Dr. Sigrid Arnade, Geschäftsführerin der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland, knüpfte ihren Vortrag nahtlos an den Dr. Wrases an. So griff sie die Anmerkungen Dr. Wrase zur fehlerhaften Übersetzung der BRK auf und wusste zu berichten, dass die vorliegende amtliche Übersetzung nicht aus Unkenntnis entstanden sei, sondern durchaus in vollem Bewusstsein der Kultusminister/innen vorgenommen worden wäre. So sei unter anderem auf eine korrekte Übersetzung des Begriffs „assistance“ mit „Assistenz“ verzichtet worden. Stattdessen finde sich in der amtlichen Übersetzung „Hilfe“, was einen deutlich geringeren Grad der Selbstbestimmung impliziert. Es existiere jedoch eine sogennante Schattenübersetzung des NETZWERKS ARTIKEL 3. Daran anschließend brachte Dr. Arnade den Teilnehmenden den Inklusionsbegriff aus Sicht der Zivilgesellschaft näher und zog dabei das Modell von Katarina Tomasevski (2002) heran, welche vier Entwicklungsstadien des Rechtes auf Bildung unterscheide. Beginnend mit der Exklusion über die Separation, also einem allgemeinen Recht auf Bildung für alle in unterschiedlichen Systemen, gehe das Modell über das dritte Stadium, das mit „Assimilation durch Integration“ gleichgesetzt werden könne, bis hin zur wirklichen Gleichberechtigung, die schließlich durch ein inklusives Schulsystem erreicht wird. Gleichberechtigung wird in diesem vierten Stadium dadurch erreicht, dass sich die Gesellschaft ändert und nicht die Individuen an die Gesellschaft angepasst werden. Dabei stellte Dr. Arnade deutlich heraus, dass Inklusion mehr ist als das Recht von Kindern auf Bildung. So betreffe Inklusion neben der Bildung und Ausbildung auch Bereiche wie Gesundheit, Erwerbstätigkeit, Familienleben, Mobilität, Kommunikation, Rechtsstellung und gelte für alle Menschen, unabhängig von Behinderungen, Geschlecht, sozialer und kultureller Hintergründe sowie Lebensphasen.
Die BRK und der Parallelbericht der BRK-Allianz
In einem nächsten Schritt ging sie auf die BRK und die Verweise innerhalb der Konvention zu „Familie“ ein. Hier benannte sie die Artikel 22, 23 und 28 als zentral. In diesen wird auf die Aspekte der Privatsphäre, der Wohnung und der Familie sowie des angemessenen Lebensstandards und sozialer Schutz eingegangen. Von hier aus führte Dr. Arnade die Teilnehmenden weiter zu den Vorstellungen der Zivilgesellschaft hinsichtlich der Umsetzung der BRK in Deutschland. So habe sich die sogenannte BRK-Allianz bestehend aus rund 80 Verbänden, von ABiD/ISL über Gewerkschaften bis hin zur Wohlfahrts- und Elternverbänden, gegründet, aus deren Feder auch der Parallelbericht „Für Selbstbestimmung, gleiche Rechte, Barrierefreiheit, Inklusion!“ stammt und deren Sprecherin sie ist. So müssten die ratifizierenden Staaten innerhalb von zwei Jahren einen ersten Bericht zur Umsetzung der BRK bei der UN vorlegen und neben dem Bericht seitens der Regierung gebe es auch immer einen Bericht der Zivilgesellschaft. Auf Basis dieser beiden Berichte stehe im April 2015 ein konstruktiver Dialog zwischen UN, Bundesregierung und der Zivilgesellschaft an. In diesem Zusammenhang ging Dr. Arnade auf die Forderungen der BRK-Allianz in Bezug auf Familien ein, dazu gehören: die Regelung der Frühförderung als Komplexleistung, die Realisierung der „großen Lösung“, die Verankerung von Elternassistenz und begleiteter Elternschaft, die Aufnahme des Menschenrechts auf Familienplanung und Elternschaft in entsprechende Aus- und Fortbildungen sowie die einkommens- und vermögensunabhängige Gewährung von Teilhabeleistungen.
In ihren letzen beiden Punkten ging sie auf die Bereiche Frühförderung sowie Elternassistenz und begleitete Elternschaft näher ein. Größtes Problem seien bei der Frühförderung die Schnittstellen zwischen Leistungsträgern, die den Zugang zu den seit 2001 als Komplexleistung im SGB IX verankerten Angeboten erschwerten. Lediglich in „Sonderwelten“, also im Bereich der Förderschule, funktioniere das System, die Inklusion aber werde massiv erschwert. Dr. Arnade sieht hier akuten gesetzgeberischen Handlungsbedarf. Hinsichtlich Elternassistenz und begleiteter Elternschaft würde die BRK zur Bereitstellung dieser Leistungen verpflichten, jedoch gebe es in deutschen Gesetzen keine eindeutigen Regelungen. Entsprechend müssten Eltern immer wieder aufs Neue mit Behörden um Assistenzleistungen kämpfen und auch vor Gericht erstreiten. Dr. Arnade schloss ihren Vortrag mit der Hoffnung auf Besserung durch das Bundesteilhabegesetz, an dem aktuell gearbeitet werde und mit dem unter anderem auch die „große Lösung“ forciert werden solle.
Der Input von Dr. Sigrid Arnade zum Download. Mehr Informationen zur BRK-Allianz und dem Parallelbericht unter www.brk-allianz.de. Der Parallelbericht kann auch als gedruckte Version bei der Aktion Mensch bestellt werden. Die Schattenübersetzung der Konvention vom NETZWERK ARTIKEL 3 steht als PDF zur Verfügung oder beim Netzwerk bestellt werden.
Seite 1: Netzwerkversammlung 2014
Seite 2: Dr. Michael Wrase: Inklusion als (Menschen-)Recht?!
Seite 3: Dr. Sigrid Arnade: Die UN-BRK aus der Perspektive der Zivilgesellschaft
Seite 4: Prof. Dr. Andreas Eckert: Lebenslagen von Familien mit einem Kind mit einer Behinderung
Seite 5: Abschließende Diskussion im Plenum