Mehrsprachigkeit und Vielfalt der Familien einstellen und diese als Ressource begreifen. Die Kultursensibilität sei insbesondere in der aufsuchenden Arbeit erforderlich. Programme wie „Griffbereit“ und „Rucksack-Kita“ seien grundsätzlich auf „Komm-Strukturen“ ausgelegt, könnten hier jedoch auch für „Geh-Strukturen“ einen Beitrag leisten: eine Hauskultur verändere sich, wenn dort regelmäßig mehrsprachige Familien teilnehmen würden.

Als herausfordernd für die Umsetzung des Programms wurden die sehr sprachheterogenen Gruppen sowie eine eingeschränkte Mobilität in den Flächenländern beschrieben. Letztlich sei auch eine Lebensweltorientierung nur realisierbar, wenn die Organisationsentwicklung personell und strukturell entsprechend aufgestellt sei. Britta Kreuzer hob hervor, dass sich in der Durchführung von derartigen Projekten stets folgende Fragen stellten:  Worum geht es in den Familien? Wie werden sie erreicht? Wo ist Beteiligung möglich? Welche Rahmenbedingungen gibt es?

Wünschenswert sei, dass die Programme langfristig wirken können. Dazu gehöre auch eine entsprechende Finanzierung. Statt als Einjahresprojekt über ein Bundes- oder Landesprogramm sei über die Anschubfinanzierung hinaus eine dauerhafte Finanzierung, zum Beispiel über kommunale Mittel notwendig. Dies sei auch gut begründbar, schließlich böten derartige Projekte für Kommunen einen vielfältigen Mehrwert. Positiv sei beispielsweise die Qualifizierung der Elternbegleiter*innen für den ersten Arbeitsmarkt, woraus sich für die Personen neue Zukunftsperspektiven ergeben würden. Für die Projekte hätte dies jedoch den praktischen Nachteil, dass qualifizierte Elternbegleiter*innen für das Projekt verloren gingen. Eine bessere finanzielle Entschädigung der Elternbegleiter*innen könnte dem entgegenwirken. Letztlich wurde herausgestellt, dass die Erreichbarkeit der Familien auch in diesem Programm auf dem Aufbau eines funktionierenden Netzwerkes angewiesen sei. Die Ansprache von Eltern erfolge in den Projekten vielfach über Mund-zu–Mund-Propaganda. Die Netzwerke müssten jedoch zunächst aufgebaut werden, wenn sie nicht ohnehin bereits vorhanden seien; Kinderärzte, Hebammen und Gynäkolog*innen sowie Stadtteilzentren, Familienzentren und aufsuchende Arbeit müssten dabei miteinbezogen werden.

 

2. „Powersharing in der Praxis“

Elizaveta Khan (In-Haus | Integrationshaus e.V.)Wie die eigene Werthaltung die Praxis konkret beeinflussen kann, zeigte Elizaveta Khan vom In-Haus | Integrationshaus e.V. in Köln. Das In-Haus ist interkulturelles Zentrum der Stadt Köln, Träger der freien Jugendhilfe und Integrationskursträger. Mit vielen Beispielen aus ihrer täglichen Arbeit stellte Elizaveta Khan im Workshop die im Integrationshaus gelebte Idee des Powersharings vor. Dabei wurden die Workshop-Teilnehmenden angeregt, die vorgestellten theoretischen Überlegungen in ihre jeweiligen persönlichen Tätigkeitsfelder zu übertragen.

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Jede Ebene von Unterstützungsstruktur habe, so Khan, Macht in Form von Ressourcen, Zugängen, Mitteln und Räumen, die mit gesellschaftlich minorisierten Individuen und Gruppen geteilt werden könnten. Eine „Poweranalyse“ frage im ersten Schritt nach den Möglichkeiten und Spielräumen von Individuen und Institutionen, die eigene „Power“ (dazu gehören z.B. Handlungsmacht, Definitionsmacht, Spielräume, Möglichkeiten, Privilegien) zu erkennen und zu reflektieren. Im zweiten Schritt setze das „Powersharing“ die Erkenntnisse in die Praxis um. Damit bilde „Powersharing“ das unterstützende Gegenstück zum „Empowerment“, welches die Selbst-Ermächtigung von minorisierten Gruppen und Individuen bezeichne.

Die Förderung von Resilienz sei, so Elizaveta Khan, eines der ausgewiesenen Ziele sozialer Arbeit. Da sich Resilienz aus internen und externen Ressourcen ausbilde, müsse sich Soziale Arbeit vor allem auf die gerechte Verteilung von und dem Zugang zu Ressourcen fokussieren. Dazu gehöre zum Beispiel das Bereitstellen von Räumen, Mitteln oder auch juristischer Trägerschaft bei gleichzeitiger Abgabe von Entscheidungsmacht. An dieser Stelle bezog sich Khan auf das Neun-Stufen-Modell der Partizipation nach Roger Hart (1992) und Wolfgang Gernert (1993), das Entscheidungsmacht als höchste Form der Partizipation ausweist. Das Modell könne Unterstützungsgebenden als „Selbstcheck“ dienen, inwiefern die eigenen Angebote tatsächlich partizipativ gestaltet seien.

Neun-Stufen-Modell der Partizipation nach Roger Hart (1992) und Wolfgang Gernert (1993)

Neun-Stufen-Modell der Partizipation nach Roger Hart (1992) und Wolfgang Gernert (1993).  Quelle: Präsentation Elizaveta Khan.

Problematisch sei, so Elizaveta Khan, dass die derzeitigen Rahmenbedingungen echte Partizipation oft verhinderten – so müssten zum Beispiel in Förderanträgen Zielgruppen problematisiert und eine ressourcenorientierte Beschreibung vermieden werden, um erfolgreich zu sein: „Wenn die Familien wissen würden, wie wir in den Projektanträgen über sie schreiben, würden sie nicht mehr kommen“, so Elizaveta Khan. Auch benötigten partizipative Prozesse Zeit und Ergebnisoffenheit, was mit der Realität von Bewilligungszeiträumen und Projektvorgaben in Konflikt stünde.

Elizaveta Khan regte die Workshop-Teilnehmer*innen mit folgenden Fragen an, im eigenen Einflussbereich „Powersharing“ umzusetzen: „Was kann ich/meine Institution teilen?“ und „Wo stehen die Angebote meiner Institution im Neun-Stufen-Modell und wie könnte ich die nächste Stufe der Partizipation erreichen?“. Es gehe um einen gemeinsamen Lernprozess, der fortwährend diese Fragen stellt und Unterstützungsgebende ausbildet, die gut und aktiv Zuhören.

Abschlussdiskussion & Ausblick

Elena Gußmann, BFFElena Gußmann verabschiedete die Runde mit einer Zusammenfassung der wichtigsten Diskussionspunkte, die zugleich einen Ausblick auf die folgenden Fachforen darstellten: Es habe sich gezeigt, dass partizipative Ansätze und eine selbstkritische Auseinandersetzung mit eigenen Werthaltungen Voraussetzung für gelingende Familienunterstützung seien. Benannt wurde der Bedarf, Partizipationsmöglichkeiten nicht nur auf der Ebene der Fachkräfte im Blick zu haben. Auch auf der Verbands- und Leitungsebene sollten sich eine wertschätzende Haltung und Einflussnahme auf die Gestaltung von Rahmenbedingungen widerspiegeln. Welche finanziellen und strukturellen Veränderungen dafür notwendig seien, werde in folgenden Veranstaltungen der Themenperiode diskutiert.

Fotos: Holger Adolph, AGF

Impulsworkshop am 28. Juni 2022: „Empowerment als Leit- & Zielperspektive in der Familienunterstützung“

Berlin, 28.06.2022 | Das Bundesforum Familie hat sich für die Themenperiode 2022/23 die Frage zum Ziel gesetzt: Wie können Familien nicht nur gut betreut oder versorgt, sondern nachhaltig gestärkt und befähigt werden? Welche Haltungen, Strukturen und Ressourcen werden dafür in den Angeboten der Familienunterstützung benötigt? In diesem Zusammenhang ist häufig von „Empowerment“ die Rede. Doch was verbirgt sich hinter diesem Begriff? Zu dieser Frage diskutierten über 50 Teilnehmende aus den Mitgliedsorganisationen des Bundesforums Familie mit der Referentin Yasmine Chehata.

Bei der Kick-Off-Veranstaltung am 22. März 2022 war bereits eine erste Strukturierung der aktuellen Themenperiode erarbeitet worden. Der Beirat hatte in diesem Zusammenhang angeregt, dass für die nachfolgende Bearbeitung ein gemeinsamer Austausch zum Empowerment-Begriff grundlegend und zielführend sei. Dementsprechend lud die Geschäftsstelle die Mitgliedsorganisationen des Bundesforums Familie zu einem Impulsworkshop am 28. Juni 2022 mit Yasmine Chehata (TH Köln, Herausgeberin des Sammelbandes „Empowerment und Powersharing“ [2020]) ein.

Was ist Empowerment (nicht)?

Yasmine Chehata startete ihren Impulsvortag mit der Betonung ihrer Perspektive: Sie beziehe sich vor allem auf rassismuskritische Diskurse. Aus dieser Sicht ergebe sich die Notwendigkeit, auf die ursprüngliche Intention des Konzepts aufmerksam zu machen, wenn der Empowerment-Begriff übernommen werde. So sei das planmäßige Einwirken auf Andere kein Empowerment im eigentlichen Sinne. Empowerment sei weder eine vermittelbare Kompetenz noch ein in Methode umsetzbares Wissen. Aus ihrer Sicht sei es eine Verwechslung, Empowerment als Instrument zu verstehen, um Menschen in den bestehenden Verhältnissen anzuleiten und damit zu stärken. Stattdessen bezeichne der Empowerment-Ansatz, dass Menschen sich selbst stärkten, um bestehende Verhältnisse zu verändern. Dementsprechend verkenne die Nutzung des Empowerment-Begriffs durch z.B. staatlich institutionalisierte und/oder professionalisierte Akteure diese Idee von Selbstermächtigung und angestrebter struktureller Veränderung.

Yasmine Chehata betonte die Ursprünge des Begriffs in der Schwarzen Bürger*innenrechtsbewegung. Zwar habe sich seitdem der Begriff in seiner Nutzung und Ausprägung stark verändert, die Zielrichtung sei aus ihrer Sicht jedoch nach wie vor eine Veränderung der gesellschaftlichen sozialen und ökonomischen Verhältnisse. Dies sei unmittelbar verbunden mit Konfliktivität. Empowerment, so Chehata, sei daher kein friedliches Konzept. Es gehe nicht um individuelles Bewältigen von Benachteiligungen, sondern um kollektive Öffnung und Aneignung von Berechtigungsräumen. Diesen Zielhorizont definiere eine minorisierte Community selbst. Inwieweit also Empowerment als Leit- und Zielperspektive in der Familienunterstützung durch professionelle und/oder institutionalisierte Akteure sinnvoll sei, sei mindestens fraglich. Es müsse hinterfragt werden, mit welcher Absicht hier der Empowerment-Begriff genutzt werde.

Powersharing und Handlungsmöglichkeiten professionalisierter staatlicher Akteure

Yasmine Chehata betonte, dass wenn Empowerment im ursprünglichen Verständnis genutzt würde, ein „Empowern“ von Anderen unmöglich wäre. Empowerment sei daher nicht die Aufgabe professionalisierter bzw. staatlicher Institutionen. Sie schlug als Kompromissformulierung vor, dass diese jedoch „empowermentorientiert“ handeln könnten. Dies bedeute, Empowermentpraktiken zu flankieren und durch Abgabe von Ressourcen, Macht und Raum Platz für Empowermentprozesse zu schaffen. Es gelte, auf diese Weise an langfristigen Veränderungen mitzuwirken oder diese zumindest nicht zu stören. In diesem Zusammenhang stellte Yasmine Chehata den Begriff des Powersharings vor. Damit würden Praktiken bezeichnet, die das Teilen von Zugängen, Möglichkeiten und Positionen anstrebten und so Macht von den privilegierten Institutionen auf die marginalisierten Gruppen umverteilten. Powersharing sei somit empowermentorientiertes Handeln, das strukturell privilegierte Akteure zu Verbündeten werden lasse. Yasmine Chehata schlug vor, das Erkennen von Veränderungserfordernissen und die Beschäftigung mit dem Eigenen in den Mittelpunkt im Rahmen der Themenperiode stattfindenden Reflexion zu stellen. Eine kritische Auseinandersetzung solle vor allem die eigenen Normalitäten hinterfragen anstatt die Werte der sogenannten „Anderen“. Statt also beispielsweise die Werte der Unterstützungsnehmenden zu hinterfragen gelte es, die Werthaltungen innerhalb der Unterstützungsstrukturen auf den kritischen Prüfstand zu stellen.

Behutsame Verstehensprozesse

In einem anschließenden Kommentar verwies Beiratsmitglied Prof. Dr. Paul Mecheril auf die unterschiedlichen Wissensebenen im Raum. So sei sowohl die akademische wie auch die lebensweltliche Ebene anwesend und Wissen und Erfahrungen dementsprechend unterschiedlich verteilt. Gerade daher sei es wichtig, behutsam und mit genügend Zeit über dieses Thema zu reden, um gemeinsam zu reflektieren und zu verstehen. Organisationen und Institutionen hätten verständlicherweise die Sehnsucht, ihre Arbeit als „gute“ Arbeit zu legitimieren. Diese Legitimation sei mit einem Empowerment-Ansatz, wie ihn Yasmine Chehata vorgestellt habe, nicht zu bekommen. In dem Sinne gebe es keine gute, d.h. „empowernde“ Institution in einem ungerechten System. Der Begriff Empowerment könne daher bestenfalls als Reflexionsinstrument dienen, um zu untersuchen, ob nicht auch unter der Überschrift „Empowerment“ strukturelle Benachteiligungen reproduziert würden. Diese Frage gelte es auszuhalten.

Diskussion

Die Impulse regten eine lebendige Diskussion unter den Teilnehmenden an. Grundtenor zahlreicher Wortmeldungen war ein gesteigertes Interesse an dem Ansatz des Powersharings, gleichsam wurde mehrfach auf die Problematik hingewiesen, dass der Input durch die akademische Sprache nur schwer zugänglich gewesen sei. Es bestehe großes Interesse an der Thematik in leichterer oder leichter Sprache für die Diskussionsteilnehmenden selbst, aber auch, um über die Veranstaltung hinaus möglichst viele Menschen auf dem Weg dieser Reflexion mitzunehmen.

Hervorgehoben wurde außerdem die Diversität der Organisationen im Bundesforum Familie. Hier seien sowohl sozialstaatliche Akteure als auch Selbstvertretungen anwesend und zusammen im Dialog. Die Stärke des Bundesforums sei, dass hier ergebnisoffen und in Anerkennung unterschiedlicher Perspektiven diskutiert würde. Es wurde nachgedacht, inwiefern das Bundesforum als Plattform noch attraktiver für selbstorganisierte Akteure marginalisierter Familien werden könne oder solle.

Ein vieldiskutierter Aspekt beleuchtete das Problem einiger Verbände und Organisationen, zugleich diskriminierte und diskriminierende Struktur zu sein. So liefen teilweise auch Selbstvertretungen benachteiligter Gruppen in ihren eigenen Strukturen Gefahr z.B. klassistische oder rassistische Ausschlüsse zu (re-)produzieren. Es gelte, sich jeweils zugleich selbstbehauptend und selbstkritisch zu bewegen. Konkurrenz oder Hierarchisierung unter verschiedenen benachteiligten Familien sei nicht zielführend. Zusammenarbeit und die Anerkennung anderer Akteure sei hier ein wichtiges Ziel, so einige Stimmen der Diskussionsrunde.

Diskutiert wurden auch pragmatische Möglichkeiten der Umsetzung. Was tun, wenn „von außen“ nicht empowert werden könne, die Gelder jedoch „von außen“ kämen? Wie sähe eine sinnvolle Förderung und Stärkung von Familien ohne Einmischung in der Praxis aus? Wie ließe diese sich organisieren?

Fazit und Anregungen zur weiteren Themenbearbeitung

Dr. Laura Block verabschiedete die Runde mit einem kleinen Fazit. Die Intention der Veranstaltung sei mitunter gewesen, eine selbstkritische Reflexion für die Arbeit mit und für Familien anzustoßen und Denkimpulse zu setzen. Dies sei in jedem Fall erreicht worden. Eine Zusammenfassung der Diskussion als Grundlage für die weitere Bearbeitung scheine ausgehend von der Vielzahl der Perspektiven und Wortmeldungen zwar schwierig, aber einige Punkte hätten sich deutlich gezeigt: 1. Es bestehe großes Interesse an einer sprachlich niedrigschwelligeren Vermittlung der dargestellten Konzepte von Empowerment und Powersharing. 2. Es brauche auch im Weiteren eine selbstkritische Auseinandersetzung mit den eigenen Strukturen, um Schwachstellen in der Familienunterstützung zu erkennen. 3. Familienunterstützung müsse, um nachhaltig zu sein, die Familien nicht nur innerhalb des Systems stärken, sondern auch verbesserte Bedingungen, d.h. strukturelle Veränderungen des Systems zum Ziel haben. Bei diesen Prozessen gelte es im Sinne des Powersharing-Ansatzes, benachteiligten Familien sowie entsprechenden Selbstorganisationen mehr (Gestaltungs-)raum zu erschließen.

Kick-Off-Veranstaltung am 22. März 2022: „Empowerment durch Unterstützungsstrukturen – Zugänge schaffen und Familien stärken“

Berlin, 22.03.2022 | Wie können Familien nachhaltig gestärkt werden? Wie erreicht Unterstützung die Familien, die sie brauchen? Und welche impliziten Annahmen stecken bereits in der Formulierung „Familien, die sie brauchen“? Was für normative, strukturelle und finanzielle Faktoren spielen eine Rolle bei der Gestaltung und Umsetzung von Unterstützungsangeboten? Zu diesen Fragen kamen die Mitglieder des Bundesforums Familie zur Auftaktveranstaltung der Themenperiode 2022/23 zusammen.

Begrüßung und Einleitung

Dr. Laura Block begrüßte die große Runde von über 50 Teilnehmenden aus den Mitgliedsorganisationen, die sich im digitalen Raum eingefunden hatte. Das rege Interesse bestätige die hohe Relevanz des im November 2021 auf dem Netzwerktreffen des Bundesforums Familie gewählten Themas für die Arbeit der Mitgliedsorganisationen. Die Kick-Off-Veranstaltung setze sich das Ziel, gemeinsam das Thema in seinen Aspekten zu diskutieren und aus den vielseitigen Beiträgen eine Grundlage für die weitere Bearbeitung in der Themenperiode zu schaffen. Der Beirat des Bundesforums Familie habe dazu im Vorfeld bereits einen Zugang erarbeitet, der heute vorgestellt und weiterentwickelt werden solle.

Ulrike Bahr, MdB (Vorsitzende des Familienausschusses des Deutschen Bundestags und Mitglied des BFF-Beirats) betonte in einem Grußwort die Wichtigkeit von Stabilität und Resilienz gerade in den aktuellen krisenhaften Zeiten. Dafür spiele die Stärkung von Familien eine wichtige Rolle. Die Verzahnung von Politik und zivilgesellschaftlichen Akteuren und die Zusammenarbeit mit der Wissenschaft sei dabei unabdingbar – sie wolle mit ihrer frisch aufgenommenen Beiratstätigkeit im Bundesforum Familie hierfür einen Beitrag leisten. So werde sie die Ergebnisse des Bundesforums Familie gerne an die Mitglieder des Familienausschusses weiterleiten – wie die eben erschienene Publikation „Platz für Familie“ der Themenperiode 2020/21.

Einführung: Ergebnisse des 9. Familienberichts zum Themenfeld Unterstützungsstrukturen

Titelbild der Präsentation von Dagmar Müller (DJI)

Präsentation von Dagmar Müller zum Download

Um dem Anspruch einer engen Zusammenarbeit mit der Wissenschaft gerecht zu werden und der Diskussion einen inhaltlichen Einstieg zu bieten, stellte Dagmar Müller vom Deutschen Jugendinstitut (DJI) die für das Thema Unterstützungsstrukturen relevanten Ergebnisse des Neunten Familienberichts vor. Als drei Kerndiagnosen der Sachverständigen-kommission seien der steigende Anspruch an Elternschaft, die zunehmende Diversität von Familien und die wachsende soziale Ungleichheit zu nennen. Diese Gemengelage sei deswegen problematisch, da die Intensivierung von Elternschaft vor dem Hintergrund ungleicher sozioökonomischen Voraussetzungen zu einer vermehrten psychosozialen Belastung in vielen Familienzusammenhängen führe. Hier gelte es zu entlasten: Die Empfehlung der Kommission ziele vor allem auf die Gewährleistung wirtschaftlicher Absicherung von Familien, aber auch auf Verbesserungen bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf und Anreize beim Elterngeld. Dagmar Müller betonte die Bedeutung der Befähigung durch Familienbildung und -beratung und der Weiterentwicklung der Hilfen zur Erziehung. Hierbei müsse das Präventionsdilemma berücksichtigt und entsprechend gegengesteuert werden, etwa durch die (Um-)Gestaltung der Zugänge und Settings von Unterstützungsangeboten. Der Familienbericht zeige, dass sowohl digitale Angebote als auch offene Angebote wie Familiencafés und Familienzentren hier einen wichtigen Beitrag leisteten. Allerdings gebe es auch Lücken: Beratungen in Trennungssituationen, bei der Nutzung digitaler Medien und Angebote für die Phase der Pubertät gebe es zu wenig und Väter würden immer noch schwer erreicht. Zudem müsse der Ausbau von Präventionsketten verstärkt werden.

Diskussion zur weiteren Themenbearbeitung

Die Ergebnisse des Familienberichts zeigten, dass das Thema „Empowerment durch Unterstützungsstrukturen“ einen Nerv treffe, so Sandra Clauß (Bundesarbeitsgemeinschaft Landesjugendämter und Mitglied des BFF-Beirats). Wie kann dieses sehr komplexe Thema gewinnbringend eingegrenzt und durch das Bundesforum Familie bearbeitet werden? Sandra Clauß stellte dafür einen Vorschlag für einen Zugang vor, der im Nachgang zum Netzwerktreffen am 22.11.2021 durch den Beirat erarbeitet worden war. Bestimmend seien darin die Wahrnehmung von Ambivalenzen im System der Familienunterstützung. Diese sollten mit selbstkritischem Blick reflektiert werden. Es gehe etwa darum, Stigmatisierungen in den Unterstützungsangeboten offenzulegen, beispielsweise durch die Frage, mit welchem Bild von Armut gearbeitet werde. Diese reflektierende Perspektive böte sich speziell nach der akuten Erfahrung der COVID-19-Pandemie an. Nach diesem „Stresstest“ der Strukturen brauche es jetzt ein Innehalten mit der Frage, was eine nachhaltig stärkende Unterstützung für Familien behindert und was sie gelingen lässt.

Mit diesen Leitfragen wurden die Teilnehmenden in kleinere Break-Out-Gruppen eingeladen. In einer ersten Phase diskutierten die Kleingruppen „Hürden, Barrieren und Restriktionen“, die gelingenden Unterstützungsstrukturen im Weg stehen. In einer zweiten Phase wurde nach „Wegen, Brücken und Spielräumen“ gefragt, die Familien stärken könnten. Nach jeder Phase wurden die Teilnehmenden eingeladen, ihre individuellen Ergebnisse schriftlich festzuhalten und über ein Umfrage-Tool der Geschäftsstelle des Bundesforums zukommen zu lassen.

Schlagwortwolke "Unterstützungsstrukturen"

Ausblick

Die reichhaltigen Rückmeldungen aus den Kleingruppen werden nun durch die Geschäftsstelle strukturiert und ausgewertet und daraus in enger Absprache mit dem Beirat ein Fahrplan für die inhaltliche Bearbeitung erstellt. Voraussichtlich wird die weitere Arbeit zunächst in Ad-Hoc-AGs stattfinden, die durch die Mitglieder des Bundesforums gestaltet werden. Zur konkreten Mitarbeit in diesen AGs werden die Mitglieder zeitnah eingeladen. Im Oktober 2022 wird das diesjährige Netzwerktreffen geplant, welches hoffentlich wieder als Präsenzveranstaltung in Berlin stattfinden wird. Sobald der definitive Termin feststeht, wird er an alle Mitgliedsorganisationen kommuniziert werden.

 

 

„Platz für Familie“ an Vorsitzende des Familienausschusses übergeben

Berlin, 23. März 2022 | Der Geschäftsführer der AGF, Sven Iversen, hat am 23. März die kürzlich erschienene Abschlusspublikation „Platz für Familie. Familie, Wohnen und kommunale Infrastruktur“ an die Vorsitzende des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend des Deutschen Bundestags, Ulrike Bahr, MdB, übergeben. Frau Bahr, die seit ihrer Übernahme des Ausschussvorsitzes auch Mitglied im Beirat des Bundesforum Familie ist, nahm gleich einen ganzen Klassensatz entgegen, um jedem der 38 Mitglieder des Familienausschusses ein Exemplar der Publikation weiterzureichen. So werden den politischen Entscheidungsträger:innen die Ergebnisse des zweijährigen Diskussionsprozesses an die Hand gegeben, welche unterstreichen, dass Familie eine viel zentralere Rolle in einer nachhaltigen und zukunftsgerichteten Wohnungs- und Stadtentwicklungspolitik einnehmen muss.

Foto: Büro Bahr (Dr. Ruth Vornefeld)

Druckexemplare der Publikation können weiterhin unter info@bundesforum-familie.de bestellt werden.

Publikation „Platz für Familie – Familie, Wohnen und kommunale Infrastruktur“ der Themenperiode 2020/21 erschienen

Das Bundesforum Familie hat in einem intensiven Diskussionsprozess 2020-2021 den Themenschwerpunkt „Familie, Wohnen und kommunale Infrastruktur“ bearbeitet. In einer Serie von Fachforen brachten die Mitgliedsorganisationen ihre unterschiedlichen Perspektiven auf Wohnen und Familie ein. Die nun vorliegende Publikation „Platz für Familie – Familie, Wohnen und kommunale Infrastruktur“ fasst diesen Prozess und seine Ergebnisse zusammen.

Familie muss eine viel zentralere Rolle in der Wohnungspolitik einnehmen: Die beteiligten Organisationen erkennen die herausragende Rolle von Wohnbedingungen und Wohnumfeld für die Sozialisationsleistungen von Familien und die Notwendigkeit der Entwicklung von familiengerechtem Wohnraum. Hinsichtlich aktueller Entwicklungen immer knapper werdenden Wohnraums sind es gerade Familien, die auf dem Wohnungsmarkt vor besonderen Herausforderungen stehen – insbesondere z.B. Einelternfamilien, Mehrkindfamilien, Familien mit behinderten Mitgliedern sowie von Armut oder Rassismus betroffene Familien.

In der Publikation werden mehrere Themen vertieft:

  • Familiengerechte Wohnpolitik als Aufgabe für Staat und Gesellschaft: Die Bedarfe von Familien müssen verstärkt Teil der Wohnraumdebatte sein, sei es im Neubau, in der Mietenpolitik oder im Eigentumserwerb. Es braucht politische Rahmenbedingungen, um einen familiengerechten Wohnungsmarkt zu etablieren. Familiengerechtigkeit muss in Beständen, Bau und Infrastruktur berücksichtigt und Diskriminierungen auf dem Wohnungsmarkt verhindert werden.
  • Beteiligung an kommunaler Infrastruktur: Um gute Strukturen für Familien in ihren Quartieren bzw. Kommunen zu etablieren, ist eine Vielzahl von Gelingensbedingungen notwendig. Es gilt, Familien als Expert*innen ihrer Lebensräume zu erkennen und ihre Bedarfe in die Angebotsplanung einzubeziehen. Um Beteiligung zu ermöglichen, braucht es Mittel, die kon­junkturunabhängig zur Verfügung stehen sowie die langfristige Förderung personeller Ressourcen.
  • Wohnungslosigkeit von Familien: Nicht nur in Deutschland, sondern auch europaweit steigen die Zahlen wohnungsloser Familien. Hier sind dringend präventive statt kurative Maßnahmen nötig, um das Phänomen nachhaltig anzugehen. Versteckte Wohnungslosigkeit muss besser erfasst werden, so dass eine zügige Vermittlung in normale Wohnverhältnisse statt langer Aufenthalte in Sonder­wohnformen gewährleistet werden kann.
  • Gemeinschaftliches Wohnen für Familien: Das Wissen über gemeinschaftliche Wohnformen kann für die Familienpolitik fruchtbare Erkenntnisse liefern. Gemeinschaftliches Wohnen für Familien bietet ein beachtliches Anpassungspotential an familienbiographische Umbrüche und schafft Ressourcen, die auf das umliegende Quartier und die Gesamtgesellschaft ausstrahlen.

Wir freuen uns über die Verbreitung der Publikation. Diese kann hier abgerufen werden. Für Druckexemplare wenden Sie sich an die Geschäftsstelle des Bundesforums Familie.

 

Netzwerktreffen am 22. November 2021: Abschluss der Themenperiode „Familie, Wohnen und Kommunale Infrastruktur“, Beiratswahl und Wahl des Schwerpunktthemas 2022/23

Berlin, 22.11.2021 | Über 40 Teilnehmende aus den Mitgliedsorganisationen des Bundesforums Familie kamen am 22. November 2021 im Festsaal der Stadtmission am Hauptbahnhof zusammen. Inhalt des Netzwerktreffens war der Abschluss der Themenperiode 2020/21 sowie die Wahl des Schwerpunktthemas für 2022/23 und die Wahl eines neuen Beirats.

Wrap-Up der Themenperiode „Familie, Wohnen und Kommunale Infrastruktur“

Laura Block eröffnete den Rückblick und resümierte, dass sich in der vergangenen Themenperiode deutlich gezeigt habe, von wie großer und vielschichtiger Relevanz die Wohnungsfrage für familiäre Lebenswelten sei. Leider würde dies von politischer Seite zu oft nicht als Familienthema wahrgenommen werden. Im Laufe der Themenperiode konnte das Bundesforum Familie mit verschiedensten Veranstaltungsformaten zu einem fruchtbaren fachlichen Austausch zur Identifikation von Handlungsschwerpunkten sowie Lösungsansätzen beitragen. Die Ergebnisse des zweijährigen, gemeinsam gestalteten Prozesses würden Anfang des nächsten Jahres Form einer Publikation veröffentlicht und an alle Mitgliedsorganisationen verschickt werden.

„Was sind die drängendsten Zukunftsfragen für Familien in Bezug auf Wohnen & kommunale Infrastruktur?“ Diese zukunftsgewandte Frage wurde nun als Eisbrecher in einer kleinen Podiumsrunde an Ulrike Gebelein (Diakonie Deutschland), Silke Raab (DGB Bundesvorstand), Lisa Sommer (Zukunftsforum Familie) und Dörthe Gatermann (Deutscher Verein) gestellt.

Ulrike Gebelein nannte in ihrer Antwort drei dringende Aspekte: Erstens sei es von immenser Wichtigkeit, dafür zu sorgen, dass der Anteil der Wohnkosten am verfügbaren Haushaltseinkommen nicht weiter eskaliere. Dieses Problem betreffe Familien insbesondere im Niedriglohnsektor, aber zunehmend auch im Mittelstand, hier vor allem Mehrkindfamilien und Alleinerziehende. Als zweites betonte Gebelein, dass man den ländlichen Raum dringend im Blick behalten müsse. Allzu oft beschränke sich die Wohnungsfrage und ihre Lösungsansätze auf die Ballungsräume. Eine dritte Entwicklung, die weiterhin bearbeitet werden müsse, sei die steigende Gefahr, als Familie wohnungslos zu werden. Lisa Sommer schloss sich ihrer Vorrednerin an und betonte, dass Wohnen als existentielles Grundbedürfnis immer schwerer zugänglich sei. Neben der finanziellen Lage von Familien sei es die sozialräumliche Trennung, mit der eine Vielfalt von Benachteiligungen einhergehe. Es brauche effektive Wege, Folgen der sozialen Segregation abzubauen, etwa durch Bildungs- und Betreuungsprogramme. Silke Raab betonte die Wichtigkeit des Themas aus gewerkschaftlicher Sicht. Arbeitszeitverkürzungen und Lohnerhöhungen seien für Arbeitnehmer*innen kein Gewinn, wenn das Mehr an Zeit in Pendelzeit und der höhere Lohn in Miete und Pendelkosten fließen würden. Es brauche dringend bessere gesetzliche Rahmenbedingungen, um bezahlbaren Wohnraum in Arbeitsplatznähe zu ermöglichen. Der letzte Impuls aus den Mitgliedsorganisationen war ein Statement von Dörthe Gatermann; sie betonte darin die Wichtigkeit von niedrigschwellig erreichbaren Beratungsangeboten auf kommunaler Ebene (z.B. Familienbüros). Diese würden als „freiwillige“ Leistungen der Kommunen oft zu kurz kommen. Der Deutsche Verein setze sich daher als Arbeitsvorhaben für 2022 thematisch die Förderung und Verstetigung von Angebotsstrukturen, wobei Gatermann insbesondere auf die Fachtagung des Deutschen Vereins im kommenden Jahr verwies.

Anschließend an die Inputs wurden in einer Diskussion im Plenum weiterführende Aspekte und Fragen thematisiert, darunter: Quartiersentwicklung, Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt, innovative und gemeinschaftliche Wohnkonzepte, Infrastruktur vor Ort, Wohnungsgemeinnützigkeit und Gewinnbeschränkung. Die Wohnungsfrage und der Ausbau kommunaler Infrastruktur für Familien werde, so die Einschätzung in der Runde, mittlerweile zunehmend als drängendes Thema erkannt, nun gehe es aber um die politische Gestaltung von Lösungen. Auch diesbezüglich werde der Koalitionsvertrag mit Spannung erwartet. Die bald erscheinende Publikation zur Themenperiode könne, so Laura Block, den Mitgliedsorganisationen als Informations- und Argumentationsgrundlage für die weitere eigene Arbeit an dem Thema dienen.

 

Wahl des Beirats

Nächster wichtiger Punkt auf der Tagesordnung war die Wahl von fünf Personen aus den Reihen der Mitgliedsorganisationen in den Beirat des Bundesforums Familie. Der insgesamt zehnköpfige Beirat besteht neben diesen fünf Personen aus fünf weiteren durch die AGF berufenen Personen. Der Beirat begleitet die Arbeit des Bundesforums inhaltlich und methodisch und unterstützt die Rückkopplung der Arbeit in die Fachöffentlichkeit.

Von den 15 Kandidat*innen wurden gewählt: Sandra Clauß (Bundesarbeitsgemeinschaft Landesjugendämter), Anna Gerwinat (Bundesverband behinderter und chronisch kranker Eltern), Astrid Hollmann (dbb beamtenbund und tarifunion), Silke Raab (DGB Bundesvorstand) sowie Martin Rosowski (Männerarbeit der Evangelischen Kirche in Deutschland). Zusätzlich durch die AGF in den Beirat nominiert werden Prof. Dr. Donja Amirpur (Hochschule Niederrhein), Dr. Christina Boll (Deutsches Jugendinstitut), Prof. Dr. Paul Mecheril (Universität Bielefeld) sowie Dr. Thomas Metker (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend). Zudem ist ein Platz im Beirat für den Vorsitz des Familienausschusses des Deutschen Bundestages reserviert, der jedoch zu diesem Zeitpunkt noch nicht feststeht.

Laura Block gratulierte dem frisch gewählten Beirat und dankte den zahlreichen Kandidat*innen für ihr Interesse und ihre Bereitschaft, sich im Beirat einzubringen. Auch bedankte sich Laura Block im Namen des gesamten Bundesforums Familie sehr herzlich bei den scheidenden Beiratsmitgliedern für ihr langjähriges Engagement.

Wahl des Schwerpunktthemas für 2022/23

„Nach dem Thema ist vor dem Thema!“ – war das Motto des letzten Tagesordnungs-Punktes. Im Vorfeld waren 60 Themenvorschläge eingereicht worden. Diese Vielzahl durch den Beirat im Vorfeld des Netzwerktreffens auf folgende vier Bereiche zugespitzt: 1. „Zukunft der Sorgearbeit“, 2. „Elternschaft 2030? Zukunft der Familie. Rechtliche und soziale Aspekte neuer Familienkonstellationen“, 3. „Konflikte, Gewalt und Schutz in Familien“ und 4. „Empowerment durch Unterstützungsstrukturen: Zugänge schaffen und Familien stärken“.

Die jeweiligen Vorschläge wurden in Kleingruppen von Themenpat*innen aus den Mitgliedsorganisationen vorgestellt und im Rundlauf diskutiert. Die anschließende Wahl fiel mit deutlicher Mehrheit auf das Thema: „Empowerment durch Unterstützungsstrukturen: Zugänge schaffen und Familien stärken.“ Hervorgehoben wurde, dass der Zugang zu materiellen und sozialen Ressourcen in Deutschland nach wie vor ungerecht verteilt ist. So haben unter anderem Familien mit niedrigen Einkommen keine gleichen Chancen auf Teilhabe an Bildung, Wohnraum oder Gesundheit. Mit diesem Schwerpunkt werden auch Themen aufgegriffen, die bereits in der Themenperiode „Familie und Inklusion“ (2013-2015) angesprochen wurden, als das Bundesforum unterschiedliche Formen der Exklusion von Familien identifizierte. In den nächsten zwei Jahren werden vor allem Unterstützungsmöglichkeiten in der Erziehungs- und Bildungsarbeit angesprochen, die gerade belastete Familien adressieren, jedoch oft unbekannt oder zu wenig zugänglich sind: Wie werden Eltern in die Lage versetzt, Unterstützungsmöglichkeiten in Anspruch zu nehmen? Wie werden Akteur*innen in Bildungs- und Betreuungsinstitutionen in die Lage versetzt, die Potenziale und Unterstützungsbedarfe von Eltern zu sehen und sie bei der Erziehung ihrer Kinder auf Augenhöhe zu unterstützen? Welche Rolle könnte dabei auch eine zunehmende Digitalisierung der Unterstützungsstrukturen spielen? Diese sowie weitere Fragen in dem Themenbereich hätten, so der Tenor der Diskussionsrunden, in der Pandemie weiter an Relevanz gewonnen und seien sowohl sehr praxisorientiert, als auch dazu geeignet, die Arbeit der Mitgliedsorganisationen zu reflektieren. Die Themenwahl greift damit auch die Handlungsempfehlung des Neunten Familienberichts auf, Eltern bei der Erziehungs- und Bildungsarbeit zu unterstützen.

Im nächsten Schritt werden die zahlreichen Anregungen aus der Diskussion dazu genutzt, in Abstimmung mit dem neuen Beirat einen spannenden Fahrplan für die neue Themenperiode zu entwerfen.

Fachforum „Gemeinschaftliches Wohnen für Familien – Zukunft des Zusammenlebens?“ am 11. Mai 2021

Berlin, 11.05.2021 | Etwa 45 Teilnehmende aus den Mitgliedsorganisationen des Bundesforums Familie kamen am 11. Mai 2021 digital zum dritten und letzten Fachforum der Themenperiode „Familie, Wohnen und kommunale Infrastruktur“ zusammen. Das Thema lautete: „Gemeinschaftliches Wohnen für Familien – Zukunft des Zusammenlebens?“

Einführend eröffnet wurde das Fachforum von konkreten Einblicken in die Lebensrealitäten von Familien in drei gemeinschaftlichen Wohnprojekten. Den Impulsvortrag hielt im Anschluss Dr. Martina Heitkötter (Deutsches Jugendinstitut) mit aktuellen Forschungsergebnissen zu Familien in gemeinschaftlichen Wohnprojekten. Im Anschluss gaben Expert*innen aus ihren Perspektiven Antworten auf die Frage: Welche Rahmenbedingungen fördern gemeinschaftliches Wohnen für Familien?

Gemeinschaftliches Wohnen in der Praxis: Berichte aus Baden-Württemberg, Brandenburg und Sachsen

Agnes Schuster berichtete von der Gemeinschaft Tempelhof, ein Ökodorf im ländlichen Baden-Württemberg, wo auf 30 ha Land 2010 ein basisdemokratisches und ökologisch nachhaltiges Wohnprojekt entstanden ist, in dem mittlerweile ca. 150 Personen (etwa 100 Erwachsene und 50 Kinder) gemeinschaftlich leben und arbeiten. Der großzügig vorhandene Raum in den Bestandsgebäuden bietet zahlreiche Möglichkeiten: Neben den Wohnflächen gibt es u.a. einen Waldkindergarten, eine freie weiterführende Schule, Seminarräume, Großküchen, Werkstätten, einen Hofladen und ein Café sowie eine Mehrzweckhalle mit Bühne, außerdem 26 ha Agrarland, welches von der Gemeinschaft bewirtschaftet wird. Die Gemeinschaft verfügt zudem über Bauland in Reserve. Agnes Schuster beschrieb, wie Mehrgenerationenwohnen und Gemeinschaft in Tempelhof funktioniere: jede*r Bewohner*in verfüge über ein Wohnrecht auf Lebenszeit, jedoch nicht über ein Anrecht auf bestimmte Räume. So könne sich das „Wohnkarussell“ in der Gemeinschaft drehen und neue bedarfsgerechte Lösungen mit Unterstützung anderer Menschen aus der Dorfgemeinschaft, die bereit sind, sich zu verändern, gefunden werden, wenn sich im Lebenslauf und durch familiäre Veränderungen, insbesondere durch Trennungen, andere Wohnbedürfnisse ergäben. Als Mehrgenerationenprojekt sei in letzter Zeit zudem des Öfteren das Thema „Heimathafen“ für junge Erwachsene aufgekommen: wenn junge Erwachsene das Elternhaus in Tempelhof verließen und die Eltern sich in dem Zuge räumlich verkleinerten, fehle ein Ort für die erwachsenen Kinder, an den sie für Besuche heimkehren könnten. Um dieses Problem anzugehen, hätte eine Gruppe von jungen Erwachsenen eine eigene Genossenschaft gegründet, um auf dem Gelände „Wohnboxen“ für Besuche zu errichten. Insgesamt sei die in Tempelhof praktizierte Konsenskultur, achtsame Kommunikation und eine Verpflichtung aller Bewohner:innen, in den sozialen Räumen präsent zu sein, für diese Prozesse sehr wichtig.

Danach gab Teena Ihmels Einblicke in das gemeinschaftliche Wohnprojekt Schöner Hausen in Leipzig, ein Komplex aus 4 Gründerzeitbauten, wo nach zwei Jahren selbstorganisierter und gemeinschaftlicher Sanierung seit 2017 80 Personen zwischen 0 und 65 Jahren leben. Die Häuser wurden von einer Stiftung erworben und der Projektgruppe über einen Erbbaurechtsvertrag zur Nutzung überlassen, außerdem ist das Projekt Teil des Mietshäusersyndikats. Ihmels hob hervor, dass die langfristige Wohnperspektive, der günstige Wohnraum, die geteilten Gemeinschaftsflächen sowie die Unterstützungsstrukturen in der Care-Arbeit, die sich im Kollektiv ergäben, große Anziehungskraft auf Familien hätten. Sie unterstrich, dass sehr viele Einelternfamilien Teil des Projekts seien, und es auch weiterhin viele Anfragen von Alleinerziehenden gebe, die besonders viel von der Gemeinschaft und der gegenseitigen Unterstützung profitierten. Sie berichtete außerdem, dass das Projekt mit teils sehr großen Gemeinschaftswohnungen mit vielen Kindern gestartet sei und es dann insgesamt eine Verkleinerungstendenz innerhalb der Wohneinheiten gegeben habe, da das Bedürfnis nach Rückzugsräumen gerade auch in der Gemeinschaft bedeutsam sei. Dennoch stünden offene Türen und Gemeinschaft nach wie vor im Fokus der Projektgruppe.

Das genossenschaftliche Wohnprojekt Uferwerk Werder in Nähe von Potsdam wurde von Dr. Wenke Wegner vorgestellt: hier leben seit 2017 ca. 100 Erwachsene und 65 Kinder in einem nachhaltigen Mehrgenerationenwohnprojekt auf einem Ufergrundstück. Wegner berichtete von vielen Vorteile des Wohnens im Uferwerk für Familien: das großzügige Außengelände mit vielen anderen Kindern böten eine abenteuerliche und dennoch sichere Spielumgebung, Kinder wüchsen mit vielfältige Bezugspersonen auf und erlernten im Projekt viele Kompetenzen, nach Trennungen könnten beide Elternteile durch Wohnungstausche vor Ort bleiben und die Gemeinschaft unterstütze sich gegenseitig in den Care-Aufgaben. Das Thema Care habe im Uferwerk eine besondere Relevanz, da es als explizites Mehrgenerationenprojekt viele ältere Bewohner*innen gebe. Teils fungierten diese als „Ersatz-Großeltern“, gleichzeitig würden die Unterstützungs- und Pflegebedarfe der älteren Uferwerk-Genoss*innen in den nächsten Jahren immer weiter zunehmen. Auch wies Wegner auf einige Herausforderungen hin, die es für Familien im Uferwerk gebe: so sei es sehr schwierig, mal als Familie „unter sich“ zu bleiben und man müsse sich intensiv mit den teils divergierenden Erziehungsstilen der anderen Familien auseinandersetzen, weil man so eng zusammenlebe. Auch käme es durchaus zu Interessenskonflikten in der Gemeinschaft, z.B. bzgl. der Nutzung des Außengeländes – diese Konflikte gelte es dann möglichst unter Einbeziehung aller Stimmen im Gruppenprozess zu lösen.

Impulsvortrag: Familien in gemeinschaftlichen Wohnformen – Unterstützungsnetzwerke und „atmende Lebensräume“

Dr. Martina Heitkötter (Deutsches Jugendinstitut) präsentierte in ihrem Impulsvortrag ausgewählte Ergebnisse des zweijährigen Forschungsprojektes Familien in gemeinschaftlichen Wohnformen (FageWo), das das DJI in Kooperation mit Architekt*innen der Hochschule Karlsruhe durchgeführt und das Familien in gemeinschaftlichen Wohnprojekten in ganz Deutschland untersucht hat. Zunächst unterstrich Heitkötter die gesellschaftliche Relevanz des gemeinschaftlichen Wohnens, welches letztlich als Suche nach Antworten auf verschiedene gesamtgesellschaftliche Fragen unserer Zeit zu verstehen sei. Gemeinschaftliche Wohnprojekte reagierten auf gesellschaftliche Herausforderungen und könnten gleichzeitig innovative Lösungsansätze für den demografischen Wandel, ökologische Herausforderungen und Klimawandel, die Wohnungskrise und ungleiche Verteilung von Wohnraum und nicht zuletzt auch für die Care-Krise hervorbringen. Das interdisziplinäre Forschungsprojekt FageWo ist u.a. den Fragen nachgegangen, wie eine gegenseitige Unterstützung im Alltag in gemeinschaftlichen Wohnprojekten gelebt wird, inwiefern sozial- und wohnräumliche Bedarfe, die durch familiäre Lebensveränderungen entstehen, in gemeinschaftlichen Wohnprojekte befriedigt werden können, und welche spezifischen Anforderungen das Leben in Gemeinschaft für Familien birgt.

Gemeinschaftliche Wohnformen ließen netzwerkartige Strukturen der Unterstützung für Bewohner*innen entstehen, sei es praktischer, emotionaler, finanzieller, informationeller Art, führte Heitkötter aus. So würden vor allem neue Ideen geteilt, verschiedenste Hilfeleistungen in der Bewältigung des Alltags gegeben oder auch Trost und Aufmunterung gespendet, sowohl innerhalb als auch zwischen den Generationen und Lebensformen. Familien geben an, dass Familie und Beruf in gemeinschaftlichen Wohnprojekten insgesamt leichter zu vereinbaren seien. Ebenso bietet das Umfeld ein besonderes Umfeld für das Aufwachsen von Kindern: sie erfahren unterschiedliche Lebensformen und Lebensmodelle, bewegen sich meist in altersgemischten Gruppen und haben unterschiedliche erwachsene Bezugspersonen. Die Unterstützungsnetzwerke und sozialen Bezüge, die in gemeinschaftlichen Wohnformen entstehen, werden von vielen Bewohner*innen als erweiterter Familienkreis erlebt, auch wenn die Kleinfamilie nach wie vor meist zentraler Bezugsrahmen bleibt. Gemeinschaftlich genutzte Räume und Freiflächen erweiterten zudem den Wohnraum, den die Familie für sich zur Verfügung habe. Darüber hinaus entlasteten weitere Sharing-Angebote, wie Kleidertausch, Lebensmittelläden, Car-Sharing etc. Familien. Auch finanziell fühlen sich weniger Familien in gemeinschaftlichen Wohnformen von den Wohnkosten belastet, gleichzeitig haben sie aufgrund gemeinschaftlicher Eigentumsverhältnisse häufig eine sicherere Wohnperspektive. Gleichzeitig sind knapp ein Fünftel der Wohnungen in den Befragten Gemeinschaftsprojekten Sozialwohnungen und bieten auch unteren Einkommensschichten Zugang zu dieser Wohnform. Vielfach können gemeinschaftliche Wohnprojekte auf verändernde Familienverhältnisse flexibel reagieren, indem z.B. Wohnungen getauscht, Übergangslösungen gefunden oder maßgeschneiderte Wohnarrangements kreiert werden. Dadurch werden trotz Veränderungen kontinuierliche Wohnbiographien in den Projekten möglich, wenn gewünscht.

Heitkötter betonte, dass es neben diesen positiven Aspekten es auch spezifische Herausforderungen gibt, denen Familien in gemeinschaftlichen Wohnformen ausgesetzt sind. Wohnen in Gemeinschaft erfordert ein gewisses Zeitpensum um sich für die Gemeinschaft und das Projekt zu engagieren, dies kann zu Konflikten im Familienalltag oder/und Berufsalltag führen. Zudem können andauernde interne Konflikte innerhalb der Gemeinschaft die Familien belasten. Die teils schwierige Abgrenzung zwischen Privat und Gemeinschaft kann ebenfalls Schwierigkeiten für das Familienleben bergen. Vielfach haben diese Projekte daher unterstützende Formen der Konfliktbegleitung und der Kompetenzschulung etabliert.

Heitkötter hob hervor, dass gemeinschaftliche Wohnformen neben dem direkten Mehrwert für die Bewohner*innen auch einen gesellschaftlichen Mehrwert hätten, indem sie Lernorte für Demokratie, solidarisches Handeln, Energiekonzepte etc. seien. Ebenfalls stärkten sie soziale Kohäsion. Familien brauchen die Qualitäten des Gemeinschaftlichen. In einer nachhaltigen Familienpolitik der Zukunft sollte daher der Dreiklang „Zeit, Geld, Infrastruktur“ durch Gemeinschaft ergänzt werden.

Bildschirmpräsentation von Martina Heitkötter (DJI) zum Download

Im Gespräch mit Expert:innen: „Welche Rahmenbedingungen fördern gemeinschaftliches Wohnen für Familien?“

Den Abschluss des Fachforums bildete eine spannende Runde mit Expert:innen aus Verwaltung und Praxis, die aus ihren verschiedenen Perspektiven diskutierten, welche Rahmenbedingungen gemeinschaftliches Wohnen für Familien förderten.

Axel Burkhardt, Beauftragter für Wohnen und barrierefreies Bauen der Stadt Tübingen unterstrich, dass das gemeinschaftliche Wohnen für viele Familien eine attraktive Alternative zum konventionellen Wohnen darstelle, es jedoch zahlreiche Hürden für sie gebe. Zeitliche Ressourcen, die es brauche, um ein gemeinschaftliches Wohnprojekt zu gründen oder zu finden, sei bei Familien mit kleinen Kindern notorisch knapp. Gleichzeitig stünden, insbesondere in den Innenstädten, nicht genügend bezahlbare Gebäude oder Grundstücke für solch eine Nutzung zur Verfügung. Gemeinden wie Tübingen, die das gemeinschaftliche Wohnen von kommunaler Seite aus fördern wollten, könnten dies bspw. durch eine entsprechende Konzeptvergabe von Grundstücken, mit Beratung und Projektsteuerung bei der Gründung. Zudem könnte der rechtliche Rahmen vereinfacht werden, z.B. durch das Vorhalten einer kommunalen Dachgenossenschaft.

Gabriele Schmitz, Geschäftsführerin des Berliner Beirats für Familienfragen, berichtete von Dialogforen, die der Beirat 2017 mit Berliner Familien zum ihren Wünschen beim Thema Wohnen durchgeführt habe. Hier habe Wunsch nach bezahlbarem Wohnraum für alle an erster Stelle gestanden, ebenso wie der verwandte Wunsch, nicht aus der gewohnten Umgebung verdrängt zu werden. Ebenso hätten Familien den Wunsch nach mehr gemeinnützigen Wohnungen geäußert, zum Beispiel bei öffentlichen Wohnbaugesellschaften und in -genossenschaften. Auch gebe es großes Interesse für größere Familienwohnungen, altersgerechten / barrierefreien Wohnraum sowie Mehrgenerationenwohnprojekte. Für das Wohnumfeld wünschten sich die befragten Familien eine gute Durchmischung und nachbarschaftliches Miteinander ebenso wie gute ÖPNV-Anbindung und ein sicheres Radwegenetz.

Bildschirmpräsentation von Gabriele Schmitz (Berliner Beirat für Familienfragen) zum Download

Constance Cremer, Geschäftsführerin von STATTBAU Berlin, führte aus, dass die STATTBAU unter anderem als Netzwerkagentur für das Land Berlin fungiere und in dieser Funktion gemeinschaftliche und generationsübergreifende Wohnprojekte berate, unterstütze, vernetze und vermittle. Sie unterstrich, dass für Familien die Bezahlbarkeit von Wohnraum oberste Priorität habe und es somit unverzichtbar sei, politisch wieder mehr auf die Gemeinwohlorientierung in der Wohnungswirtschaft zu setzen. Außerdem seien Mitgestaltungsmöglichkeiten wichtig, damit Familien ihre Bedarfe schon in frühen Phasen von Bauplanungen miteinbringen könnten. Neue bedarfsgerechte Typologien wie Cluster-Wohnungen oder gestapelte Einfamilienhäuser in der Innenstadt erwähnte Cremer ebenso wie die wichtige Rolle, die für Familien die Gemeinschaft im Wohnen einnehme. Dies trifft insbesondere auf Unterstützungsstrukturen, gute Nachbarschaft und gemeinschaftlich nutzbare Flächen und Räumen zu.

Bildschirmpräsentation von Constance Cremer (STATTBAU Berlin) zum Download

Irene Mohr, regionale Ansprechperson der Stiftung trias für Berlin und Brandenburg, erläuterte wie die Stiftung viele gemeinschaftliche bzw. genossenschaftliche Wohnprojekte finanziere und somit dazu beitrage, dass Grund und Boden Gemeingut würden und blieben. Die Stiftung trias erwerbe und entziehe Grundstücke der Spekulation und führe sie mittels Erbbaurecht dauerhaft einer sozialen und ökologischen Nutzung zu. Damit ermögliche und sichere die Stiftung innovative Projekte des Wohnens und Arbeitens in der Stadt und auf dem Land. In den drei Handlungsfeldern Ökologie, Boden und Wohnen schaffe die Stiftung Freiräume.

Bildschirmpräsentation von Irene Mohr (Stiftung trias) zum Download

Sabine Seitz, Referentin für Neue Wohnformen der GAG Immobilien AG aus Köln, stellte dar, wie die GAG als konventionelle Wohnungsbaugesellschaft das gemeinschaftliche Wohnen für sich entdeckt habe und zunehmend umsetze. So sagte sie, dass Grundrisse flexibler gestaltet werden müssten, um der Lebenslaufentwicklung von Familien gerecht zu werden. Ebenso würden immer häufiger Gemeinschaftsflächen beim Neubau mit geplant, sodass die Mietbelastung von Familien geringer sei und Räume und Freiflächen gemeinsam genutzt werden könnten. Die Zukunft des Wohnens liege in einer Vielfalt von Wohnformen in einem Quartier um für eine gute Durchmischung zu sorgen.

Fachforum „Gutes Wohnen für Familien – eine Aufgabe für Staat und Zivilgesellschaft“ am 18. März 2021

Berlin, 18.03.2021 | Knapp 50 Teilnehmende aus den Mitgliedsorganisationen des Bundesforums Familie kamen am 18. März 2021 digital zum zweiten Fachforum der Themenperiode „Familie, Wohnen und kommunale Infrastruktur“ zusammen. Im Fokus diesmal: „Gutes Wohnen für Familien – eine Aufgabe für Staat und Zivilgesellschaft“. Die Wohnungsnot von Familien, vor allem ausgelöst durch steigende Mieten und Immobilienpreise, ist ein akutes Thema. Die Verdrängung aus einzelnen Stadtvierteln ist für Familien oft besonders problematisch: Unter anderem sind sie auf eine gewisse Infrastruktur angewiesen und sie werden aus ihrem sozialen Umfeld herausgeholt. Gleichzeitig verbleiben ältere Menschen häufig in ihren angestammten, aber ungeeigneten Wohnungen, weil ein Umzug und die meist höhere Miete für eine kleinere Wohnung für sie nicht finanzierbar sind. Da der soziale Status und gesellschaftliche Teilhabemöglichkeiten unter anderem davon abhängt, wo und wie wir wohnen, wird (gutes) Wohnen oft als Grundrecht verstanden. Aber was heißt das konkret? Welche Herausforderungen haben Familien in verschiedenen Lebensphasen auf dem Wohnungsmarkt? Welche Rollen können Staat und Zivilgesellschaft bei der Lösung dieser Probleme spielen? Das grundlegende Ziel des Fachforums war es, zu erörtern, welche Rahmenbedingungen es braucht, um adäquaten und bedarfsgerechten Wohnraum für alle Familien zu sichern. Nach einem einleitenden Impulsvortrag hatten die Teilnehmenden die Möglichkeit mit Expert:innen in Break-Out-Rooms zu drei unterschiedlichen Schwerpunktthemen ins Gespräch zu kommen.

Impulsvortrag „Wie stellt sich die aktuelle wohnungspolitische Lage von Familien dar?“

Zu Beginn des Fachforums führte Dr. Gerd Kuhn (urbi-et, Tübingen) in seinem Impuls in die aktuelle wohnungspolitische Lage von Familien ein. Er unterstrich, dass Familien momentan – vom Baukindergeld einmal abgesehen – viel zu wenig Relevanz in wohnungspolitischen Debatten hätten und diesbezüglich unbedingt ein Paradigmenwechsel stattfinden müsse. Einerseits müsse die Quantität von verfügbarem und bezahlbarem Wohnraum für Familien deutlich erhöht werden, andererseits müsse ein Augenmerk auf die Qualität gelegt werden, sodass nicht nur irgendein Wohnraum, sondern vor allem auch mehr familiengerechter Wohnraum entstehen bzw. erhalten bleiben könne. In einem historischen Abriss erläuterte Kuhn, wie in den 1950er und 1960er Jahren Wohnungspolitik ein wichtiger Teil von Familienpolitik gewesen sei: in den 1950ern noch durch die intensive Schaffung von sozialem Wohnungsbau, und ab den 1960ern zusätzlich mit einer Förderung von Eigentum und Eigenheimen für Familien. Während Familienpolitik heutzutage leider immer weniger den Wohnungsmarkt im Blick hätte, herrsche in den wohnungspolitischen Maßnahmen, die es in Bezug auf Familien gebe, vielfach das Familienbild der 1950er vor, z.B. würden multilokale Lebensformen nicht berücksichtigt. Insgesamt führe all dies zu einer Überbelegung von Wohnungen und einem „Lock-In-Effekt“, vor allem für junge Familien. Als enormes Problem skizzierte Kuhn die quantitative Versorgung mit sozialem Wohnungsbau, da jährlich deutlich mehr Sozialwohnungen aus der „Bindung fielen“ (ca. 43.000 Wohnungen) als nachgebaut werde (ca. 25.000 Wohnungen). Habe es in den 1980ern noch 4 Millionen und 2002 noch 2,47 Millionen Sozialwohnungen gegeben, seien dies 2020 nur noch 1,13 Millionen gewesen. Ideen, wie politisch aus der Wohnungskrise herauszufinden sei, gebe es mittlerweile einige, diese seien jedoch teils auch umstritten, weil sie oftmals den Interessen von Immobilienkonzernen zuwiderliefen. Kuhn erwähnte das Berliner Volksbegehren „Deutsche Wohnen und Co. Enteignen“, welches vorsehe, Konzerne mit über 3000 Wohneinheiten zu enteignen, den Berliner Mietendeckel, das Mietenstopp-Volksbegehren aus Bayern, Mietmoratorien ebenso wie Ansätze der „Neuen Gemeinnützigkeit“ sowie dem „Neuem Bodenrecht“.

Kuhn unterstrich weiterhin, dass neben dem quantitativen Mangel an bezahlbarem Wohnraum die qualitative Ausgestaltung des Familienwohnens defizitär sei; hier bedürfe es dringend wohnungspolitischer Korrekturen. Es sei dringend notwendig, die Förderkriterien an die sozialen Realitäten von Familien anzupassen und somit auch bei der qualitativen Ausrichtung die verschiedenen Familienformen und ihre unterschiedlichen Bedürfnisse angemessen zu berücksichtigen, z.B. durch ein verstärktes Angebot von flexiblen Cluster-Wohnungen für Familien. Zudem müssten die Sozialbindungen langfristiger bzw. dauerhaft Bestand haben, um genügend bezahlbaren Wohnraum zu schaffen und zu halten. Kuhn gab einen umfassenden Einblick in die historische Entwicklung des Wohnungsbaus und die zunehmend weniger familienorientierte Wohnungsbaupolitik und machte deutlich, dass genau dies wieder verändert werden müsse: Familien müssten wieder viel stärker in den Fokus der Wohnungspolitik rücken – wenn dies auch in unterschiedliche lokale Handlungsansätze resultieren könnte, da die Herausforderungen sich teils auch regional stark unterschieden.

Bildschirmpräsentation „Wie stellt sich die aktuelle wohnungspolitische Lage von Familien dar?“ von Dr. Gerd Kuhn (zum Download)

Im direkten Anschluss wurde Kuhns Impulsvortrag durch Dr. Patricia Arndt aus der Ad-Hoc-AG im Bundesforum Familie kommentiert. Sie merkte an, dass während Wohnungs- und Familienpolitik in früheren Dekaden durchaus zusammen gedacht wurde, sich dies zunehmend auseinanderentwickelt habe, was es dringend zu ändern gelte – auch wenn Wohnen immerhin im 9. Familienbericht als Themenfeld erwähnt werde. Familien – in all ihrer Vielfalt und in Anbetracht des stetigen gesellschaftlichen Wandels – müssten wieder zentral in Wohnungs- und Baupolitik sowie schon in der Architekt:innenausbildung mitgedacht werden. Weiterhin gelte es, Familien nicht nur in einer Lebensphase, sondern über ihren gesamten Lebenszyklus in den Blick zu nehmen.

In der anschließenden Diskussion der Teilnehmenden im Plenum wurde unterstrichen, dass Wohnen weitaus mehr sei, als die Wohnung oder das Haus, in dem eine Familie wohne. Es sei vielmehr ein Netzwerk an Strukturen und Angeboten, die die Qualität des Wohnens fundamental bedingten – daher müsse die Diskussion um die qualitative Ausgestaltung von Wohn- und Sozialraum in den Quartieren verstärkt werden. Beispielsweise entstünden aufgrund von Multilokalität von Familien immer mehr Engpässe hinsichtlich der Care-Arbeit innerhalb der Familien, dies könne zumindest teilweise durch ein gutes nachbarschaftliches Netzwerk aufgefangen werden. Auch wurde gefordert, intensiver über Möglichkeiten nachzudenken, Mehrgenerationenwohnen sowie Wohnungstausch zu fördern, sodass Familien in den unterschiedlichen Lebenslaufzyklen adäquaten bezahlbaren Wohnraum zur Verfügung hätten. Die Teilnehmenden fragten kritisch, warum immer weniger in sozialen Wohnungsbau investiert werde, wo doch gerade belastete Familien hiermit unterstützt würden.

Drei parallelstattfindende Expert:innengespräche

Familiengerechtes Wohnen – ein marktwirtschaftliche Perspektive
Prof. Dr. Michael Voigtländer, Leiter des Kompetenzfelds Finanzmärkte und Immobilienmärkte am Institut der deutschen Wirtschaft, vertiefte im ersten Expert:innengespräch die marktwirtschaftliche Perspektive auf Familien auf dem Wohnungsmarkt. Er legte dar, dass vor allem der Wohnungsneubau in den Städten gefördert werden müsse, um der Nachfrage gerecht zu werden sowie, dass Familien der Zugang zu Wohneigentum durch adäquate Förderungen und Instrumente erleichtert werden solle. Die Sozialpolitik müsse sich verstärkt an den sich wandelnden Bedürfnissen von Familien orientieren. Die Infrastruktur im Umland von Städten müsse ausgebaut werden, um die Attraktivität des ländlichen Raums für Familien zu vergrößern. Hierbei müsse sowohl die Infrastruktur vor Ort sowie die Anbindung an zentrale Knotenpunkte ausgebaut werden.

Angemerkt wurde u.a., dass das Baukindergeld zwar Wirkung zeige, jedoch mit 10 Mrd. Euro zu teuer sei. Gegebenenfalls könnten die Mittel mit anderen Maßnahmen zielgerichteter und effektiver ausgegeben werden. Seit 2010 sei ein starker Mietenanstieg zu verzeichnen, die Wohnkostenbelastung im Gegenzug bleibe zumindest dort relativ konstant, wo höhere Löhnen auf niedrige Bestandsmieten träfen – nicht jedoch bspw. bei ALG-2-Empfänger:innen. Die Teilnehmenden waren sich einig, dass Sozialwohnungen ein gutes Mittel seien, um belastete Familien zu unterstützen. Derzeit seien diese jedoch häufig falsch belegt. Voigtländer schlug vor, Mietverträge in Sozialwohnung zu befristen und die Bedürftigkeit alle fünf Jahre zu prüfen, sodass der Zugang zu Sozialwohnungen zielgerichteter möglich sei. Ein weiteres Problem, welches den Wohnungsmangel vor allem in Städten verstärke, sei die Nutzung von Wohnungen als Ferien- oder Zweitwohnungen. Diese Wohnungen fehlten auf dem Markt, zudem trügen die Besitzer:innen nicht zu einem lebendigen Stadtleben bei. Intensiv diskutiert wurde anschließend die Frage von Mietobjekt versus Eigentum. Voigtländer legte am Beispiel von Großbritannien dar, warum ein ausgewogener Anteil von Miete und Eigentum zusammen mit verstärkten Neubau die Wohnungskrise aufhalten könne. Eine Wohneigentumsquote von 50-60% sei günstig, in Deutschland liege diese derzeit bei 40%. Sie sei seit 2010 nicht mehr gestiegen, obwohl die derzeitig niedrigen Zinsen ein Anreiz zum Erwerb von Eigentum darstellen könnten. Jedoch seien die Kosten von Bauland und Bau im Vergleich ebenfalls stark gestiegen. Wegen niedriger Zinsen sei der Erwerb von Wohneigentum gerade vielerorts günstiger als zu mieten, jedoch fehle oftmals gerade jüngeren Menschen in der Familien(gründungs)phase das Startkapital. Dies bedeute, dass der Eigentumserwerb meist nur für diejenigen, die Kapital erbten, möglich sei, was sozialen Sprengstoff berge. Lösungen, um den Eigentumserwerb auch ohne Erbschaft zu ermöglichen, seien die Gewährung von Nachrangdarlehen und Freibeträge bei der Grunderwerbsteuer. Die Förderung von Eigentum sozial verträglich zu gestalten, sei insgesamt sehr schwierig, daher müssten sowohl Instrumente, die den Mietmarkt regulierten, als auch Instrumente für die Finanzierung von Eigentum entwickelt und gefördert werden. Die Grundsteuer könne durch die Einführung einer Bodenwertsteuer reformiert werden. Darüber hinaus wurde angemerkt, dass die Erschließung von Bauland immer auch aus ökologischer Perspektive zu betrachten sei.

Bildschirmpräsentation „Familiengerechtes Wohnen – eine marktwirtschaftliche Perspektive“ von Prof. Dr. Michael Voigtländer (zum Download)

Wohnungslosigkeit von Familien
Im zweiten Expert:innengespräch erörterten Sarah Lotties & Joachim Krauß von der BAG Wohnungslosenhilfe den aktuellen Problemkomplex der Wohnungslosigkeit von Familien mit den Teilnehmenden. Die Referent:innen legten in ihrem Kurzimpuls dar, dass Wohnungslosigkeit von Familien kein Randphänomen mehr sei, sondern dass mittlerweile viele Familien die Hilfsangebote der Beratungsstellen aufgrund von (drohender) Wohnungslosigkeit in Anspruch nähmen. Wohnungslosigkeit von Familien würde jedoch häufig viel zu spät erkannt, da Familien oftmals zunächst auf ihre Hilfsnetzwerke (Familien und Freundeskreise) zurückgreifen würden und bei diesen unterkämen. Weiter ergänzten sie, dass Familien häufiger auf Hilfen zurückgriffen als Alleinlebende, was grundsätzlich dafür spräche, präventive Hilfen auszubauen, sodass Familien gar nicht erst in die Lage gerieten, wohnungslos zu werden.

In der anschließenden Diskussion mit den Teilnehmenden wurden unterschiedliche Handlungsfelder identifiziert, die dazu beitragen könnten, Familien vor der Wohnungslosigkeit zu bewahren. Die Gesellschaft müsse grundsätzlich für das Thema Wohnungslosigkeit stärker sensibilisiert werden, sodass das stereotypische Bild eines zottligen, alkoholkranken Obdachlosen aus den Köpfen der Menschen verschwinde. Denn Obdach- bzw. Wohnungslosigkeit sei längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Präventionsketten wie sie beim Kinderschutz angewandt würden, könnten auch dazu beitragen, Wohnungslosigkeit frühzeitig zu erkennen und dem früh entgegen zu steuern. Neben der Stärkung präventiver Maßnahmen müssten die Unterstützungsinstanzen besser vernetzt werden, sodass die häufig multiplen Gründe für die Problemsituation angegangen werden könnten. Beratungsstellen müssten außerdem die Möglichkeit haben, multilingual zu beraten, bzw. Dolmetscher:innen hinzuziehen zu können.

Ergänzend hingewiesen wurde auf die Erkenntnisse des Online-Fachgesprächs „Wohnungslosigkeit von Familien im europäischen Vergleich“, welches das Bundesforum Familie am 03. Dezember 2020 mit Expert:innen aus Finnland, Irland und Deutschland durchgeführt hatte.

Bildschirmpräsentation „Familien in Wohnungsnotfallsituationen“ der BAGW (zum Download)

Treiber und Konsequenzen der Wohnstandortwahl von Familien
Dipl. Ing. Ricarda Pätzold, Projektleiterin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Institut für Urbanistik stellte im dritten Expert:innengespräch Treiber und Konsequenzen der Wohnstandortwahl von Familien vor. In der Diskussion mit den Teilnehmenden kristallisierte sich heraus, dass Wohnraum der Finanzspekulation entzogen werden müsse, um Familien den Zugang zu bezahlbarem Wohnraum zu ermöglichen. In der Diskussion wurde die Aussage von Dr. Kuhn bestätigt, dass vor allem auch die Qualität von Wohnraum in den Blick genommen werden müsse. Derzeit stehe zu wenig familiengerechter Wohnraum zur Verfügung. Hierbei sei nicht nur auf den Wohnraum an sich, sondern auch auf die Umgebung zu achten. Thematisiert werden sollte zum Beispiel die Frage, wie viele Autos in Städten erlaubt werden sollte. In dem Kontext wurde auch diskutiert, dass Wohnraum für Familien in den Innenstädten immer weniger attraktiv oder bezahlbar sei, und diese entsprechend an den Stadtrand bzw. in Vorstädte („Speckgürtel“) zögen. So verschwänden Familien zunehmend aus den Innenstädten, was gesamtgesellschaftlich problematisch sei. Zudem seien auch die Familien häufig nicht zufrieden mit dem Wegzug aus der Stadt, der ihnen in gewisser Weise von den Umständen auferlegt sei. Innenstädte müssten also eher so (um-)gestaltet werden, dass die Gemeinschaft in den Quartieren gefördert werde und durch mehr Grün und mehr Verkehrsberuhigung attraktiver für Familien werde. Im ländlichen Raum hingegen müsse das Bewusstsein für die Bedarfe junger Familien sowie die Lebensverlaufsperspektive gefördert werden, sodass die Infrastruktur bedarfsgerecht für junge Familien sowie Senior:innen gestaltet wird. Auch wurde bestätigt, dass Quartiere sowie Kommunen verstärkt eine homogene Anwohner:innenschaft anziehe und so unter anderem die Schere zwischen arm und reich verstärkt werde. Hier müsse die Perspektive stärker auf sozialer Heterogenität liegen.

Bildschirmpräsentation „Treiber und Konsequenzen der Wohnstandortwahl von Familien“ von Ricarda Pätzold (zum Download)

Abschließende Kurzvorstellung der Diskussionen im Plenum

In einer abschließenden Runde stellten Mitglieder der Ad-Hoc-AG die jeweiligen Diskussionen, die in den Break-Out-Rooms stattgefunden hatten, im Plenum vor. Aus allen drei Gruppen wurde verstärkt darauf verwiesen, dass der Markt die angesprochenen Probleme nicht lösen kann und wird und somit Instrumente entwickelt werden müssten, die den Markt entsprechend regulierten. Damit müssten Rahmenbedingungen geschaffen werden, um allen, insbesondere sozioökonomisch benachteiligten Menschen einen guten Zugang zum Wohnungsmarkt zu ermöglichen und sozial- und umweltverträglichen Neubau zu fördern. Vielfach wurde erwähnt, dass vor allem in die Schärfung des Bewusstseins sich wandelnder Bedürfnisse von Familien investiert werden müsse und dass diese im Wohnungsmarkt sowie in der Qualität des Wohnens und in Beratungsangeboten sich widerspiegeln müssten.

Online-Fachgespräch „Wohnungslosigkeit von Familien im europäischen Vergleich“ am 03. Dezember 2020

Here you can find the English version of this report.

Berlin, 03.12.2020 | Knapp 25 Teilnehmende aus den Mitgliedsorganisationen des Bundesforums Familie nahmen am 03. Dezember 2020 am Online-Fachgespräch „Wohnungslosigkeit von Familien im europäischen Vergleich“ der Themenperiode „Familie, Wohnen und kommunale Infrastruktur“ teil.

Nicht nur in Deutschland, sondern auch europaweit steigen die Zahlen wohnungsloser Familien. Vor diesem Hintergrund beleuchtete das digitale Fachgespräch das Thema der Wohnungslosigkeit von Familien aus europäischer Perspektive. Prof. Dr. Volker Busch-Geertsema eröffnete das Fachgespräch mit einer Problembeschreibung und -analyse der Lage in Europa. Leena Lehtonen, Petra Gergov-Keskelo und Wayne Stanley beschrieben die Wohnungslosenhilfe und -politik in Bezug auf Familien in Finnland und Irland sowie regionale Maßnahmen zur Bekämpfung von Wohnungslosigkeit von Familien.

Vortrag „Wohnungslosigkeit von Familien in Europa“
Zum Überblick fasste Prof. Dr. Volker Busch-Geertsema, von der Gesellschaft für innovative Sozialforschung und Sozialplanung, die Ergebnisse der Studie „Family Homelessness in Europe“ (European Observatory on Homelessness 2017) zusammen, welche in 14 europäischen Mitgliedstaaten durchgeführt wurde.

Prof. Dr. Busch-Geertsema führte aus, dass ein umfassender gesamteuropäischer Überblick schwierig sei, da viele Länder keine separaten Daten zur Wohnungslosigkeit von Familien erfassten. Dennoch ließe sich allgemein sagen, dass die Hilfesysteme häufig stark auf alleinstehende Wohnungslose ausgerichtet seien. Straßenwohnungslosigkeit von Familien in Europa sei eher selten.

In entwickelten Sozialstaaten gebe es eine starke Fokussierung auf das Kindeswohl und Leistungen für Familien, sodass Maßnahmen wie sozialer Wohnungsbau und weitere präventive Maßnahmen oftmals verhinderten, dass Familien wohnungslos würden. Andererseits sei ein bedeutender Anteil von wohnungslosen Familien nicht in Wohnungslosenstatistiken enthalten, da Mitwohnverhältnisse und Frauen mit Kindern in Frauenhäusern und Schutzwohnungen nicht in den Statistiken auftauchten. Somit gebe es in nicht unerheblichem Maße eine verdeckte Wohnungslosigkeit von Familien. Der Vergleich zwischen den Ländern sei generell durch die unterschiedliche Art der statistischen Erhebung und der jeweiligen Besonderheiten der Hilfesysteme sehr schwierig.

Ursachen für die Wohnungslosigkeit von Familien seien vielfältig; häufig spielten Beziehungsabbrüche und eine damit einhergehende verschlechterte sozioökomische Lebenslage oder häusliche Gewalt (in der Regel von Männern gegen Frauen) eine Rolle. Deutlich seltener sei die Wohnungslosigkeit von Familien mit Sucht oder psychischen Problemen verbunden – im Gegensatz zur Wohnungslosigkeit von alleinstehenden Menschen, wo diese Faktoren eine erhebliche Rolle spielten.

Lösungsansätze zum Problem der Wohnungslosigkeit von Familien sah Prof. Dr. Busch-Geertsema vor allem in präventiven und weniger in kurativen Maßnahmen, in der Gewährleistung eines raschen Zugangs zu bezahlbarem und angemessenem Wohnraum, in der schnellen Vermittlung in normale Wohnverhältnisse statt langer Aufenthalte in Sonderwohnformen, in der Förderung des Zugangs zu geeigneten Unterbringungsmöglichkeiten mit der Aufrechterhaltung lokaler Bezüge sowie in einer besseren statistischen Erfassung von verdeckter Wohnungslosigkeit und von Wohnungslosigkeit bei häuslicher Gewalt.

Bildschirmpräsentation „Wohnungslosigkeit von Familien in Europa“ (zum Download)

 

Wohnungslosigkeit von Familien in Irland
Wayne Stanley, Öffentlichkeits- und Politikreferent der Simon Communities in Irland, gab einen Einblick in die aktuelle Situation von Wohnungslosigkeit von Familien in Irland. Er führte zunächst kurz in die Entstehungsgeschichte der Simon Communities ein, welche vor ca. 50 Jahren von einer Gruppe Studierender gegründet wurden. Die Studierenden hätten Umfragen unter Menschen durchgeführt, die von Wohnungslosigkeit betroffen waren, um den deren Bedarfe passgenau zu ermitteln. Darauffolgend wurden wohnungs- und obdachlose Menschen mit Essen und Mahlzeiten versorgt. Außerdem hätten die Studierenden die irische Regierung auf die Problematik aufmerksam gemacht. Bis zum heutigen Tag sei der Bedarf an den Aktivitäten und Angeboten – nun deutlich gewachsen und professionalisiert – der Simon Communities groß.

Stanley erklärte, dass Wohnungslosigkeit von Familien in Irland in den letzten Jahren stark zugenommen habe und dadurch ein wichtiges Thema auf der politischen Agenda sei. Seit 2014 würden regelmäßig Daten zur Wohnungslosigkeit von Familien erhoben – derzeitig seien ca. 1.100 Familien in Irland wohnungslos. Die Ursachen von Wohnungslosigkeit bei Familien seien vielfältig und hätten sich im Verlauf der letzten 50 Jahre stark verändert.

Um wohnungslosen Familien ein neues Zuhause zu bieten, habe die irische Regierung ein Programm entwickelt, welches intensiv mit Hausbesitzer*innen zusammengearbeitet, um frei gewordenen Wohnraum an Familien mit geringen Einkommen zu vermitteln. Seit 2014 seien die Zahlen immer stärker gestiegen, immer mehr Familien verlören ihr Zuhause. Ein weiteres Programm sei initiiert worden, um Familien schnellstmöglich ein neues Zuhause zu vermitteln, sodass sie wenig Zeit in Übergangslösungen verbringen müssten. Auch dieses Programm habe zwar zunächst Erfolge verbuchen können, im Anschluss seien die Zahlen von wohnungslosen Familien immer weiter und schneller gestiegen. Die bedeutendste Ursache hierfür sei, dass der Wohnungsmarkt Familien mit geringen Einkommen zu wenig Möglichkeiten biete, geeigneten und bezahlbaren Wohnraum zu finden. Stanley erläuterte, dass die Wohnungslosigkeit von Familien paradoxerweise zugenommen habe, als die Auswirkungen der Finanzkrise ab 2007 in Irland abnahmen. Dies hätte daran gelegen, dass im öffentlichen sowie auch im privaten Wohnungsmarkt kein neuer Wohnraum geschaffen wurde und die Preise für Mietwohnungen und Eigentum immer weiter stiegen. Da Irland vor allem einen privaten Mietmarkt habe, seien die Mietkosten gestiegen als der Druck auf den Markt größer wurde.

Der Anteil versteckter Wohnungslosigkeit von Familien sei auch in Irland erheblich. Familien, die ihr Zuhause verlassen müssten, fänden häufig zunächst Obhut bei Freunden und Familie, wenn sie keine bezahlbare Wohnung auf dem privaten Mietmarkt fänden. Für die irische Regierung sei die Prävention und Bekämpfung von Obdachlosigkeit ein wichtiges Thema, so seien u.a. um Straßenobdachlosigkeit zu verhindern, zunächst auch Hotelzimmer für Familien angemietet worden, die jedoch keine angemessenen Unterkünfte gewesen seien. So seien Familienunterkünfte entstanden, in denen Familien neben Schlafräumen gemeinschaftlich genutzte Räume zur Verfügung stehen, um zu kochen, Hausaufgaben zu machen etc. Durch das Angebot der Familienunterkünfte habe sich der Fokus des Regierungshandelns verändert: statt Familien ein neues Zuhause zu vermitteln, werde ihnen zunächst Platz in einer Familienunterkunft angeboten. Stanley wies auch darauf hin, dass Irland während der COVID-Pandemie auf sinkende Wohnungslosenzahlen blicken könne. Dies liege vor allem daran, dass Zwangsräumungen aktuell ausgesetzt würden. Zudem seien durch die fehlende touristische Nutzung allein in Dublin 9.000 Airbnb-Wohnungen wieder auf dem Wohnungsmarkt verfügbar. Auch die Simon Communities nutzten solche Wohnungen um Familien Obdach zu bieten. Zusammenfassend unterstrich Stanley, dass vor allem bezahlbarer Wohnraum für Familien geschaffen werden müsse, um Familien in Irland vor der Wohnungslosigkeit zu bewahren.

Bildschirmpräsentation „Family Homelessness in Ireland“ (zum Download)

 

Wohnungslosigkeit von Familien in Finnland
Im Anschluss sprachen Leena Lehtonen, Projektmanagerin der Y-Stiftung und Petra Gergov-Keskelo, Projektberaterin bei der Federation of Mother and Child Homes and Shelters über Wohnungslosigkeit von Familien in Finnland. Die beiden Referentinnen arbeiten gemeinsam an dem Projekt „NEA – Securing Housing for Women“, dem ersten Projekt in Finnland, das auf die Bedarfe und Probleme von wohnungslosen Frauen zugeschnitten ist. Das Ziel des Projektes sei es, Wohnungslosigkeit von Frauen zu beenden indem sie unterstützt würden, ein Zuhause zu finden und zu sichern.

Finnland sei das einzige EU-Land, wo die Wohnungslosenzahlen in letzter Zeit gesunken sind. Basierend auf der europäischen Initiative „Housing First“ würden nationale und regionale Strategien gegen Wohnungslosigkeit erarbeitet und umgesetzt. Beispielsweise gebe es landesweit es ein Netzwerk an Wohnberatungsstellen, dessen Service vor allem auch viele Familien nutzten. Grundsätzlich habe Finnland ein starkes Sozialsystem, das z.B. für die Miete aufkomme, wenn Menschen arbeitslos seien. Während die Anzahl der Wohnungslosen insgesamt abnehme, steige allerdings die relative Zahl von wohnungslosen Frauen, was auch ein Grund für das NEA-Projekt sei. Unter Familien seien vor allem Ein-Eltern-Familien besonders betroffen von Wohnungslosigkeit, jedoch fehlten auch in Finnland genaue Zahlen. Wie auch in Irland, seien die Hauptursachen für Wohnungslosigkeit von Familien Finanzprobleme und steigenden Mietpreise. Vor allem in Städten gebe es zu wenig bezahlbaren Wohnraum für Familien. Derzeitig seien Familien in der Wohnungslosenhilfe nicht im Fokus, sodass wenig Familienunterkünfte bestünden sowie Strategien fehlten, wie Familien ein neues Zuhause bekämen, wenn sie einmal wohnungslos geworden seien.

Petra Gergov-Keskelo führte aus, wie die Federation of Mother and Child Homes and Shelters Familien Schutz und Unterstützung in schwierigen Zeiten anbiete. Dabei liege das Augenmerk vor allem auf dem Wohlergehen der Kinder. Neben der Etablierung von Austausch unter Betroffenen würde auch Beratung und Obdach für Familien in Problemlagen angeboten werden.

Bildschirmpräsentation „Homeless Families in Finland“ (zum Download)

 

Abschließende Diskussion
Im anschließenden regen Austausch der Teilnehmenden wurde verschiedene Punkte mit den Referent*innen diskutiert. So wurde darauf hingewiesen, dass es vor allem für Familien mit erwachsenen Kindern oder Kindern mit Behinderung als auch für große Familien schwierig sei, ein passendes neues Zuhause bzw. auch nur eine Übergangswohnung zu finden. Hingewiesen wurde auf Frauen mit Kindern, die vor häuslicher Gewalt in Frauenhäusern geflohen seien. Diese fänden dort zwar Schutz, gingen jedoch derzeitig nicht in die Wohnungslosenstatistiken ein, weil sie offiziell Wohnraum verfügten, der jedoch durch den Täter bewohnt werde. Hinsichtlich des Übergangs vom Frauenhaus auf den Wohnungsmarkt wurde sich von den Teilnehmenden für eine deutlich bessere Unterstützung und Begleitung der Frauen und Kinder ausgesprochen. Zusätzlich wurde darauf hingewiesen, dass für manche Familien vor der Wohnungslosigkeit auch in den eigenen vier Wänden unwürdige Lebensumstände vorliegen könnten, z.B. wenn Strom oder Gas etc. auf Grund von unbezahlten Rechnungen abgeschaltet würde. Solche Zustände gelte es ebenso wie Zwangsräumungen bei Familien mit minderjährigen Kindern wenn möglich zu verhindern. Abschließend wurde resümiert, dass eine deutlich bessere Versorgung von Familien mit adäquatem und für sie bezahlbarem Wohnraum unabdingbar sei, um Familien vor Wohnungslosigkeit bzw. vor dem Verbleib in Übergangswohnformen zu bewahren.

Fachforum „Familien im Fokus kommunaler Infrastruktur: Beteiligung, Bedarfe und Angebote“ am 14. September 2020

Berlin, 14.09.2020 | Knapp 40 Teilnehmende aus den Mitgliedsorganisationen des Bundesforums Familie kamen am 14. September 2020 im Refugio Berlin zum ersten Fachforum der Themenperiode „Familie, Wohnen und kommunale Infrastruktur“ zusammen. Das grundlegende Ziel des Fachforums war es, folgende Fragestellungen zu erörtern:

1. Welche Bedarfe haben Familien innerhalb einer kommunalen Infrastruktur?
2. Welche Strukturen braucht es vor Ort, um diese Bedarfe erfolgreich umzusetzen?

Nach Praxisimpulsen aus Emden, Berlin-Lichtenberg und dem Kyffhäuserkreis diskutierten die Teilnehmenden in drei Workshops zu Familienbüros, Beteiligung von Familien und integrierter Kommunalentwicklung.

Einführung „Gemeinsam Denken, übergreifend Handeln – Integrierte Kommunalentwicklung“

Zu Beginn des Fachforums führte Markus Kissling, Vorsitzender der BAG Soziale Stadtentwicklung und Gemeinwesenarbeit, in das Konzept der integrierten Kommunalentwicklung ein. Herr Kissling betont, dass Kommunen stets extern bedingten Veränderungen unterworfen seien (durch z.B. Megatrends wie Urbanisierung, Globalisierung, Konnektivität), sodass auch Verwaltung agiler und flexibler werden müsse, um der sich schneller verändernden Umwelt sowie den entsprechenden Anforderungen der Bevölkerung gerecht zu werden.

Um diesen neuen Anforderungen besser entsprechen zu können, sei das Konzept der integrierten Kommunalentwicklung gut geeignet. Zentraler Bestandteil dieser sei, dass bereichsübergreifend gedacht und gehandelt wird. Dies stünde vor dem Hintergrund der Leipzig-Charta zur nachhaltigen europäischen Stadt, die 2007 von 27 für Stadtentwicklung zuständigen Minister*innen verabschiedet wurde. Ein integriertes Handlungskonzept, in dem die Bedürfnisse der Bürger*innen zentral stehen und ressortübergreifend an der Entwicklung von Lösungen gearbeitet wird, könne eine Antwort auf sich immer schneller verändernde Strukturen sein. In der Umsetzung vor Ort, in Stadtteilen, Dörfern und Quartieren wäre die Gemeinwesenarbeit das praktische Handlungskonzept, um die Bewohner*innen in diese Prozesse einzubeziehen und zu aktivieren.

Video Markus Kissling:

Praxisimpulse

Drei Vortragende aus unterschiedlichen Regionen gaben im Anschluss einen Einblick in ihre Arbeit mit Familien vor Ort. Dabei wurde deutlich, dass die Kommunen teils vor ähnlichen, aber teils auch vor sehr unterschiedlichen Herausforderungen stehen, oft bedingt durch ihre unterschiedlichen räumlichen Lagen sowie Größe. Egon Philipps aus der Stadt Emden in Niedersachsen, Elke Schnabel aus dem Kyffhäuserkreis in Thüringen und Frank Roll aus dem Bezirk Lichtenberg in Berlin präsentierten jeweils die Ansätze aus ihren Kommunen, mit denen Familien eingebunden und eine möglichst familiengerechte Infrastruktur vor Ort etabliert werden könne.

Stadt Emden
Egon Philipps, Leiter des Fachdienstes Gemeinwesen der Stadt Emden, stellte die Etablierung und Institutionalisierung von Gemeinwesenarbeit auf der kommunalen Ebene in Emden in das Zentrum seiner Ausführungen, sowie deren Anwendung auf Angebote für Familien. Emden ist eine kreisfreie Stadt im Nordwesten von Niedersachsen und die größte Stadt Ostfrieslands. Mit knapp 50.000 Einwohner*innen gehört sie zu den Mittelstädten Deutschlands.
2019 hat die Stadt Emden den Fachdienst „Gemeinwesen“ eingeführt, der die soziale Situation in den Stadtteilen stärken und begleiten soll. Die Arbeit des Fachdienstes orientiere sich an den Bedürfnissen der Bewohnerschaft – sie aktiviert die Bürger*innen, sie vernetzt und entwickelt Kooperationen in den Stadtteilen/Quartieren. Letztlich ginge es darum die Lebensqualität der Bewohner*innen in den Quartieren zu verbessern indem alle Aktivitäten auf deren Bedarfe abgestimmt würden. Die Mitarbeitenden des Fachdienstes seien das Bindeglied zwischen den Interessen und Aktivitäten der Bewohner*innen und den Ressourcen der Stadt, sie fördern und gestalten Aushandlungsprozesse zwischen Entscheidungsträger*innen und Bürger*innen. In den Stadtteilen würden sie die Vernetzung und Kooperation zwischen den Akteur*innen vor Ort, um vorhandene Ressourcen sichtbar werden zu lassen und zu stärken, fördern.

Video Egon Philipps

Thomas Sprengelmeyer, Leiter des Fachbereichs Jugend, Schule, Sport der Stadt Emden, erläuterte in einer kurzen Videobotschaft wie Familien in ihrem Sozialraum von einer integrierten Kommunalentwicklung profitieren: Im Zentrum stehe der Mensch mit seinen Bedürfnissen und Bedarfen. Diese würden vor allem im Quartier sichtbar, wo Menschen in ihrem Sozialraum leben. Bedarfsgerechte Ergebnisse würden jedoch nicht allein dadurch erzielt, die Datenlage zu analysieren, sondern indem mit den Menschen vor Ort diskutiert und sie nach ihrer Meinung gefragt würden. Er betonte, dass Familien nach wie vor eine zentrale Rolle in Kommunen einnehmen würden. Die Aufgabe der Verwaltung sei es zu untersuchen, welche Lebensbedingungen es gebe und was Familien in ihren Sozialräumen bräuchten – und zwar vom Säugling bis ins höhere Alter. Was kann die Kommune beitragen, diese Sozialräume für Familien förderlich zu gestalten? Gemeinsam mit den Familien und Akteur*innen vor Ort müsse die Kommune sich überlegen, wie Schulen, Kindertageseinrichtungen, etc. unterstützt werden könnten und welche Angebote im Stadtteil notwendig seien.

Video Thomas Sprengelmeyer

Bezirk Lichtenberg von Berlin
Im Anschluss stellte Frank Roll, Mitarbeiter des Jugendamtes Lichtenberg, die Angebote für Familien in seinem Bezirk vor. Lichtenberg ist der elfte Verwaltungsbezirk von Berlin und hat ca. 295.000 Einwohner*innen, seit der Bezirksfusion zwischen Hohenschönhausen und Lichtenberg 2001 stetig steigend. Lichtenberg vereint 13 Stadtteile, die zum Bezirk zählen.
Kern der Lichtenberger Familienangebote nach § 16 SGB VIII seien die 18 Familienzentren und -treffs. Sie hielten ein Mix aus offenen Angeboten, Kursen und Einzelberatungen vor, wie z.B. Krabbelgruppen, Nähkursen, Festen aller Art bis hin zu konkreten Hilfestellungen in belastenden Lebenslagen. Ergänzt würden die Familienzentren/-treffs um Projekte mit spezifischen Themenstellungen wie z.B. die aufsuchende Elternhilfe, die aufsuchende vietnamesische Familienberatung, Familienhebammen, Schreibabyambulanz, qualifizierte Elternarbeit an Schule u.v.m.
Lichtenberg beziffert 32 Sozialräume in denen die Angebote für Familien ausgewogen verteilt und Mittel vergeben werden sollen. Kennzeichnend für den Bezirk sei die intensive Vernetzung der Projekte über die Familienförderung hinaus mit Angeboten der Jugendförderung, der Kultur, der Stadtteilarbeit und der Gesundheitsangebote. Dazu würden Netzwerke für Familienförderung und Frühe Hilfen finanziell gefördert.
Seit 2017 gibt es in Lichtenberg, angegliedert an das Jugendamt, das Familienbüro Lichtenberg. Seine wesentlichen Aufgaben bestünden aus der Auskunfts-, Lotsen-, und Beratungsfunktionen für unterschiedliche familienbezogene Leistungen und Angebote im Bezirk. Das Bezirksamt kooperiert hierfür mit einem freien Träger, der pad gGmbH. Die Leistungen würden somit von zwei Verwaltungsmitarbeitenden und zwei Sozialarbeiter*innen erbracht. Seit Eröffnung des Familienbüros würden die Beratungsgespräche pro Monat stetig zunehmen. Vor der Corona-Pandemie suchten 1.100 Menschen monatlich das Familienbüro auf. Als Weiterentwicklung des Angebots seien nun dezentrale Anlaufstellen des Familienbüros in Zusammenarbeit mit etablierten Familieneinrichtungen in den Quartieren geplant.
Zudem betonte Frank Roll, dass in Lichtenberg überproportional viele Alleinerziehende wohnen würden. Hier sehe der Bezirk akuten Handlungsbedarf und baue seine Angebote bedarfsgerecht aus, zum Beispiel durch flexible Kinderbetreuung und spezielle Programme, die den Neu- bzw. Wiedereinstieg in Arbeit unterstützen. Auch erläuterte er, dass das Bezirksamt Wirksamkeitsdialoge mit den freien Trägern durchführe, um die Bedarfe, die Angebote und die Zielgenauigkeit der Projekte zu evaluieren und ggf. Anpassungen vorzunehmen.

Video Frank Roll

Kyffhäuserkreis
Abschließend präsentierte Elke Schnabel, Mitarbeiterin des Dezernats Soziales, Jugend, Gesundheit und Arbeit sowie Netzwerkkoordinatorin „Frühe Hilfen und Kinderschutz“ im Kyffhäuserkreis, die kommunalen Familienangebote ihres Landkreis im Norden von Thüringen. Die knapp 75.000 Einwohner*innen des Landkreises machen ca. 3,5% der Gesamtbevölkerung Thüringens aus. Geprägt durch große landwirtschaftliche Flächen kommen auf 1 km² 72 Einwohner*innen. Die Bevölkerungsprognose bis 2035 sagt eine stark schrumpfende Bevölkerungsgröße voraus. Derzeitig werde davon ausgegangen, dass im Jahr 2035 19,7% weniger Menschen als 2019 im Kyffhäuserkreis wohnen werden.
2014 hat der Kyffhäuserkreis im Rahmen des Audits „Familiengerechte Kommune“ folgenden Familienbegriff für sich definiert: „Der Kyffhäuserkreis versteht sich als familiengerechter Kreis für alle Generationen. Familie ist zentraler Ort, in dem Lebenschancen entstehen, ein emotionaler Schutzraum gegeben ist und Bindungsfähigkeiten und Entwicklungsmöglichkeiten entstehen. Familie existiert in verschiedenen Formen und Lebensmodellen in unterschiedlichen Generationen. Familie kann ohne Kinder gelebt werden.“ Auf Grund der alternden Bevölkerung wurde dem Familienbegriff folgendes hinzugefügt: „Senior*innen sind alle Personen ab 60 Jahre. Hierbei wird der Blick insbesondere auf Personen mit besonderem Hilfebedarf und Personen die noch im Erwerbsleben stehen, gerichtet.“
Konkret bedeute dies, dass der Kyffhäuserkreis sich bemühe, auf Basis von Bevölkerungsbefragungen seine Angebote an die Bedürfnisse anzupassen und Akteur*innen vor Ort zu vernetzen. Der Kreis strebe auch landkreisübergreifende Kooperationen an, da Bewohner*innen an den Rändern des Landkreises ihr Leben stärker dahin ausrichten, wo Infrastrukturen vorhanden seien.
Frau Schnabel stellte besondere Leuchtturmprojekte vor, wie z.B. den „Dorfkümmerer“, der die lokalen Akteur*innen untereinander vernetzt und die Angebote für die Zielgruppe sichtbar mache. Die Thüringer Eltern-Kind-Zentren, Kindertageseinrichtungen mit besonders ausgeprägter Familien- und Sozialraumorientierung, würden im Rahmen einer Landesstrategie durch den Freistaat Thüringen entwickelt, ausgebaut und gefördert. Sie arbeiteten mit einem integrierten Ansatz, um Familien bedarfsgerecht zu unterstützen und seien Leistungserbringer örtlicher Jugendhilfeplanung. Auf Grund der ländlichen Strukturen gebe auch es mobile Kinder- und Jugendarbeit, mobile Erziehungsberatung sowie einen Servicebus für Bürger*innen. Schulsozialarbeiter*innen seien an allen Schulen Teil des Kollegiums. Zudem seien kreisweit Informationsmaterialien, abgestimmt auf unterschiedliche Zielgruppen, z.B. Eltern mit Kindern und Senior*innen, entwickelt worden.

Video Elke Schnabel

Drei parallel stattfindende Workshops

Integrierte Kommunalentwicklung
Eine Vertiefung in das Thema der integrierten Kommunalentwicklung fand im Workshop mit Markus Kissling, dem Vorsitzenden der BAG Soziale Stadtentwicklung und Gemeinwesenarbeit, statt. Die Teilnehmer*innen diskutierten vor allem, in wie fern das Konzept für die Mitgliedsorganisationen des Bundesforums Familie, als größtenteils familienpolitisch aktive Fachverbände, von Nutzen sein könnte. Herr Kissling betonte die Bedeutung der bereichsübergreifenden Arbeit in Politik und Verwaltung und hob hervor, dass es als Grundlage eine übergreifende Strategie bräuchte, die für diese bereichsübergreifende Arbeit leitend sei. Diese Strategie solle in partizipatorischer Arbeit mit allen Akteur*innen, also auch den Bewohner*innen selbst erarbeitet werden. Das Einbeziehen der Bewohner*innen, die damit als Expert*innen ihres Lebensumfeldes anerkannt und einbezogen werden, sei ein zentraler Baustein. Ebenso brauche es öffentliche Räume als Anlauf- und Begegnungsorte. Das Konzept der Gemeinwesenarbeit sei eine Methode, diese Punkte umzusetzen und zu moderieren.
Die Teilnehmenden des Workshops unterstützen den Gedanken einer bereichsübergreifenden Strategie. Diese müsse aus Sicht der Teilnehmenden die Familien in den Mittelpunkt stellen. Eine entsprechende Strategie könnte zur Folge haben, dass stadtplanerische Elemente besser aufeinander und besser auf Familien abgestimmt seien. Dies gelte sowohl für potentielle Bauvorhaben (Spielplätze) als auch für familienunterstützende Infrastrukturleistungen. Letzteres sei auch deshalb sinnvoll, weil Familien oftmals Zeit durch zahlreiche Behördengänge verlören, jedoch für Familien nicht zuletzt Zeit ein wichtiger Faktor im Familienleben sei.

Familienbüros als Baustein kommunaler Familienpolitik – Typen, Aufgaben, Beispiele
Isabel Wieland, wissenschaftliche Mitarbeiterin des Vereins „Familiengerechte Kommune“, stellte die unterschiedlichen Typen und Aufgaben von Familienbüros im zweiten Workshop vor. Deutlich wurde hierbei vor allem die Vielfalt der Schwerpunkte der vorgestellten Familienbüros.
Das gemeinsame Ziel von allen Familienbüros sei jeweils, Bürgernähe herzustellen, die Servicequalität für Familien zu erhöhen sowie Synergien sowohl zwischen Bürger*in und Angeboten als auch zwischen den Angeboten selbst herzustellen. Die Aufgaben der jeweiligen Familienbüros variierten innerhalb dieser Zielstellung je nach Schwerpunkt und reichten von der Bedarfsermittlung, Netzwerkarbeit, Öffentlichkeitsarbeit bis zu konkreten Beratungsangeboten von Familien.
Auch die Trägerschaften der Familienbüros kann sehr unterschiedlich ausfallen. Diese liege in der Praxis entweder bei der Kommune selbst oder bei sozialen Organisationen. Vorgestellt wurden im Workshop Familienbüros der Städte Bochum, Görlitz, Dortmund und Stolberg.
Festgehalten wurde, dass für Familienbüros vor allem befristete Stellen große Herausforderungen sind, da mit befristeten Stellen eine Nachhaltigkeit nicht gesichert werden könne. Zudem gäbe es keine klaren Vorgaben für die Umsetzung vor Ort. Weiterhin wurden Interkulturalität sowie die Ansprache aller Familien als Herausforderungen genannt. Zusätzlich seien in diesem Jahr Corona und damit verbunden die Arbeit und den Austausch mit Familien auf digitale Formate umzustellen als Barriere hinzugekommen, die überwunden werden müssen.

Familien vor Ort aktivieren und beteiligen
Britta Kreuzer (LAG Soziale Brennpunkte Niedersachsen e.V.) diskutierte mit den Teilnehmenden des dritten Workshops, wie Familien vor Ort aktiviert beteiligt werden können und warum dies notwendig ist, bzw. welche positiven Auswirkungen dies auf die Kommune hat.
Sie erläuterte, dass Gemeinwesenarbeit eine Methodik sei, wie die Bedarfe der Bewohner*innen in die Planung integriert und Lösungen für Herausforderungen fachamtsübergreifend entwickelt werden können. Gemeinwesenarbeit stimuliere die Selbsthilfe der Bewohner*innen und entwickele ressourcenorientiert neue Angebote bzw. vernetze die Anbieter*innen von Angeboten. Sie sei aktivierend und fragt nach anstatt davon auszugehen, dass Bürger*innen sich von selbst melden. Dies sei ein wichtiger Weg, um möglichst viele Bürger*innen zu erreichen.
Die Teilnehmenden des Workshops bestätigen diese Ansätze aus den Erfahrungen in ihrer persönlichen Arbeit. Auch wenn gerade Kinder- und Jugendbeteiligung ja eigentlich gesetzlich festgeschrieben sei, würde dies oft nur unzureichend umgesetzt. Es wurde betont, dass die Aktivierung und Beteiligung von Familien auch eine Frage der Haltung sei:

  • Partizipation sollte kein Selbstzweck sein, sondern die Bedarfe im Blick haben und darauf abgestimmte Methoden verwenden
  • Es sollte prozess- und ressourcenorientiert vorgegangen werden, nach dem Leitsatz: „Alle, die da sind, sind richtig“
  • Beteiligung sollte eingefordert werden können über z.B. aktivierende Befragungen, gemeinsame Veranstaltungen wie Kochen, Sport etc. oder Erkundungen
  • Schlüsselpersonen im Quartier müssten gefunden werden, die als Lots*in, Übersetzer*in bzw. Türöffner*in fungieren
  • Räume für Themen, Begegnung und Austausch müssten ermöglicht und aktiv gestaltet werden

Für eine bedarfsgerechte Planung von Angeboten im Quartier brauche es eine offene Haltung und Möglichkeiten zur echten Beteiligung, einen integrierten Ansatz und Netzwerke auf lokaler und kommunaler Ebene sowie Mut, Lust und Offenheit zum Ausprobieren, Lernen und Anpassen von Prozessen.

Abschließende Blitzlichter im Plenum

Der abschließende Austausch zeigte auf, dass das Konzept der integrierten Kommunalentwicklung durchaus weiterführend diskutiert werden könnte, vor allem aus der Perspektive der Mitgliedsorganisationen des Bundesforums Familie, die ja hauptsächlich familienpolitisch aktiv sind: Wie könnte die Arbeit der Mitgliedsorganisationen von Ideen der integrierten Kommunalentwicklung profitieren? Im Umkehrschluss aber auch: Was könnten die Mitgliedsorganisationen dazu beitragen, dass Kommunen dieses Konzept übernehmen? Hinsichtlich der Familienbüros wurde angeregt, eine einheitliche Definition und Bedingungen zu formulieren, die Familienbüros erfüllen müssen, damit keine Parallelstrukturen zu anderen Angeboten entstünden. Es wurde betont, die Beteiligung von Familien ernst zu nehmen und sich aktiv dafür einzusetzen, auf Familien zuzugehen und nicht darauf zu warten, dass sie mit ihren Fragen kommen.