Symposium am 5. Mai 2008 in Berlin
Das Bundesforum Familie regte einen Gedankenaustausch zwischen Wissenschaft, Praxis und Politik an und stellte in seinem Symposium „Umgang mit Differenz: Wertebildung konkret“ zwei pädagogische Ansätze des interkulturellen und interreligiösen Lernens vor. Über 80 pädagogische Fachkräfte und Vertreter aus Politik und Verbänden ließen sich für ihre eigene Arbeit inspirieren und diskutierten mit den Referentinnen und Referenten Petra Wagner, Prof. Dr. Albert Biesinger, Prof. Dr. Friedrich Schweitzer, Dr. Christa Dommel und Rabeya Müller. Moderiert wurde die Veranstaltung von Dr. Katherine Bird (BFF).
Ein Bericht über das Symposium von Katherine Bird und Wolfgang Hübner erschien unter dem Titel „Wie gehen Kitas mit kulturellen und religiösen Differenzen um? Ein Symposium des Bundesforums Familie“, in: TPS – Theorie und Praxis der Sozialpädagogik, Hrsg.: Bundesvereinigung ev. Tageseinrichtungen für Kinder e. V. (BETA) und Kallmeyer bei Friedrich in Velber, 9/2008, S. 48-51.
Alle Kinder sind gleich, jedes Kind ist besonders – das Projekt „Kinderwelten“
In ihrem Eröffnungsvortrag stellte Petra Wagner, Leiterin des Projektes „Kinderwelten“, ihr Projekt zur vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung vor. Ausgangspunkt war die PISA-Studie, die die starke Abhängigkeit der Bildungsverläufe von der sozialen Herkunft thematisierte und die Frage, wie das Recht auf Bildung des Kindes bei der Verschiedenheit der Lebensverhältnisse und individuellen Unterschiede eingelöst werden kann. Als Antwort hierauf entstand das Projekt „Kinderwelten“, dessen Motto „Alle Kinder sind gleich, jedes Kind ist besonders“ das Spannungsfeld zwischen dem Gleichheitsanspruch und den tatsächlichen Unterschieden der Lebensverhältnisse aufnimmt, in dem die Erzieherinnen handeln müssen. Kinder nehmen die äußeren Merkmale anderer Kinder wahr und wie diese Unterschiede von ihrer Umgebung bewertet werden. Wie kann eine Einrichtung so gestaltet werden, damit Einseitigkeiten und Diskriminierungen minimiert werden? Anhand vieler praktischer Beispiele erläuterte Petra Wagner die vier Ziele ihres Bildungs- und Praxiskonzeptes:
- Die Ich- und Bezugsgruppen-Identität des Kindes stärken. Hier wird der Unterschied zu anderen Konzepten deutlich, die die Begegnung mit der Differenz, mit dem Anderen, an erster Stelle setzen.
- Allen Kinder Erfahrungen mit Vielfalt ermöglichen.
- Das kritische Denken über Vorurteile und Diskriminierungen sowie die Moralentwicklung anzuregen.
- Aktiv werden gegen Einseitigkeiten und Vorurteile. So können Kinder ihre Handlungsfähigkeit fördern und Selbstwirksamkeitserfahrungen machen.
„Die Erfahrung mit Vielfalt ist eine große sprachliche und kognitive Herausforderung“, so Petra Wagner. „Es ist eine hohe Stimulanz fürs Lernen, Kinder sind neugierig. Und mit etwas Mut, Unterstützung und Materialien, die das anregen, werden diese Auseinandersetzungen um soziale Vielfalt sehr bildungsrelevant.“ Dadurch werden Gerechtigkeitssinn, Perspektivübernahme, Auseinandersetzung mit Rechten, Konfliktfähigkeit, Verantwortungsübernahme und Zivilcourage gefördert. „Es gibt keinen wertfreien Raum. Selbst wenn ich nichts sage, nicht interveniere, gebe ich eine klare Botschaft. Es geht darum, explizit zu machen, was die Werte sind, die wir vertreten“, betonte Petra Wagner.
„Mein Gott – Dein Gott“ – die Pilotstudie und ihre Ergebnisse
„Kinder haben ein Recht auf Religion und religiöse Bildung“ war die zentrale Forderung der beiden Professoren Albert Biesinger und Friedrich Schweitzer bei der Vorstellung ihrer gemeinsamen Pilotstudie „Mein Gott – Dein Gott“, aus der sich ihre Perspektive zur Werteerziehung und Wertebildung ableitete. Beide Professoren treten für ein Bildungskonzept ein, in der die religiöse und interreligiöse Bildung integraler Bestandteil in den Kindertagesstätten ist. Denn in vielen Kitas sind Kinder mit verschiedenen religiösen Hintergründen und im täglichen Miteinander entstehen Fragen zu religiösen Bräuchen und Glaubensgrundsätzen, die viele Eltern und Erzieher/innen überfordern.
Ziel der Pilotstudie war es, erste Auskünfte über den Umfang und die Gestaltung der religiösen Bildung in den Kitas zu gewinnen, um damit die Problemfelder und Lösungsstrategien zu identifizieren. Ergebnis: Religiöse Bildung findet in den Kindertagesstätten nur in Form christlicher Bildung statt und hier wiederum hauptsächlich in konfessionell gebundenen Kitas. Laut Aussage der Erzieher/innen bedeutet das konkret, dass 97% der konfessionell gebundenen Einrichtungen „sehr viel“ oder „viel“ christliche Bildung vermitteln. In 84% der nicht konfessionell gebundenen Einrichtungen hingegen werden die Kinder „kaum“ oder „wenig“ christlich begleitet. Nur in einem Punkt sieht die Situation bei den verschiedenen Kitaträgern gleich aus: lediglich zu 10% findet eine Unterstützung der Kinder im Sinne des Islams statt, obwohl fast ein Drittel der Kinder in den untersuchten Kitas muslimisch sind.
Biesinger und Schweitzer betonten, dass viele Kinder religiöse Fragen stellen, aber nicht alle Erzieher/innen darin ausgebildet sind, mit solchen Fragen umzugehen. Deswegen forderten sie als Grundprinzip eine Verständigungskompetenz, die aus dem Umgang mit Differenzen entsteht und für die Dialogfähigkeit unverzichtbar ist. „Eine Übermächtigung, auch religiöse Übermächtigung ist aber streng verboten“, stellte Albert Schweitzer klar. „Wenn sie wollen, müssen Kinder Religion und religiöse Fragen ausweichen dürfen und können.“ Eine allgemeine religiöse Bildung soll allen Kindern offen stehen und könnte dazu beitragen, Hass und Unverständnis abzubauen.
Zwei Inputs zur Förderung des mulireligiösen Zusammenseins
Rabeya Müller (IPD Köln) ging in ihrem Input der Frage nach, wie die Werte der muslimische Kinder zustande kamen. Vermittelte die erste Generation von Migranten ihren Kindern noch islamische Werte aus ihrem Heimatland, beruhte der Wertekanon der zweiten Generation zwar auf diesen Traditionen, ohne jedoch eine solide theoretische Grundlage zu besitzen. Bei ihnen kam es zu einer Spaltung, denn die alten Werte im häuslichen Umfeld passten nicht mit denen des neuen Umfeldes zusammen. Die Hoffnungen ruhen jetzt auf der dritten und vierten Generation, die jedoch in einem Spannungsfeld leben. Denn sie haben weder ausreichend gelernt, tradierte Werte auf Deutsch wiederzugeben, noch Tradition und Religion zu unterscheiden. Die Lösung sieht Frau Müller darin, eine Selbstreflektion über die Glaubensgebote bei den muslimischen Kinder und Jugendlichen anzuregen, anstatt traditionelle Interpretationen kritiklos hinzunehmen.
Im zweiten Kurzinput berichtete Dr. Christa Dommel aus einem Forschungsprojekt in England. Dort vollzieht sich in der Religionspädagogik ein Wandel von „Information“ hin zu „Interaktion“, der als Dialog im Klassenzimmer umschrieben werden kann. Angesichts der großen religiösen Vielfalt, vor allem in manchen Städten, diskutieren Kinder und Jugendliche Fragen wie Wahrheit, Wert und Sinn unter pädagogischer Anleitung. Ergänzt wird der Dialog durch Besuche in Kirchen, Moscheen oder Tempeln. Dadurch erfahren die Kinder viel mehr über andere Religionen als sie es jemals aus Büchern oder Frontalunterricht könnten. Frau Dommel empfahl, auch in Deutschland Verfahren für respektvolle Diskussionen zu entwickeln.
Soll der Bildungsauftrag der Kita erweitert werden?
Die abschließende Diskussionsrunde gab Raum für die unterschiedlichen Betrachtungsweisen und Lösungsstrategien insbesondere zum Thema Religion. Denn ein Ziel des Projektes „Kinder brauchen Werte“ ist es, einen verstärkten Austausch zwischen Religionen und Kulturen anzuregen und zu fördern.
Für die Professoren Biesinger und Schweitzer liegt das Problem darin, dass die Erzieher/innen zu wenig über andere Religionen, aber auch über die eigene Religion wissen. Sie kritisierten, dass die Weiterbildung in Bereichen wie Naturwissenschaften oder Spracherziehung einfach hingenommen werde, weil diese vorgeschrieben sei, Religionserziehung in staatlichen Kitas jedoch keinen Platz habe. Prof. Schweitzer sprach sich aber gegen einen Religionsunterricht aus, wie er in der Schule durchgeführt wird. Er sieht die Aufgabe für die weitere Arbeit darin, die Orientierungs- und Bildungspläne für den vorschulischen Bereich, die mehrheitlich Bereiche unter der Überschrift Sinn, Werte und Religion vorsehen, für die Praxis tauglich zu machen.
Frau Wagner hingegen betrachtete Religion als einen Teil der Wertedebatte und nicht als Ausgangspunkt jeglicher Wertevermittlung. Sie verwahrte sich dagegen, dass Religion das Thema Werte vollständig besetzt. Die Forderung der beiden Professoren, dass die Kitas die Aufgabe haben, die Gottesbeziehungen der Kinder zu erschließen, lehnte sie ab. Ihrer Meinung nach könnten Kitas z.B. das Thema Autoritäten mit den Kindern behandeln, wozu Eltern, Erzieher/innen und Politiker/innen gehören aber auch die Religionen. Gerade muslimische Kinder wachsen oft in autoritätshörigen Strukturen auf und könnten von der Behandlung des Themas profitieren, bemerkte hierzu Rabeya Müller. Kinder und Jugendliche reagieren sehr überrascht, wenn sie ihnen sagt, dass der Islam kritisches Denken nicht nur erlaubt, sondern sogar fördert. Deshalb kann ihrer Meinung nach ein fundierter Islamunterricht in dieser Hinsicht hilfreich sein.
„Es ist schon notwendig, dass Erzieher/innen sich in diesem Bereich fortbilden, aber wichtiger ist es, dass zum einem die Vielfalt in der Gesellschaft anerkannt wird und zum anderen Erzieher/innen und Kinder sich gemeinsam einen Zugang zu den verschiedenen Lebensformen und Religionen erarbeiten“, fasste Petra Wagner ihre Ansichten zusammen. „Es müssen Rahmenbedingungen in den Kitas geschaffen werden, die der Reflexion über die eigene Arbeit den nötigen Raum und die nötige Zeit verschaffen.“