Berlin, 07. Oktober 2016:
Mit dem ersten Fachforum „Werte lernen in der Migrationsgesellschaft“ mit knapp 50 Teilnehmenden ist das Bundesforum Familie voll in die inhaltliche Arbeit zum Thema „Familie und Flucht“ eingestiegen. Eine 7-köpfige Ad-Hoc-Arbeitsgruppe aus dem Kreis der Mitgliedsorganisationen hatte das Fachforum vorbereitet, das von einem spannenden Impulsvortrag von Prof. Dr. Friedrich Heckmann (europäisches forum für migrationsstudien an der Universität Bamberg) zum Thema Werte in der Migrationsgesellschaft eingeleitet wurde.
Prof. Dr. Heckmann erläuterte in seinem Vortrag zunächst einige sozialisationstheoretische Grundlagen. Werte seien als grundlegende Maßstäbe des individuellen Handelns sowie des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu verstehen. Für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Stabilität von Institutionen sei eine gewisse Wertegemeinsamkeit eine zentrale Bedingung. Um sich in eine Gesellschaft integrieren zu können, müssen Werte also gelernt werden. Integration ist für Heckmann ein Sozialisationsprozess und besteht – dem Soziologen Hartmut Esser folgend – aus vier Dimensionen: der strukturellen Integration (in Schule, Arbeits- und Wohnungsmarkt etc.), der sozialen Integration (Freundschaften, Vereine etc.) und der identifikativen Dimension (z.B. als syrischer Deutscher); besondere Bedeutung sei dem Spracherwerb als Teil der vierten Dimension, der kulturellen Integration, beizumessen. Alle vier Dimensionen stünden in wechselseitigen Kausalbeziehungen. Sie setzten außerdem die Offenheit der Aufnahmegesellschaft für die Partizipation und Identifizierung der Migranten voraus. Zu dieser Offenheit gehöre auch, so Heckmann, sich die Frage zu stellen: Müssen wir uns – schon im Interesse des Friedens – nicht darauf einstellen, mehr zu teilen und nicht nur unseren Wohlstand zu mehren? Wir scheinen an einer Zeitenwende zu stehen, die die Chance berge, neue Formen internationaler und europäischer Zusammenarbeit zu entwickeln und das europäische Projekt voranzubringen; größer sei leider momentan jedoch die Gefahr, dass durch nationale Beschränktheiten das zerstört werde, was in vielen Jahren an europäischen Errungenschaften für Frieden und Wohlstand erreicht worden sei.
Im Anschluss an den Vortrag von Prof. Dr. Heckmann erinnerte Magda Göller, Mitglied im Beirat des Bundesforums, daran, dass das Thema des Fachforums große Schnittmengen mit früheren Rahmenthemen des Bundesforums aufweise. An die Erkenntnisse aus den Bereichen „Migrationsfamilien“ (2003 – 2004), „Kinder brauchen Werte“ (2007 – 2009) sowie „Familie und Inklusion“ (2013 – 2015) könne man deshalb gut anknüpfen. In all diesen Zusammenhängen zeige sich immer wieder, wie wichtig es ist, die zwei menschlichen Grundbedürfnisse nach Autonomie und Zugehörigkeit auszutarieren. Häufig werde vernachlässigt, wie hilfreich dabei die Selbstreflektion sein kann, also sich zu fragen: „Was ist mir wichtig? Warum? Wofür stehe ich?“
Intensive Diskussionen im Plenum schlossen sich an. Dabei wurde die Frage aufgeworfen, ob denn „unsere“ Werte von den Zugewanderten tatsächlich im größeren Stil in Frage gestellt würden. Und wer das eigentlich sei: „Wir“? Schließlich sei unsere Gesellschaft keineswegs homogen, auch nicht in den Wertvorstellungen. Zudem hätte die Geschichte und hätten insbesondere die letzten Jahrzehnte gezeigt, dass Wertvorstellungen einem teilweise starken Wandel unterlägen. Als Beispiel wurden unter anderem der Umgang mit den Themen geschlechtliche Identität und sexuelle Orientierung oder Gewalt in der Erziehung genannt.
Nach der Mittagspause reflektierten die Teilnehmenden in drei parallelen Workshops die eigenen Erfahrungen mit dem Thema Werte in der Arbeit mit Geflüchteten und suchten gemeinsam nach Bausteinen für einen konstruktiven Wertedialog.
In allen drei Gruppen wurde dabei deutlich, wie wichtig der persönliche Kontakt zwischen den Menschen ist, um Vorurteile abzubauen. Wenn man sich mit Offenheit und Respekt begegne, zeige sich meist, dass man viele Wertvorstellungen teile. Da aus den geteilten Werten aber unterschiedliche, auch kulturell unterschiedlich geprägte Verhaltensweisen abgeleitet werden können, komme es häufig zu Missverständnissen.
Unterstrichen wurde mehrfach die Gefahr, innerhalb eines vermeintlich gut gemeinten Prozesses der Wertevermittlung durch Stereotype und „Labelling“ Geflüchtete oder auch andere nicht-weiße Menschen zu diskriminieren und Rassismen auszusetzen. Ebenfalls betont wurde die Notwendigkeit, für Neuankommende Rechte zu stärken und Zugänge zu Bildung, Arbeit etc. zu schaffen, damit überhaupt ein Dialog auf Augenhöhe möglich sei.
Sorgen äußerten viele Teilnehmende auch in Hinblick auf den jüngsten Aufschwung von rechtspopulistischen Bewegungen und Parteien, die massiv Stimmung gegen Geflüchtete, Muslim_innen sowie generell Andersdenkende machten. Das von Heckmann in seinem Vortrag erwähnte Konzept der „Leitkultur“ wurde in allen Workshops kritisch hinterfragt bzw. geradeheraus abgelehnt.
Als wichtiges Elemente eines konstruktiven Wertedialogs wurde immer wieder genannt, vorurteilsbewusst zu agieren, sich der eigenen (Macht-)position bewusst zu sein, anderen auf Augenhöhe zu begegnen, Raum für Begegnungen, Austausch und Dialog zu schaffen sowie letztlich geduldig zu sein und dem Prozess des Zusammenwachsens auch einfach Zeit zu geben.
Im Nachgang der Veranstaltung kam in Hannover abermals die Ad-Hoc-Arbeitsgruppe zusammen, um die Ergebnisse zusammenzutragen und nachzubereiten.