Ein breiter gesellschaftlicher Dialog wird ins Leben gerufen
Am 5. Juni 2007 fand die Impulsveranstaltung des Bundesforums Familie und des Bundesfamilienministeriums für die gemeinsame Initiative „Kinder brauchen Werte – Bündnisinitiative Verantwortung Erziehung“ im Abgeordnetenhaus von Berlin statt. Auf dieser Veranstaltung, auf dem es neben dem Eröffnungsreferat von Ministerin von der Leyen Vorträge von André Habisch und Paul Nolte sowie eine hochkarätig besetzte Podiumsdiskussion gab, wurden Impulse aus der Politik und Wissenschaft gesammelt, um als erste Basis für einen breiten Dialog zum Thema „Kinder brauchen Werte“ zu dienen. Dass über 200 Vertreterinnen und Vertreter der verschiedensten Einrichtungen, Verbände und Gruppen, die sich mit dem Thema Erziehung beschäftigen, die Einladung zu dieser Veranstaltung annahmen, zeigt, wie wichtig das Thema in der Fachöffentlichkeit und nicht nur dort genommen wird.
Eine elektrisierende öffentliche Debatte
Nach der
Einführung und Begrüßung durch Herrn Norbert Hocke, bemerkte
Bundesfamilienministerin von der Leyen ihrer
Auftaktrede, wie sehr sie die elektrisierende öffentliche Debatte um die Kinderbetreuung fasziniere. Sie stellte fest, dass die Politik mittlerweile den äußeren Rahmen für Kinderbetreuung, wie Investitions- und Betriebskosten schaffe, den inneren Rahmen jedoch, nämlich das, was gelingende Erziehung ausmache, gelte es gemeinsam zu erarbeiten, wobei Politik die Diskussion über Werte führe, diese jedoch nicht schaffen könne.
Nach Auffassung der Bundesministerin gibt es drei grundlegende Voraussetzungen für gelingende Erziehung:
• Kinder brauchen mindestens eine Person verlässlich und dauerhaft, die sie um ihrer selbst willen lieben
• Kinder brauchen andere Kinder
• Kinder brauchen verlässliche Werte und Bindungen
In einer sich verändernden Umwelt, in der Eltern immer mehr auf sich allein gestellt sind und Kinder oft ohne Geschwister, enge Nachbarschaft und Verwandte aufwachsen, müssten verstärkt wertebezogene Angebote in der Bildungs- und Familienberatung geschaffen und wertevermittelnde Erziehungsangebote gemacht werden.
Werte – Heilige Offenbarungen oder geronnene Lebensweisheiten?
Zur fachlichen Einführung hielten Prof. Dr. André Habisch und Prof. Dr. Paul Nolte Vorträge. Bei den Vorträgen kamen die grundsätzlichen Konfliktlinien im Wertedialog zutage. Wo Habisch in seiner Präsentation von Werten als geronnener Lebenserfahrung sprach, stattete Nolte sie in seinem Vortrag mit dem Adjektiv „heilig“ aus, als etwas immer in der Sphäre des Religiösen Angesiedeltes und stellte sich damit, ohne es explizit auszusprechen, an die Seite derer, die Werte als etwas Gottgegebenes ansehen.
Während Habisch speziell auf das Problem der Werte in einer globalisierten Welt einging und die damit verbundenen Verwerfungen für das Individuum als einen der Gründe für den empfundenen Wertverfall im Westen ausmachte, proklamierte Nolte, dass Werte nur in der modernen Gesellschaft Entfaltung finden könnten, da Werte einen entgrenzten Lebensraum voraussetzten und eine Brücke zwischen dem im Laufe der Modernisierung entstandenen Individuum und seiner Gesellschaft bildeten. Im wirtschaftlichen Bereich möchte Habisch Werte als Innovationspotential verstanden wissen, das im Rahmen der gesellschaftlichen Verantwortung von Unternehmen, wie sie unter dem Begriff „Corporate Citizenship“ definiert ist, nicht nur aus altruistischen Motiven gefördert wird, sondern langfristig die Unternehmensgewinne steigert.
Christliches Abendland oder säkulare Neue Welt – Welche Werte wollen wir?
An der anschließenden Podiumsdiskussion nahmen teil:
• Oberkirchenrat Dr. Jürgen Frank, Leiter der Abteilung „Bildung“ im Kirchenamt der EKD
• Dr. Ayyub Axel Köhler, Vorsitzender des Zentralrats der Muslime in Deutschland
• Prof. Dr. Helga Krüger, Professorin für Soziologie an der Universität Bremen und stellvertretende Vorsitzende der Expertenkommission zur Erstellung des 7. Familienberichts
• Dr. Hermann Kues, Parlamentarischer Staatssekretär bei der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
• Prof. Dr. Hans-Joachim Meyer, Präsident des Zentralkomitees der Deutschen Katholiken
Moderiert wurde die Diskussion von der Journalistin Petra Diroll.
Auch in der Podiumsdiskussion traten die unterschiedlichen Auffassungen über den Ursprung und die Entwicklung von Werten und auch über die Bedeutung und den Ursprung von Wertedebatten zutage. Die Vertreter der katholischen und evangelischen Kirche, Hans Joachim Meyer und Jürgen Frank, sowie der Vorsitzende des Zentralrates der Muslime und derzeitiger Sprecher des Koordinierungsrates der Muslime, Ayyub Axel Köhler, hoben die Bedeutung des Religiösen und des außerhalb des Alltäglichen Stehenden in der Wertedebatte hervor.
Für Meyer müssten Werte eine feste Wurzel haben, die für ihn Gott sei. Werte könnten für ihn nicht beliebig sein und keine Sammlung dessen, was gerade praktisch erscheine. Frank wies auf den besonderen Charakter von Erfahrungen im Zusammenhang mit Werten hin, der seiner Meinung nach diese von alltäglichen Erfahrungen unterscheide; als Beispiel nannte er Lieben und Geliebtwerden. Köhler betonte, dass der Staat keine Werte setzen dürfe, sondern dass dies den Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften vorbehalten sei, die das Wertepotential der Gesellschaft bildeten, mit der sich alle auseinandersetzen müssten. Für die Muslime seien Werte keine geronnenen Erfahrungen. Für ihn sei der wichtigste Wert die Menschenwürde, die in ihrer ultimativen Ausformung im Koran von Gott offenbart worden sei.
Eine völlig gegensätzliche Meinung vertrat die stellvertretende Vorsitzende der Expertenkommission des 7. Familienberichtes, Helga Krüger, die auf die Zusammenhänge von Wertedebatten und gesellschaftlichen Umwälzungen und Verwerfungen hinwies, ausgedrückt in den sich rasant verändernden Lebensumständen von Familien. Ihrer Auffassung nach fänden derartige Wertedebatten immer dann statt, wenn Selbstverständlichkeiten nicht mehr selbstverständlich seien. Sie betonte, dass wir uns in einer familialen Umbruchsituation erster Ordnung befänden. In der Industriegesellschaft habe es noch die tayloristische Ordnung gegeben, in der der Vater verdient und auch gesagt hat, wo es langgeht. Heute spreche man von Aushandlungsfamilien, d. h. Familien, in denen Kinder mit ihren Eltern aushandelten, was geschieht. Sie wies darauf hin, dass unsere europäischen Nachbarn diese Diskussion über den Umgang mit sich verändernden familiären Lebensbedingungen schon seit 20 Jahren führen würden und daher wesentlich weiter seien.
Parlamentarischer Staatssekretär Hermann Kues stellte fest, dass die Basis jeglicher Wertediskussion das Grundgesetz sei, das mit seinem verbindlichen Wertekanon zeige, dass die Politik durchaus bei der Ausgestaltung von Werten einen Platz habe und dies nicht allein religiösen und weltanschaulichen Gruppen überlassen werden könne. Er betonte, dass der Wertekanon des Grundgesetzes die Basis darstelle, auf der sich alle treffen könnten, eine Basis, die auch nur begrenzt verhandelbar sei. Er stellte fest, dass Wertediskussionen der Beliebigkeit und Gleichgültigkeit entgegenwirkten. Er sieht es als besondere Aufgabe der Politik, die Werte des Grundgesetzes immer wieder zu übersetzen und zu vermitteln, denn Menschen müssten immer wieder aufs Neue für diese Werte gewonnen werden. Er bemerkte außerdem, dass jedem Kind vermittelt werden müsse, dass es wertvoll ist, so wie es ist, mit all seinen Talenten, Schwächen und Besonderheiten.
Auf die Problematik der Erziehung von muslimischen Mädchen angesprochen, betonte Köhler die Wichtigkeit des permanenten Dialogs in diesen schwierigen interkulturellen Fragen, die mit dem Vertrauensverhältnis zwischen Schule und Elternhaus stehe oder falle. Die Diskussion gipfelte in der Frage, wie man die eigenen Werte bewahren und trotzdem auf Mitbürger/innen mit unterschiedlichen Wertvorstellungen zugehen könne. Meyer und Frank gaben dabei zu bedenken, dass die jüdisch-christlichen Grundlagen der Werte in Deutschland nicht zu verleugnen seien und jeder derartige Versuch nicht nur unredlich, sondern auch von vornherein zum Scheitern verurteilt sei. Helga Krüger hielt dagegen das Beispiel Kanadas, ein Land, das bewusst jegliche religiöse Symbolik in seinen öffentlichen Einrichtungen ablehne und sich strikte religiöse Unparteilichkeit als Staatsprinzip auferlege. Köhler bezeichnete Kindergärten und Schulen als Orte, wo Toleranz eingeübt werde; seiner Auffassung nach müssten Kinder frühzeitig lernen, mit anderen Kulturen und Wertvorstellungen umzugehen.
Von Meyer wurde der Begriff der „ethischen Allianzen“ in die Diskussion eingebracht, der es ermögliche, sich über religiöse und weltanschauliche Grenzen hinweg auf Grundwerte zu einigen, die allen Beteiligten wichtig sind. Meyer gab auch zu bedenken, dass Werte immer in ihrem spezifischen Kontext gesehen werden müssten, da man nicht vergessen sollte, dass mit isoliert gesehenen Werten außerhalb eines moralischen Kontextes, wie z. B. Disziplin und Ordnung, auch ein Konzentrationslager betrieben werden könne.