Material zum Netzwerktreffen am 16. Oktober 2024

Hier finden Sie die Präsentationen der Referent*innen als Download.

Bitte beachten Sie, dass die Materialien nur bis 24. November hier zur Verfügung stehen.

„Wie kann eine Integration von Ökologie- und Sozialpolitik aussehen? – Neue Risiken, Ökosozialversicherung und Politik des Genug“
Prof. Dr. Frank Nullmeier, Universität Bremen, Deutsches Institut für Interdisziplinäre Sozialpolitikforschung (DIFIS)

„Sozialer Ausgleich im Klimaschutz: Wie gelingt die Einführung eines Klimageldes in Zeiten knapper Haushalte?“
Dr. Stefan Bach, Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung e.V. (DIW), wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Staat
Zum Wochenbericht: „CO2-Bepreisung: Klimaprämie zügig einführen, bei höheren Einkommen abschmelzen

„Familien und die sozial-ökologische Transformation. Soziologische Einblicke in Mentalitäten und Einstellungen“
Jana Holz, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Institut für Soziologie, Nachwuchsgruppe flumen
Zur Studie: „Der neue sozial-ökologische Klassenkonflikt Mentalitäts- und Interessengegensätze im Streit um Transformation“

Klimageld-Kampagne von Sanktionsfrei e.V.
(Input musste leider kurzfristig ausfallen)
Link zur Website und Pressemitteilung

Impulsworkshop am 06. September 2024: „Auswirkungen des Klimawandels auf die psychische Gesundheit im Familienalltag“

Der Klimawandel ist nicht nur eine politische, technische und wirtschaftliche Herausforderung, sondern greift auch erheblich in den Gefühlshaushalt ein: die klimatischen Veränderungen und ihre Folgen nehmen auf vielen Ebenen erheblichen Einfluss auf die psychische Gesundheit – und damit auch auf das Miteinander im Familienalltag. Welche Folgen sich daraus ergeben und wie zukünftig auf diese Belastungen familien- wie gesundheitspolitisch reagiert werden kann, diskutierten knapp 40 Vertreter*innen aus den Mitgliedsorganisationen des Bundesforums Familie im Rahmen einer Online-Veranstaltung mit Katharina van Bronswijk (Sprecherin der Psychologists and Psychotherapists for Future).

Die Themenperiode „Familien und Klimawandel“ deckt viele Aspekte ab, die sich sowohl auf den Familienalltag und die individuelle Ebene, als auch auf die politisch strukturelle Ebene beziehen. Das Thema der Veranstaltung ist ein solches „Multilayer-Problem“, das in verschiedene Politikbereiche von Bildung, Gesundheit, Soziales und Umweltpolitik hineinreicht. Die Gesellschaft steht in all diesen Bereichen vor der Herausforderung multipler Krisen, die in emotional aufgeladenen Diskursen verhandelt werden. Studien zeigen, dass eine deutliche Mehrheit von 86 % der deutschen Bevölkerung aufgrund das Klimawandels besorgt sind. Hier gibt es keine signifikanten Unterschiede zwischen Haushalten mit und ohne Kinder (Vgl. Soziales Nachhaltigkeitsbarometer 2023). Fast ebenso groß sei jedoch die Sorge vor sozialer Spaltung, zunehmend mit der Umsetzung von Klimaschutzmaßnahmen in Verbindung gebracht würde. Wie wirken sich diese Sorgen und die damit verbundenen gesundheitlichen Belastungen auf Familien, familienpolitische Organisationen und Fachkräfte aus? Wie kann kluge Familienpolitik insbesondere hinsichtlich des Klimawandels Familien stärken? Werden durch die Klimakrise neue Unterstützungsangebote nötig? Welche Anpassungen müssen stattfinden, um den zukünftigen Herausforderungen besser zu begegnen? Um diese Fragen fundiert diskutieren zu können, informierte zunächst Katharina van Bronswijk über die Auswirkungen des Klimawandels auf die psychische Gesundheit. Hier unterschied sie zwei große Stränge: 1. den „Climate Change Impact of Human Health“, d.h. den Einfluss einer veränderten Umwelt auf den menschlichen Organismus und 2. den „Climate Distress“, der die emotionale Belastung durch die Klimakrise bezeichnet.

„Climate Change impact of Human Health“

Katharina van Bronswijk eröffnete ihren Vortrag mit einem Blick auf die sich verändernden Lebensbedingungen So seien die planetaren Belastbarkeitsgrenzen (d.h. die Grenzen, innerhalb derer sich die Erde selbst regenerieren kann) bereits in sechs von neun Bereichen deutlich überschritten. Wassermangel und Hitzewellen würden das Leben in Zukunft bestimmen. Durch den hohen Eintrag von Phosphat und Nitrat seien die biochemischen Kreisläufe aus der Balance gekommen. Neuartige Substanzen (Mikroplastik, Atommüll, Pestizide) seien in unsere Umwelt gelangt. Artensterben und die Abholzung von Wäldern führten zur Veränderung unserer Wassersysteme. Diese und weitere Entwicklungen hätten bereits heute gravierende Folgen für das Leben und das Zusammenleben.

Verschiedene Klimawandelfolgen können, so Katharina van Bronswijk, Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit (Vgl. WHO „Climate Change Impact of Human Health“) haben: anhaltende Hitzeperioden führten zu einem gesteigerten Risiko für Herz- Kreislauferkrankungen; aufgrund von Luftverschmutzung und Erderwärmung käme es vermehrt zu Asthma und Allergien. Epidemiologische Studien zeigten, dass Schwermetalle und Feinstaub Auswirkungen auf die Gehirnentwicklung von ungeborenen Kindern nehmen. Tropenkrankheiten (wie Malaria) würden sich zukünftig auch in Europa ausbreiten. Zudem sei damit zu rechnen, dass Extremwetterereignisse Ernteausfälle nach sich zögen und es daher zu einer schlechteren Nahrungsmittelversorgung kommen würde; Verteilungsproblematiken und vermehrte Migrationsbewegungen seien die Folge, was zu Konflikten und Kriegen führen könne. Sie vertiefte einzelne Aspekte:

 Naturkatastrophen und Wetterextreme

Als eine der gravierendsten Auswirkungen auf die psychische Gesundheit nannte Katharina van Bronswijk Angst- und Traumafolgestörungen. Durch das Erleben von Naturkatastrophen und durch die Zunahme von Extremwetterereignissen werde dies zukünftig mehr Menschen betreffen: bei 10 bis 15 % der Menschen führten derartige Erlebnisse zu einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTB). Entscheidend dafür sei die Art der Traumatisierung sowie die psychosoziale Versorgung nach den Ereignissen. Bei Nichtbehandlung drohe eine Chronifizierung der Symptome. In Folge dessen können Depressionen, Angststörungen oder Suchterkrankungen entstehen, laut Studien sei dies bei bis zu 49 % der Betroffenen der Fall. Somatisierungsstörungen (körperliche Symptome durch psychische Störungen) seien insbesondere bei Kindern zu beobachten.

Katharina van Bronswijk plädierte angesichts dieser Entwicklungen für eine flächendeckende Notfallversorgung und professionellere Strukturen. Der Anstieg an Menschen mit einer PTB werde in Zukunft zu einer Herausforderung für die Gesundheitssysteme, denn bereits jetzt betrage die Wartezeit für einen Therapieplatz in Deutschland ca. 5-6 Wochen. Durch die Zunahme von Naturkatastrophen sei auch in Deutschland mit einem höheren Bedarf an Psychotherapie-Plätzen zu rechnen. In Deutschland bestehe die psychosoziale Notfallversorgung (PSNV) derzeit fast ausschließlich aus ehrenamtlichen Helfer*innen – dies sei perspektivisch nicht weiter tragbar.

Hitze

Hitzeepisoden werden zukünftig zunehmen – mit zahlreichen Konsequenzen: Katharina van Bronswijk verwies auf Studien, die die Abnahme von Arbeitsproduktivität und Konzentration bei Hitze aufzeigten. Nicht zu unterschätzen sei, dass sich unter Hitzeeinwirkungen das Sozialverhalten ändere. Bei Hitze reagierten Menschen aggressiver, dies könnte insbesondere in Hochkonfliktfamilien eine Rolle spielen. Auch müsse zukünftig von großen Gruppen vulnerabler Personen ausgegangen werden: Bis zu zwei Drittel aller Menschen würden zukünftig zu den durch Hitze gefährdeten Personen zählen. Neben älteren Menschen und Kindern beinhalte das auch Menschen, die durch körperliche Arbeit, Arbeit unter freiem Himmel oder Obdachlosigkeit besonders exponiert seien. Menschen mit chronischen Erkrankungen seien ebenfalls gefährdet. Hitze, so Katharina van Bronswijk, gelte zudem als verstärkender Faktor von Demenz, bipolarer Störung oder Schizophrenie. Auch sei eine erhöhte Zahl an Suiziden und Gewaltverbrechen im Zusammenhang mit Hitzewellen festzustellen. Zudem hätten Medikamente bei Hitze teilweise veränderte Wirkungsweisen, die zu berücksichtigen seien. Manche Substanzen führten zudem zu einer schlechteren Hitzeanpassungsfähigkeit und so zu einer höheren Vulnerabilität der Behandelten.

Es sei notwendig, öffentliche Hitzeschutzräume auszubauen und zugänglich zu machen. Auch für den privaten Bereich brauche es Empfehlungen für Hitzeschutzmaßnahmen. Besonders wichtig sei, ein Verständnis in der Bevölkerung zu fördern, wie vielseitig die Wirkung langanhaltender hoher Temperaturen auf unseren Organismus und unsere Psyche ist.

Neue Herausforderungen für das Gesundheitswesen

Katharina van Bronswijk zeigte den Zusammenhang von individueller Gesundheit und Gesundheitswesen auf. Im Zentrum stehe das individuelle Wohlbefinden. Eine Verschlechterung individuell erlebter Lebensqualität wirke als Stressor im Sinne des Vulnerabilitäts-Stress-Modells. Stress könnte in einem resilienten System und durch Ressourcen abgepuffert werden. Wird ein System jedoch immer wieder gestresst und verfügt nicht über ausreichend Ressourcen, steige die Anfälligkeit für psychische Erkrankungen. Das bedeutet, dass Menschen mit Dispositionen für Krankheiten unter guten Lebensbedingungen ohne Erkrankung leben können. Stress – etwa stark veränderte Lebensbedingungen nach Naturkatastrophen, Hunger, gesundheitliche Probleme von Angehörigen – macht den Ausbruch eben dieser Krankheit wahrscheinlicher. Ein Beispiel: für einen Menschen mit depressiver Veranlagung wird mit Verschlechterung der Lebensumstände (=Stress) die Wahrscheinlichkeit höher, an einer Depression zu erkranken. Dieser Zusammenhang könne auch in der Zusammenarbeit mit Menschen mit Migrationsgeschichte relevant werden. Hier sei eine Sensibilisierung für die Problemlagen notwendig.

Nicht nur die Resilienz des Individuums, sondern des ganzen familiären Systems müsse in den Blick genommen werden. Systemische Belastungen könnten aus sozialpsychologischer Sicht zu einer Abnahme von sozialer Kohärenz und Stabilität führen. Eine Folge davon kann es zu einer gesellschaftlichen Entsolidarisierung und vermehrter Gewaltbereitschaft kommen. Dazu verwies Katharina van Bronswjik auf Studien, die den Zusammenhang von Sparpolitik im sozialen Bereich und demokratiegefährdenden Wahlergebnissen darlegen.

Climate Distress

Der Klimawandel und seine Folgen seien Auslöser von Unsicherheit und Angst, so Katharina van Bronswijk. Es gehe um die Bedrohung unserer körperlichen Unversehrtheit. Der Begriff Climate Distress  bezeichne emotionale Auswirkungen des Klimawandels: Angst – Climate Anxiety; Wut – Eco Anger und Trauer – Climate Grief/ Solastalgia. Angst und Wut seien im Diskurs relativ präsent, Trauerprozesse verliefen hingegen leise und hintergründig. Gerade das mache die Trauer zu einer Belastung, auch weil sie besonders intim sei und selten kollektiv ausgelebt werde. Der Begriff „Solastalgia = Trostschmerz“ bezeichne das Erleben ehemaliger Wohlfühl-Orte als verschwundene oder negativ veränderte Orte: wie zum Beispiel der gefällte Baum der Kindheit, die abgestorbenen Wälder im Harz, das leere Dorf an der Abbruchkante des Kohlereviers. Der Klimawandel führe bei vielen Menschen zu einem Gefühl von Kontrollverlust.

In der Diagnose von psychischen Erkrankungen seien diese spezifischen Phänomene nicht aufgenommen worden. Denn in der Diagnostik seien Gefühle keine emotionalen Störungen, sondern Bedürfnisanzeiger. Wenn sie erfüllt seien, gehe es uns gut. Sinnvoll sei daher, so Katharina von Bronswijk, diese Bedürfnisse als solche erkennen und zu erfüllen. Dies bedeute vor allem: (gemeinsam) aktiv zu werden.

Maladaptiver Umgang mit Klimagefühlen

Die Klimakrise bedrohe uns und unser Zusammenleben auf existenzielle Weise. Damit umzugehen sei nicht leicht. Katharina van Bronswijk ging auf verschiedene Coping-Strategien ein. Eine schlechte Anpassung, d.h. ein maladaptiver Umgang mit Klimagefühlen sei das Vermeiden von Nachrichten (News Fatigue). Laut Umfragen würden etwa zwei Drittel der Deutschen diesen Weg wählen. Ein gegenteiliger Umgang sei der ausdauernde Konsum von Nachrichten (Doomscrolling): das Erhalten von möglichst viel Information suggeriere einen Ausweg aus dem erlebten Kontrollverlust. Sowohl der verringerte als auch der exzessive Nachrichten-Konsum sei laut Studien mit einer wachsenden, indifferenten Wut auf Mitmenschen verbunden und daher auf Dauer nicht hilfreich.

Verarbeitungsstrategien (Climate Grief)

Verarbeitungsstrategien zu entwickeln sei eine wesentliche Aufgabe für Individuen und Institutionen. Katharina van Bronswijk stellte in dem Zusammenhang das Phasenmodell von Elisabeth Kübler-Ross vor, welches die verschiedenen Stadien im Sterbeprozess formuliert: Leugnung, Wut, Aushandlung, Depression und Akzeptanz. Diese Phasen der Verarbeitung einer existenziellen Transformation seien auch für den Umgang mit der Klimakrise erkennbar. In der Phase der Leugnung seien indes immer weniger Menschen, laut einer Studie seien etwa 6% der deutschen Bevölkerung als Klimawandelleugner*innen einzustufen.

Haltung im Diskurs einnehmen

Katharina van Bronswijk forderte das Ende des politischen Verzögerungsdiskurses. Der Ausreden-Rhetorik des „Klimaschutz ja, aber…“ müsse mit Haltung und Argumenten begegnet werden: Klimaschutz sei zwar teuer, aber nicht so teuer wie kein Klimaschutz, wenn langfristig gedacht wird. Die „Anderen“ müssten auch klimafreundlicher werden, aber das sei kein Argument für das eigene Nichtstun. Es sei zwar spät, aber nicht zu spät. Bei Verweisen auf kommende Technologien müsse man gut prüfen, ob diese Innovationen nur Scheinlösungen und Ausreden für das eigene Nichtstun oder tatsächliche Schritte auf dem Weg zu einer sozial-ökologischen Transformation seien.

Resilienz stärken

Um die psychische Widerstandsfähigkeit in Krisenzeiten zu fördern, brauche es, so Katharina van Bronswijk, drei Punkte: 1. Aufklärung und Information – um zu verstehen, was los ist; 2. Handhabbarkeit – um zu wissen, an welcher Stelle zu Lösungen beigetragen werden kann und 3. das Erleben von Sinnhaftigkeit – um zu fühlen, dass das eigene Handeln Bedeutung habe.

Der Umgang mit der Klimakrise und alle drei Aspekte gehörten in den Schulalltag. Kindern und Jugendlichen müsse hier Raum für ihre Fragen und Gefühle gegeben werden. Ebenso wichtig seien Prozesse auch in der Familie: wenn Kinder Fragen zum Klimawandel und den Folgen haben, sei es wichtig, altersgemäße, ehrliche Antworten zu bieten und gemeinsame Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen.

 Diskussion

Die Runde diskutierte, welche Herausforderungen sich aus den psycho-sozialen Folgen der Klimakrise für den familienpolitischen Bereich ergeben. Ein Ziel müsse sein, Ressourcen aufzubringen, um pädagogische und therapeutische Angebote in entsprechenden Einrichtungen und ein Netz psychosozialer Versorgung auszubauen. Diskutiert wurde in diesem Zusammenhang auch eine Vereinfachung der Zulassungensverfahren von Therapeut*innen. Es müssten Wege gefunden werden, das System flexibler zu gestalten, um auf neue Versorgungslagen im Bereich der psychischen Gesundheit reagieren zu können.

Viel stärker müsse die wissenschaftlich belegte Tatsache, dass Sparpolitik zu „extremen“, d.h. demokratiegefährdenden Wahlergebnissen führe, an die Politik herangetragen werden. Die Runde diskutierte die enge Verbindung von Ausgaben im sozialpolitischen Bereich, Demokratiestärkung bzw. –verteidigung und Klimapolitik. Gerade auf der kommunalen Ebene, die sich sehr auf das Ehrenamt stütze und sowohl durch eine angespannte Haushaltslage als auch durch die gesellschaftliche Stimmung unter Druck gerate, sei es zunehmend schwierig, sich für familienfreundlichen Klimaschutz einzusetzen. Elena Gußmann verwies darauf, dass zu diesem Thema eine weitere Veranstaltung des Bundesforums Familie in Planung sei.

Als Reaktion auf eine der Hauptaussagen des Inputs, dass gemeinsames Handeln eine zentrale Komponente für die psychische Gesundheit sei, diskutierte die Runde, wie Familien als „change agents“ verstanden und angesprochen werden können. Das Aufzeigen von Handlungsmöglichkeiten für die ganze Familie sei hier elementar – etwa eine Kinder-Fahrraddemo (Kidical mass), die auf die Notwendigkeit der Mobilitätswende hinweist und die ganze Familie anspricht. Hier müsse klassismussensibel vorgegangen werden. Klimafreundliches Verhalten müsse allen Familien offenstehen und es sei eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, dafür zu sorgen, dass alle Kinder Zugang zu zum Beipiel gesundem, ökologischen Essen sowie zu Reparatur-Treffen und Kleiderkreiseln haben. Diese Orte und Praktiken sollten nicht zu Stigmatisierung und Segregation, sondern zu einem „Wir-Gefühl“ beitragen. Als mögliche Orte für den Aufbau dieser Angebote wurden Einrichtungen benannt, an denen sich bereits Kinder und Jugendliche aufhalten: Grundschulen, Schulen, soziale Zentren. Abschließend wurde der Wunsch geäußert, das Bundesforum Familie noch mehr als Plattform für Verbände zu nutzen, die sich in diesem Bereich engagieren wollen. So könnte mehr Gewicht in die politischen Debatten eingebracht werden.

 

Auftaktveranstaltung am 13. März 2024: „Familien und Klima“

Welche Themenfelder ergeben sich an der Schnittstelle von Klima- und Familienpolitik? Der Klimawandel, dessen Auswirkungen heute bereits erleben, beeinflusst zunehmend den Alltag von Familien – und das auf vielen Ebenen: ökonomisch, sozial, emotional, gesundheitlich. Um diese Themen für den familienpolitischen Diskurs zu erschließen, trafen sich rund 60 Vertreter*innen der Mitgliedsorganisationen zum Online-Auftakt des Bundesforums Familie.

Einführung „Familien und Klima“

Zum Auftakt begrüßte Projektkoordinatorin Elena Gußmann Ulrike Bahr, Mitglied des deutschen Bundestages und Vorsitzende im Ausschuss für Familie, Frauen und Jugend. Ulrike Bahr würdigte die Themenwahl des Bundesforum Familie: sich mit Familie und Klima zu beschäftigen, sei ein zentrales und zukunftsentscheidendes Thema. Ulrike Bahr betonte, Klimaschutz sei als ein Staatsziel im Grundgesetz definiert, der klimaneutrale Umbau der Wirtschaft und des Verkehrs müsse trotz Schuldenbremse umgesetzt werden. Familienpolitische Maßnahmen und Bedürfnisse dürften dabei nicht zu kurz kommen. So verändere die Frage des Flächenverbrauchs zukünftig familiäre Wohnformen, dennoch sollte eine Berücksichtigung kindlicher Bedürfnisse und Elternwünsche auch zukünftig möglich sein.

Ulrike Bahr betonte, dass auch bei Budgetknappheit und fehlenden Ressourcen die Notwendigkeit bestehe, ein Umdenken hin zu einer nachhaltigen Lebensweise zu erreichen. Viele Menschen würden den Bedarf für klimafreundliches Verhalten sehen, aber wenig eigene Handlungsmöglichkeiten erkennen. Aufgabe der Politik sei es, diese Gestaltungsmöglichkeiten aufzuzeigen und ernst zu nehmen, dazu gehöre die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen in politischen Prozessen. Für junge Menschen seien auch Bewegungen wie Fridays for Future entscheidend.

Der neue Themenschwerpunkt berühre viele Themen, so Ulrike Bahr. Sie sei gespannt, wie diese Fragen von Bildung, Mobilität, Ressourcenverbrauch und vielem mehr im Bundesforum Familie in den nächsten Jahren bearbeitet würden.

Input: Warum und wo der Klimawandel Familien besonders betrifft

An die familienpolitische Eröffnung schloss Mona Treude, Senior Researcherin am Wuppertal-Institut für Klima, Umwelt, Energie, mit einem Beitrag aus der Perspektive der Klimawissenschaften an. Sie verwies auf die Dringlichkeit klimapolitischen Handelns. Würden die sogenannten Kipppunkte erreicht, könne der Klimawandel nicht mehr gestoppt werden. Betroffen von den heutigen Entscheidungen seien vor allem Kinder und zukünftige Generationen. Obwohl die junge Generation am wenigsten für den heutigen Klimawandel verantwortlich sei, werde sie die Generation sein, die zukünftig am meisten darunter leide. Klimapolitik sei daher nicht nur eine Frage der globalen, sondern auch der intra- und intergenerationellen Gerechtigkeit. Die ökologische Krise sei, so Mona Treude, im Kern eine soziale Frage.

Zur Gerechtigkeitsfrage gehöre, dass die heutigen Generationen in allen Teilen der Welt unterschiedlich stark von den Auswirkungen betroffen seien. Erderwärmung, aber auch Artensterben verändere den Lebensalltag von Familien jetzt und perspektivisch unterschiedlich stark. Soziale Disparitäten seien derzeit so groß wie nie zuvor. Es sei belegt, dass mit höherem Einkommen der Einfluss auf den Klimawandel steige, jedoch auch die Möglichkeiten, sich vor den Auswirkungen zu schützen. Diese Schutzmöglichkeiten hätten einkommensschwächere Haushalte oft nicht. Innerhalb der Familien lebten zudem besonders vulnerable Bevölkerungsgruppen wie pflegebedürftige Menschen, was Familien doppelt stark betroffen mache. Andererseits seien auch Familien selbst die Treiber der Klimakrise.

Problematisch sei, dass klimapolitische Maßnahmen gegenwärtig zu viele Auswirkungen auf einkommensschwächere Haushalte haben. Politik müsse die Rahmenbedingungen schaffen, damit einerseits die Belastungen auf stärkere Schultern verteilt werden, andererseits müsse es Familien erleichtert werden, sich klimafreundlich zu verhalten. Ansätze hierfür wären die Sicherung einer gerechteren Wohnraum- und Bodenverteilung, soziale Garantien wie das Grundeinkommen und nachhaltige Konzepte wie das der autofreien Stadt. Die Bausteine für Klimagerechtigkeit des konzeptwerks neue ökonomie böten eine gute Orientierung, welche acht Maßnahmen für eine solidarische Zukunft maßgeblich seien. Als konkretes positives Umsetzungs-Beispiel nannte Mona Treude die nachhaltige Stadtentwicklung der Stadt Wien.

In der gegenwärtigen Krisensituation befinde sich die Menschheit zwischen Allmacht und Ohnmacht. Der Klimawandel sei menschengemacht und könne ebenfalls durch menschliches Handeln abgeschwächt werden. Dafür sei ein Umdenken alternativlos – wie kann das gelingen?

Mona Treude betonte die Notwendigkeit, den Blick auf „Change Agents“ zu lenken. Wer sind die, die Veränderung anstoßen? Ängste führten dazu, dass Menschen ihr Selbstwirksamkeitsgefühl verlören, was die eigene Handlungsfähigkeit blockiere. Bewegungen wie Fridays for Future zeigten dagegen, dass auch Kinder, Jugendliche und Familien großartige Akteure sein könnten. Denn man wisse viel über das Problem der Klimakrise, man kenne gute Lösungen, es fehle an der Umsetzung bzw. der Einforderung der Umsetzung. Hier fehle eine klare politische Kommunikation und vor allem nachhaltige Bildung.

Mona Treude betonte die Vorbildfunktion von und in Familien und zeigte mehrere Ansätze auf, wie in Familien klimarelevantes Handeln thematisiert werden könnte: so zeige die Berechnung des CO2-Fußabdrucks, dass Klimaschutz in der Verantwortung jeder und jedes Einzelnen stehe. Die Betrachtung des eigenen ökologischen Handabdrucks zeige die Wirksamkeit des eigenen Handelns. Mit gemeinsamen Herausforderungen wie der „Klimafit-Challenge“, zu der man sich auch als Familie anmelden könne, werde klimafreundliches Handeln lern- und erfahrbar. Es gehe insgesamt darum, eigene Handlungsspielräume zu erkennen, zu nutzen und an das Umfeld zu kommunizieren. Dabei sei es sinnvoll, alle Lebensbereiche zu beachten und nicht nur Bereiche wie Mobilität und Nahrung, sondern auch Geldanlagen auf eine nachhaltige Ausrichtung zu überprüfen. Dies alles gelte nicht nur für Familien, sondern auch für Familienorganisationen, die hier ebenfalls mit gutem Beispiel vorangehen könnten.

Nicht zuletzt gehöre zu einer sozial-ökologischen Transformation ein Umlernen zu einem anderen Verständnis von Wohlstand. Es müsse gesellschaftlich neu ausgehandelt werden, was gutes Leben bedeute: zum Beispiel Zeit zu haben und diese in intakter Natur verbringen zu können, mit sauberer Luft und gesunden Lebensmitteln. Die wissenschaftliche Kommunikation thematisiere im bisherigen Diskurs zu sehr den Verzicht. Auf diese Verzichtsdebatte solle verzichtet und stattdessen betont werden, dass durch einen Lebenswandel, der die planetaren Grenzen nicht überschreite, mehr Lebensqualität gewonnen werden könne. Es gehe nicht allein um Suffizienz („weniger“), sondern um mehr Effizienz („besser“) und Konsistenz („anders“). Diese Sichtweise sei besonders bedeutend für Kinder und Jugendliche.

Diskussion

In der anschließenden Diskussionsrunde wurden im Vortrag angesprochene Aspekte aufgegriffen. Mehrfach wurde der Eindruck geteilt, dass bei der Größe des Themas im Diskurs leicht der Überblick verloren gehe. Dies gelte sowohl dafür, was es bereits an Bausteinen, Zielvorgaben oder Aktionsplänen auf den unterschiedlichen Ebenen (UN/EU/National) gebe, als auch dafür, was eigentlich das Ziel der Handlungen sei – Klimaschutz oder Klimagerechtigkeit, Naturschutz oder Menschenrechte. Ebenfalls wurde diskutiert, inwiefern, Arbeitszeitverkürzung klimagerecht sei. Mit mehr verfügbarer Zeit werde ermöglicht, so Mona Treude, den eigenen Lebensstil nachhaltiger auszurichten. Dies sei jedoch kein Selbstläufer, es brauche dafür die richtigen Rahmenbedingungen. Die Runde diskutierte die Rolle von Familien in der sozialökologischen Transformation und die Verantwortung, gerade Kindern und Jugendlichen nicht nur die Bedrohung durch die Klimakrise, sondern auch die Handlungsmöglichkeiten in der Klimakrise aufzuzeigen. Die Generationen müssten hier gemeinsame Lösungen finden. Familien seien dafür relevante „Change-Agents“, da sie nicht nur als wichtige Orte des Generationendialogs, sondern auch schlicht durch die große Anzahl ins Gewicht fallen. Wie können Bedingungen geschaffen werden, damit Familien eine ökologische Lebensweise möglich ist? Welche Projekte, welche Angebote sind sinnvoll? Hier diskutierten die Teilnehmer*innen die Rolle der Kommunen und regten an, dies im Verlauf der Themenperiode zu intensivieren.

Familienorganisationen und Klima

Im zweiten Teil stellte Elena Gußmann die Ergebnisse der Mitgliederbefragung vor, mit der im Vorfeld der Veranstaltung Interessen und existierende Ansätze der Organisationen im Themenfeld „Klima“ erhoben worden waren.

Die mehr als 30 Antworten zeigten, dass sich viele Mitgliedsorganisationen des Bundesforums Familie bereits eingehend und auf unterschiedlichen Ebenen mit der Thematik beschäftigen. Von konkreten Maßnahmen im Arbeitsalltag, wie der Umstellung auf regionale und/oder vegane Verpflegung oder Nutzung des ÖPNV bei Dienstreisen bis zu inhaltlicher Bearbeitung des Themas in Stellungnahmen, Veranstaltungen oder Materialien wurde eine große Bandbreite sichtbar. Um einen Einblick zu erhalten, wurden zwei Mitgliedsverbände eingeladen, ihre Maßnahmen und Projekte vorzustellen.

DEUTSCHER CARITASVERBAND

Liliane Muth vom Deutschen Caritasverband startete mit der Anmerkung, dass derzeit alle großen Wohlfahrtsverbände aktiv dabei seien, Maßnahmen für den Klimaschutz zu entwickeln. Der Deutsche Caritasverband habe es sich zur Aufgabe gemacht, mit seinen rund 25.000 Einrichtungen und Diensten bis 2030 klimaneutral zu werden. Dabeiwürden unterschiedlichen Bedingungen, Personalmangel und Finanzierungsgrundlagen der Caritas-Einrichtungen den Weg häufig erschweren. Klimaschutz sei leider trotz der ambitionierten Selbstverpflichtung im konkreten Fall oft noch eine „C-Priorität“. Es gelte daher, im Einzelfall zu schauen, welche Möglichkeiten für jeweilige Einrichtungen machbar seien, etwa in den Bereichen Gebäude und Mobilität oder in der Beschaffung von Lebensmitteln, Textilien, Hygieneartikeln und Elektrogeräten. Eine erste interne Klimabilanz habe gezeigt, was bereits erreicht wurde und wo weitere Einsparungsmöglichkeiten lägen. Von dieser Bestandsaufnahme ausgehend, könnten Veränderungen strukturiert angegangen werden. Der Bundesverband der Caritas stelle dafür seinen Mitgliedern Tools zu Verfügung. Oft liege es jedoch an einzelnen „begeisterten Kümmerern“, ob diese auch genutzt würden.

Liliane Muth betonte, dass der Kern der pädagogischen Arbeit der Caritas die Stärkung von Kindern und Jugendlichen für die Zukunft sei. Dies müsse im Sinne der Notwendigkeit der Generationengerechtigkeit umgesetzt werden. Ein Bezugspunkt für diese Ausrichtung sei der General Comment 26, der zum Schutz der Kinderrechte umgesetzt werden müsse. Die UN-Kinderrechtskonvention erfordere deutlich mehr Umsetzung von Klimaschutz, als derzeit realisiert werde. Entscheidend für die Umsetzung einer sozioökonomischen Wende sei nicht die Selbstverpflichtung weniger, sondern politisches Handeln maßgeblich, insbesondere die Einführung des Klimagelds und die Stärkung einer solidarischen Politik. Dazu gehöre beispielsweise, energetische Sanierungen auch von günstigen Mietwohnungen umsetzbar zu machen, ohne dass Mieter*innen einen Nachteil haben. Der ÖPNV sollte zudem kostenlos sein und besonders im ländlichen Raum mehr ausgebaut werden.

Liliane Muth stellte als konkretes Projekt der Caritas den „Stromsparcheck“ vor. Das Verbundprojekt von Caritas und Bundesverband der Energie- und Klimaschutzagenturen Deutschland werde vom Bundesumweltministerium gefördert und sei in mehr als 150 Städten und Landkreisen aktiv. Das Programm richte sich an Menschen mit wenig Geld, die Bürgergeld, Sozialhilfe, Grundsicherung oder Wohngeld, eine geringe Rente, Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz oder Kinderzuschlag beziehen oder deren Einkommen unter dem Pfändungsfreibetrag liegt. Mit dem Projekt werde gleichzeitig der Klimaschutz und die Energiearmut thematisiert, indem für konkrete Haushalte Energieeinsparpotentiale aufgezeigt werden. Auch eine Bezuschussung beim Neukauf klimafreundlicher Geräte sei möglich. Die Erfahrung des Projekts zeige, dass in Haushalten Energie-Einsparungen von bis zu 15 % möglich seien.

BUNDESVERBAND DER MÜTTERZENTREN

Sarah Schöche, Nachhaltigkeitsbeauftragte des Bundesverbands der Mütterzentren, betonte, dass Nachhaltigkeit seit der Gründung vor 40 Jahren als leitendes Prinzip der Mütterzentren gelte. Mitnahmeregale oder Repair-Cafés seien Beispiele für diese gelebte Praxis. Das Projekt „Fairändern“ der Nachhaltigkeitsgruppe in Langen, das 2023 einen Nachbarschaftspreis erhielt, zeige etwa auf, wie durch verändertes Konsumverhalten im Familienalltag ein plastikfreies Leben möglich werde. In der, in den Mütterzentren umgesetzten Umwelterziehung für Kinder werde Wert daraufgelegt, positive Beispiele und Einsichten zu geben, statt allein von Verzicht zu sprechen. Sarah Schöche benannte dazu einzelne Projekte wie eine Ferienspielwoche, die Auszeichnung zur Umweltheld*innen oder gemeinsames Basteln mit Upcyling-Materialien. Die Grundidee der Bildungsangebote sei „Was ich kenne und liebe schütze ich“ – und so gelte es, mit Kindern und Jugendlichen etwa Insektenhotels zu bauen und Pflanztage zu veranstalten und erfahrbar zu machen, dass Naturschutz selbst in die Hand genommen werden kann. Wissensvermittlung zur klimafreundlichen Ernährung werde anwendungsorientiert, zum Beispiel durch Kochkurse mit Gemüse aus dem eigenen Garten, vermittelt. Sarah Schöche nannte weitere Projekte wie Lebensmittelrettung und ein nachhaltiges Weihnachtsfest als Beispiele für die Vermittlung von Nachhaltigkeit für Familien. Bundesweit sorge die Vernetzung der Mütterzentren für einen Austausch, so dass diese Ideen weitergegeben werden und kooperiert werden könne.

DISKUSSION

Klimawandel, so stellte die Diskussionsrunde fest, sei eine komplexe Herausforderung, verbinde die globale Dimension mit kleinen Alltagshandlungen, individuelle, kollektive und institutionelle Dynamiken. Gerade wegen dieser Vernetzung der Probleme müssten auch die Lösungsansätze vernetzt gedacht werden. Daher sei es wichtig, Klima- und Sozialpolitik zusammenzudenken, wobei Familienpolitik durch die Thematisierung und Adressierung von unterschiedlichen Generationen eine besonders relevante Rolle zukomme. Zusammenarbeit zwischen familienpolitischen und umweltpolitischen Organisationen sei hier sehr sinnvoll, wie auch durch die vorgestellten Beispiele verdeutlicht werden konnte. Gerade in der Jugendhilfe oder an Schulen könne das gut gelingen. Die weltweit angelegte Kampagne „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ biete hier wertvolle Ansatzpunkte. Bemerkt wurde, dass durch die Größe des Themas oft der Überblick fehle: Es gebe bereits viele rechtliche Konstrukte, Aktionsprogramme und Zielsetzungen auf UN-, EU- und nationaler Ebene. Jedoch sei in der familienpolitischen Arbeit sowie in Fragen der Umsetzung nicht immer offensichtlich, mit welchen dieser unterschiedlich verbindlichen Grundlagen sich gut für die Belange von Familien argumentieren lasse.

Kritisch gesehen wurde, dass es vielen Organisationen an verlässlicher und ausreichender Finanzierung fehle, die es erschwerten, in der eigenen Arbeit mehr Klimaschutz umzusetzen. Zwar könne weniger finanzielle Ausstattung auch unfreiwillig zu klimafreundlicherem Handeln führen – wenn etwa aus Kostengründen keine Flugreisen mehr getätigt werden. Gerade Investitionen in Klimaschutzmaßnahmen, etwa bei energetischen Sanierung, seien jedoch zu oft nicht umsetzbar. Im Zusammenhang mit dem Thema „Klimawandel und psychische Gesundheit“ wurde angemerkt, dass Klimaängste nicht nur ein Problem von Familien seien, sondern auch Fachkräfte betreffen würden. Hierfür brauche es mehr Sensibilisierung und vor allem Hilfestellung.

Aussicht auf 2024/25

Elena Gußmann stellte das weitere Vorgehen des Bundesforums Familie in der Themenperiode 2024/25 vor. Die Geschäftsstelle habe aus den Diskussionen des Netzwerktreffens am 17. Oktober 2023, den Rückmeldungen der Mitgliederbefragung Anfang 2024 und dem Austausch mit dem Beirat mehrere Vorschläge erarbeitet, über die nun abgestimmt werden könne. Die Auswahl bilde einen Großteil der genannten Interessen und Fragestellungen ab – von „Klimageld“ über „ökologische Kinderrechte“ bis zu „Generativität“.

Da nicht alles bearbeitet werden könne, solle nun gewichtet werden, zu welchen Aspekten die Geschäftsstelle Veranstaltungen organisieren soll. Ad-Hoc-AGs solle es in dieser Themenperiode nicht geben, dennoch solle die Expertise der Mitgliedsorganisationen aktiv in die Veranstaltungsplanung einfließen und eine Beteiligung bei der inhaltlichen Gestaltung und Nachbereitung der Ergebnisse möglich gemacht werden. Zuletzt wurde das Netzwerktreffen am 16. Oktober 2024 angekündigt, das als Präsenzveranstaltung in Berlin stattfinden wird.

 

 

 

Publikation “Unterstützungsstrukturen für Familien” vom Bundesforum Familie an die Vorsitzende des Familienausschusses übergeben

Am 15. Januar übergaben Elena Gußmann, die Projektkoordinatorin des Bundesforums Familie und Sven Iversen, Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft der deutschen Familienorganisationen die Abschlusspublikation der Ende 2023 abgeschlossenen Themenperiode an die Vorsitzende des Familienausschusses im Bundestag, Ulrike Bahr.

Übergabe der aktuellen BFF-Publikation an Ulrike Bahr

Bild: Dr. Ruth Vornefeld / Büro Ulrike Bahr

In den Jahren 2022/2023 arbeiteten die Mitglieder intensiv zum inhaltlichen Schwerpunkt „Unterstützungsstrukturen für Familien: Wie sind Angebotsstrukturen der Familienunterstützung in Deutschland konzipiert, organisiert und umgesetzt?“. Die nun übergebene Publikation „Unterstützungsstrukturen für Familien – Zielsetzungen, Zugänge, Angebote“ fasst den Prozess, der aus Fachveranstaltungen und Arbeitsgruppentreffen bestand, zusammen.

Bei der Übergabe unterstützen alle Beteiligten die im Bericht betonte Bedeutung des politischen Willens, präventive Maßnahmen umzusetzen. Dies stets zu betonen sei auch deshalb wichtig, weil deren Effekte oft schwer quantifizierbar seien und sich erst Jahre später zeigen. Im Bericht heißt es dazu: „There is no glory in prevention“. Gleichzeitig wird dort der zwingend notwendige gesamtgesellschaftliche, von den (monetären) Interessen von Einzelressorts befreite Blick hervorgehoben.

In einem zweiten Teil des Gesprächs wurde die neue Themenperiode des Bundesforum Familie in den Jahren 2024 und 2025 thematisiert: Familie und Klima. Hier begrüßten die Beteiligten die Themenwahl der Mitglieder des Bundesforums Familie und betonten die hohe Bedeutung für Familien. Insbesondere wird die nächsten Generationen wird dies existenziell beschäftigen, aber auch Älteren macht die klimatische Veränderung zu schaffen. Angesprochenw urde auch, dass zum Beispiel monetär benachteiligte Familien sowohl von den Auswirkungen des Klimawandels, als auch von den politischen Maßnahmen zu deren Abschwächung verhältnismäßig stärker getroffen als wohlhabende Familien, obwohl sie verhältnismäßig wenig zu deren Ursachen beitragen. Betont wurde auch, dass bei der Behandlung des Themas die Klimafolgenanpassung und der Klimaschutz sowohl auf der individuellen als auch auf der gesellschaftlich / politischen Ebene angesprochen werden müssen und auch die Rolle der Organisationen und Akteure selbst thematisiert werden sollten.

Die Ausschussvorsitzende wird im Anschluss an das Gespräch die Publikation des Bundesforums Familie an die einzelnen Mitglieder des Familienausschusses übergeben.

Diese kann hier auch als PDF abgerufen werden. Für Druckexemplare wenden Sie sich gerne an die Geschäftsstelle des Bundesforums Familie: info@bundesforum-familie.de.

Umfrage „Familien und Klima“

2. Dezember 2024, Berlin: „Migrantische Familien zwischen Mehrfachbelastung und Neuanfang“ Fachtagung des Bundeselternnetzwerks

Das Bundeselternnetzwerk und das vom BMFSFJ geförderte Projekt FamPower² laden zur Fachtagung „Migrantische Familien zwischen Mehrfachbelastung und Neuanfang“ mit anschließendem Empfang ein.
Die hybride Tagung widmet sich den Herausforderungen, denen neu ins Land gekommene Familien nach ihrer Ankunft in Deutschland gegenüberstehen, aber auch den Möglichkeiten eines Neuanfang.

Veranstaltungdatum: 2. Dezember 2024, 10-17 Uhr
Veranstaltungsort: Refugio, Lenaustraße 4, 12047 Berlin

Nähere Informationen sowie die Möglichkeit zur Anmeldung finden Sie hier. 

21. November 2024, online: „Familien gestalten die Welt von morgen. Impulse für ein nachhaltigeres Familienleben“ Fachtag der AWO

Nachhaltigkeit ist ein Thema, das viele Menschen bewegt. Dabei geht es nicht nur um die Frage, ob die Erde auch in der Zukunft ein Ort sein wird, an dem Menschen gut leben können. Sondern es geht auch darum, was wir tun können, damit wir die Welt schon heute ein bisschen besser machen können: für uns, unsere Kinder, für Menschen in aller Welt.

Wie können Familien durch kleine Veränderungen im Alltag dazu beitragen, negative Auswirkungen auf Umwelt, Tiere, Klima und Menschen so gering wie möglich zu halten? Wo gibt es im Familienleben Möglichkeiten, sorgsamer mit Ressourcen wie z.B. Energie und Wasser umzugehen? Wie können wir uns gemeinsam mit den Familien in unseren Einrichtungen diesem Thema nähern?

Nach Impulsen zum Maßnahmenplan der AWO für Klimaschutz durch Steffen Lembke (Abteilungsleitung Nachhaltigkeit/QM im AWO BV) und zu Nachhaltigkeit und Ressourcenschonung durch die Aktivistin Elena Tzara, lernen die Teilnehmer*innen Beispiele guter Praxis kennen. Workshops am Nachmittag bieten Gelegenheit, unterschiedliche Themenaspekte zu vertiefen, und laden zum Austausch und gemeinsamen Denken ein:

  • „Ernährung… gesund, bezahlbar und klimafreundlich?!“
  • „Konsum und Kleidung – gibt es nachhaltige Alternativen für die ganze Familie?“
  • „Sind (auch) Kinder (schon) auf das Auto angewiesen?“
  • „Müllvermeidung schont Umwelt und Geldbeutel – echt jetzt?“

Die Veranstaltung richtet sich an alle, die als Multiplikator*innen in Kitas, Familienbildungseinrichtungen, Schulen oder anderen Einrichtungen mit Familien in Kontakt sind und sie auf dem Weg zu einem nachhaltigeren Familienleben begleiten wollen.

Informationen zum Programm und die Möglichkeit zur Anmeldung finden Sie hier: Familien gestalten die Welt von morgen – Impulse für ein nachhaltigeres Familienleben | AWO Veranstaltungsservice

 

 

16. Oktober 2024, Berlin: Netzwerktreffen des Bundesforums Familie

16. Oktober 2024 | 10:30 – 16:00 | Centre Monbijou Berlin

Welche Familien tragen die Lasten der Klimakrise und wie können Klimageld und andere politische Instrumente diese Last gerechter verteilen? Inwiefern steckt in der notwendigen Transformation nicht nur eine Mehrbelastung, sondern eine Chance für Familien?

Wir alle sind vom Klimawandel betroffen. Kurzfristig jedoch treffen die Auswirkungen des Klimawandels – seien es finanzielle, gesellschaftspolitische oder gesundheitliche – nicht alle gleich. Über „Familien und Klima“ lässt sich kaum nachdenken, ohne anzuerkennen, dass unterschiedliche Familien mit unterschiedlichen Perspektiven auf den Klimawandel blicken und unterschiedlich viel Last, auch die Last anderer Krisen, zu tragen haben – obwohl gerade einkommensschwächere Familien weit weniger zur Erderwärmung beitragen. Wie transformationsbereit, wie besorgt oder wie belastet Familien sind, hat maßgeblich mit sozioökonomischen Verhältnissen und der politischen Grundorientierung zu tun.

In welchen Familien wird das Thema auf welche Weise diskutiert? Was schafft Akzeptanz, was Abwehr von Klimaschutzmaßnahmen? Wie gelingt es, dass sich existierende soziale Disparitäten nicht weiter verschärfen? Konkrete politische Maßnahmen wie das Klimageld sollen helfen, Mehrkosten und Preissteigerungen auszugleichen und insbesondere Familien mit kleinen und mittleren Einkommen ganz konkret in ihrem Alltag zu entlasten. Welche Maßnahmen stehen an und wie steht es um deren Umsetzung? Wie können sich familienpolitische Akteure im Diskurs sinnvoll positionieren?

Wir freuen uns darauf, diese Fragen gemeinsam mit Ihnen und folgenden Referent*innen zu diskutieren: Prof. Dr. Frank Nullmeier (Universität Bremen, Deutsches Institut für Interdisziplinäre Sozialpolitikforschung [DIFIS]), Dr. Stefan Bach (Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung e.V. [DIW]), Gesine Höltmann (Sanktionsfrei e.V.), Jana Holz (Friedrich-Schiller-Universität Jena).

Programm

10:30 Ankommen
11:00 Begrüßung und Einleitung
Elena Gußmann, Geschäftsstelle Bundesforum Familie
11:10 Input: „Wie kann eine Integration von Ökologie- und Sozialpolitik aussehen? – Neue Risiken, Ökosozialversicherung und Politik des Genug“
Prof. Dr. Frank Nullmeier, Universität Bremen, Deutsches Institut für Interdisziplinäre Sozialpolitikforschung (DIFIS)
Anschließend kurzes Q&A
11:40 Input: „Sozialer Ausgleich im Klimaschutz: Wie gelingt die Einführung eines Klimageldes in Zeiten knapper Haushalte?“
Dr. Stefan Bach, Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung e.V. (DIW), wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung StaatAnschließend kurzes Q&A
12:05 ~ kurze Pause ~
12:10 Impuls: „Klimageld – Wir fangen an!“
Gesine Höltmann, Sanktionsfrei e.V.
12:25 Diskussion
12:45 ~ Mittagessen ~
13:30

 

Input: „Der neue sozial-ökologische Klassenkonflikt?“
Jana Holz, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Institut für Soziologie, Nachwuchsgruppe flumen
Anschließend kurzes Q&A
14:00 Antworten auf die öko-soziale Frage?
Diskussion in 2 Workshop-Runden
14:20 Workshop-Runde 1
14:55 ~ Kaffeepause & Gruppenwechsel ~
15:10 Workshop-Runde 1
15:45 Ergebnissicherung und Abschlussrunde
16:00 Ende der Veranstaltung

Informationen zum Tagungsort und zur Anfahrt finden Sie hier.

Das Netzwerktreffen ist Vertreter*innen aus den Mitgliedsorganisationen des Bundesforums Familie vorbehalten. Die Teilnahme ist kostenfrei. Bitte melden Sie sich bis zum 09. Oktober 2024 hier an:

 

 

 

 

Fachforum am 16. Mai 2023: „Familienunterstützung finanzieren: Rahmenbedingungen, Umsetzungen, Ziele“

16.05.2023, Berlin | Das dritte und letzte Fachforum der Themenperiode „Unterstützungsstrukturen für Familien – Wege zu wirksamen Angeboten“ fand am 16. Mai 2023 im Festsaal der Berliner Stadtmission statt. Die über 40 Teilnehmer*innen aus den Mitgliedsorganisationen des Bundesforums diskutierten die rechtlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen von Familienunterstützung, deren Umsetzung und identifizierten gemeinsam notwendige Schritte in Richtung einer flächendeckenden, ausfinanzierten und nachhaltigen Angebotsstruktur für Familien.

Neben den finanziellen Mitteln standen auch Ressourcen wie Personal und strukturelle Fragestellungen im Zentrum der Veranstaltung. Den Auftakt machte Dr. Till Nikolka (Deutsches Jugendinstitut), der zu kommunalen Finanzen und Angebote der Kinder- und Jugendhilfe referierte. Anschließend gab Dr. Laura Castiglioni (Deutsches Jugendinstitut) Aufschluss über die Frage nach gesetzlichen Rahmenbedingungen und Umsetzungspflichten, die sich durch das SGB VIII ergeben. Auf diesen Input aufbauend, wurden konkrete Umsetzungsbeispiele aus Thüringen (Dr. Stefanie Hammer | Thüringer Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie) und NRW (Christina Wieda (Universität Speyer / Bertelsmann Stiftung) vorgestellt. Am Nachmittag eröffnete Christina Wieda die Diskussion über kommunales Handeln vor dem Hintergrund der Kooperationsgesetze im Sozialgesetzbuch. In einer World-Café-Diskussion entwickelten die Teilnehmer*innen konkrete Ideen, wie Familienunterstützung strukturell und finanziell besser in Recht und Gesellschaft verankert werden könnte.

Impulsvortrag: „Kommunale Finanzen und Angebote der Kinder- und Jugendhilfe“

Dr. Till Nikolka vom Deutschen Jugendinstitut präsentierte Forschungsergebnisse zu kommunalen Finanzen und Angeboten der Kinder und Jugendhilfe (KJH). In die Untersuchung einbezogen waren Daten von öffentlichen Ausgaben der Verwaltungshaushalte anhand der Einnahmen- und Ausgaben-Statistik der KJH, Ausgaben aller öffentlicher Träger der KJH sowie Regionalkennzahlen der amtlichen Statistik (2015—2020). Diese Daten wurden jeweils anhand der Gesamtvolumina pro Einwohnerzahl auf der Ebene der Landkreise und kreisfreien Städte berechnet. Dr. Till Nikolka gab zu bedenken, dass Ausgaben von freien Trägern und Eigenfinanzierungen nicht in diesen Statistiken erfasst seien. Als Forschungsergebnis habe sich ein deutlicher Anstieg von Ausgaben über die Jahre gezeigt. Dieser sei unter anderem durch die Aufnahme vieler unbegleiteter geflüchteter Jugendlicher zu erklären. Ein weiteres Ergebnis seien die sehr stark variierenden Höhen der Ausgaben pro Einwohner*in. Die Forschungsergebnisse ließen erkennen, so unterstrich Dr. Till Nikolka, dass insgesamt nicht zu wenig Geld im System der KJH für Familien vorhanden sei. Finanzielle Ressourcen für Angebote der KJH seien jedoch in den Regionen sehr unterschiedlich verteilt. Beforscht wurden daher die kausalen Verbindungen zwischen kommunalen Strukturen und der Ausgestaltung der Finanzierung. Schlussfolgernd sei erkennbar: die Konkurrenz um Mittel und Ressourcen steige, je höher die Kommunen belastet seien. Das SGB II und die Hilfen zur Erziehung stünden in Konkurrenz um eine konstante Mittelversorgung. Dies erkläre sowohl die große Variation der einzelnen kommunalen Ausgaben bei den Hilfen zur Erziehung als auch den Anstieg der Mittelausgaben über die Zeit sowie die Varianzen auf der Bundes- und Landesebene. Entscheidend sei daher gewesen, bei der Ergebnisbewertung strukturelle Unterschiede der Kommunen, Kreise und kreisfreien Städte zu berücksichtigen. Insbesondere bei den Hilfen zur Erziehung sei der strukturelle Aufbau innerhalb der Kreise und die wahrgenommene Zuständigkeit der Jugendämter entscheidend.

Dr. Till Nikolka (DJI)

Einschränkend gab Dr. Till Nikolka zu bedenken, dass aufgrund der Datenlage bisher nur eine rein deskriptive Darstellung jedoch keine umfassende Analyse der Zusammenhänge möglich sei. So sei zum Beispiel in den amtlichen Statistiken der KJH keine Differenzierung der Mittelherkunft möglich. Eine interregionale Vergleichbarkeit sei daher nicht gegeben. Auch seien die Produktkataloge der KJH der einzelnen Kommunen sehr unterschiedlich. Eine Datenerweiterung sei geplant, die zukünftig die Jahresrechnungsstatistiken der Kommunen sowie die Personalstatistik der nicht-stationären Einrichtungen der KJH berücksichtige. Zukünftig müsse die Datenqualität jedoch verbessert werden, um u.a. einzelne Themen der Sozialarbeit oder Finanzierungsvariationen, etwa die Kofinanzierung von Angeboten durch die Familien selbst, einzeln zu erfassen und auszuwerten.

Diskussion

Das Fachforum diskutierte die Ergebnisse von Dr. Till Nikolka insbesondere im Hinblick auf die Freiwilligkeit und die verpflichtenden Leistungen der Kommunen sowie auf die Herausforderungen föderaler Strukturen. Als problematisch wurde erkannt, dass laut den Ergebnissen primär die präventiven Maßnahmen von Kürzungen betroffen seien, bei invasiven Maßnahmen hingegen die Ausgaben stiegen. In diesem Zusammenhang wurde gefordert, dass es sei wünschenswert sei, empirisch zu belegen, dass höhere Ausgaben im präventiven Bereich Ausgaben im invasiven Bereich auf lange Sicht mindern.

Wahlmöglichkeit und Umsetzungspflicht

Die Freiwilligkeit und Verpflichtung der Länder und Kommunen zur Finanzierung und Ausgestaltung familiärer Unterstützungsstrukturen war Thema im Beitrag von Dr. Laura Castiglioni. Sie stellte den gesetzlich bindenden Rahmen des Bundes im § 16, SGB VIII vor, dessen rechtliche Stellung sowie die Rolle der Länder bei der Umsetzung. Dr. Laura Castiglioni stellte heraus, dass der allgemeinen Förderung der Erziehung in Familien eine präventive Funktion zugeordnet sei. Die im Gesetzestext formulierte Konkretisierung der Erziehungshilfen begründeten dafür eine Verbindlichkeit (Sollpflicht). Rechtlich festgehalten sei ebenso in § 16, Abs. 1, dass die näheren Ausführungen durch das Landesrecht geregelt seien. Durch diese Kombination entstehe die Schwierigkeit, dass kein individueller Rechtsanspruch bestehe, der das Recht für Familien einklagbar machen würde. Die Rechtslage zeige weiterhin Überschneidungen der Paragrafen § 16 und § 17 des SGB V III, so dass es zu einem fließenden Übergang zwischen präventiven und invasiven Angeboten komme. Entscheidend sei daher, wie die Länder diese rechtliche Lage handhaben.

Wie es aussehen kann, wenn die Länder diese Ausgestaltungsmöglichkeiten nutzen, zeigten anschließend zwei länderspezifische Umsetzungsbeispiele:

1. Thüringen: Familienförderungssicherungsgesetz

Dr. Stefanie Hammer, Referentin für Familien- und Seniorenpolitik im Thüringer Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie stellte das Thüringer Familienförderungssicherungsgesetz (ThürFamFöSiG) vor. Das erste ThürFamFöSiG (2006) sei nach einem Paradigmenwechsel 2018 neu aufgestellt und nach einer Modellphase seit 2019 in Kraft. Ziel des neuen Gesetzes sei eine bedarfsgerechte, Demografie feste und beteiligungsorientierte Familienförderung. Die Reform sei durch den Koalitionsvertrag 2014 angestoßen und unter Beteiligung aller Akteure entwickelt worden.

Dr. Stefanie Hammer (TMASGFF)

Der Paradigmenwechsel sei vom Land Thüringen als notwendig erachtet worden, um auf gesellschaftliche Veränderungen (z.B. neue Familienformen, demografischer Wandel) zu reagieren. Ein nun genutzter inklusiver Familienbegriff werde auch älteren Menschen gerecht, die jetzt explizit als Bestandteil der Familien verstanden würden. Um auch den heterogenen Lebensbedingungen in Thüringen (starke Stadt-Land-Unterschiede) gerecht zu werden, sei auf der Grundlage des Familienförderungssicherungsgesetzes eine regionale und überregionale Trennung der Familienförderung sowie eine regionale und überregionale Sozialplanung eingesetzt worden. Eine Bedarfsermittlung habe Aufschluss über unterschiedliche soziale Lagen gegeben. Durch den überregionalen Landesfamilienförderplan sowie einem überregionalen Landesfamilienrat wird die Finanzierung und Steuerung der Familienförderung auf überregionaler Ebene gewährleistet. Das Landesprogramm „Solidarisches Zusammenleben der Generationen“ ist für die Steuerung auf regionaler Ebene zuständig. Damit werden Projekte auf Mikro-, Meso- und Makroebene finanziert; auch die Finanzierung freiwilliger Leistungen ist möglich. Zuwendungsempfänger sind Landkreise und kreisfreie Städte, welche die Mittel an die Träger weitergeben. Damit hat das Land die Steuerung der Ausgaben teilweise an die Kommunen abgegeben.
Erfolgsfaktoren des neuen Familienfördergesetzes, so Dr. Stefanie Hammer, seien insbesondere der politische Wille, die gesetzliche Festlegung der Fördersumme von 10 Millionen Euro sowie die Vorerfahrung im Bereich der Sozialplanung auf kommunaler Ebene durch die ESF-Förderungen. Als regionale erfolgreiche Formate nannte Dr. Stefanie Hammer Dorfkümmerer, Familienlotsen, mobile Familienzentren oder das Netzwerk Pflege.

2. NRW: Landesinitiative „Kein Kind zurücklassen

Als zweites länderspezifisches Umsetzungsbeispiel stellte Christina Wieda von der Universität Speyer die Landesinitiative „Kein Kind zurücklassen“ aus NRW vor. Ziel sei, den Aufbau kommunaler, ämter- und rechtskreisübergreifender Präventionsketten zu fördern. In der Perspektive „vom Kind aus gedacht“ sollen so entlang des Lebenslaufes eines Kindes Präventionsketten ohne Brüche entstehen. Bis 2020 wurde die Landesinitiative durch die Bertelsmann Stiftung in der Modellphase forschend begleitet. Hinter der Idee der Modellinitiative, kommunale Angebote ineinandergreifen zu lassen, stehe der Gedanke, das Bundes- und Landesebene entlastet würden, wenn Prävention funktioniere.
Als Ergebnis des Projekts zeigte sich die Notwendigkeit eines „Ankerpunkts“ für die unterschiedlichen Lebensphasen. Regelinstitutionen (Schule, Kita, Jugendeinrichtungen) spielten daher für das Gelingen eine große Rolle. Elternbefragungen bestätigten außerdem die Bedeutung von Vertrauenspersonen. Problem sei nach wie vor die Versäulung der Institutionen auf EU-, Bundes- und Länderebene, die europäische Förderprogramme leider oft noch verstärkt würden. Im Ergebnis zeige sich, so Christina Wieda, dass gerade eine frühzeitig datenbasierte, bedarfsorientierte Planung Prävention begünstige.

Diskussion zum Thema Finanzierungsmodelle

In der anschließenden Diskussion wurde die „Pflichtleistung“ des § 16 im SGB VIII, insbesondere aber dessen mangelnde Umsetzung kritisch hinterfragt und diskutiert. In Folge der Novellierung des SGB VIII sei es die Aufgabe der Kreise und öffentlichen Träger, eine sozialräumliche Bestandsaufnahme zu machen und anhand der Themen, wie in SGB V III § 16 benannt, ihre Angebote zu gestalten. Wichtig sei außerdem, dass die Förderung von Familien selbstverständlich sein sollte und nicht an Defiziten festgemacht werden dürfe. In diesem Zusammenhang wurde der Begriff „Prävention“ kritisch diskutiert, da dieser ein defizitäres Menschenbild reproduziere.
Als Umsetzungs-Barriere wurde erkannt, dass es keine oder zu wenig Anreize für Entscheidungsträger*innen gebe, die Maßnahmen umzusetzen. Präventive Effekte seien zu wenig sichtbar, um damit zum Beispiel Wahlkampf machen zu können. Um hier mehr Sichtbarkeit und damit Handlungsspielräume zu entwickeln, sei Forschung wichtig. Es wurde angeregt, dass das Deutsche Jugendinstitut sich stärker diesem Bereich zuwenden könnte. Letztlich sei aber für einen Paradigmenwechsel der Familienförderung vor allem ein entsprechender politischer Wille notwendig.

Impulsvortrag: „Von der Familie aus denken: Kommunales Handeln vor dem Hintergrund der Kooperationsgesetze im Sozialgesetzbuch (SGB)“

Christina Wieda stellte ihre Forschung am Lehrstuhl für Sozialrecht und Verwaltungswissenschaften der Universität Speyer vor. Ausgangspunkt war die Aufgabenstellung laut Sozialgesetzbuch: Es solle dafür sorgen, dass jedem Kind die gleiche Voraussetzung für die freie Entfaltung der Persönlichkeit geschaffen werde und die dafür nötigen Angebote rechtzeitig und ausreichend zur Verfügung stehen. Der Aufbau kommunaler, ämter- und rechtskreisübergreifender Präventionsketten entlang des Lebenslaufes eines Kindes seien dafür sinnvoll.

Hinsichtlich der Sozialgesetzgebung seien dafür die Rahmenbedingungen (Auskunfts-, Beratungs-, Hinwirkungs- und Kooperationspflichten) vorhanden und Präventionsketten damit sozialrechtlich gut verankert.
Kommunen seien im Sinne der freien Selbstverwaltung somit in der Lage, Gesetze umzusetzen. Ein Realitätscheck auf Grundlage des Berichts zur Kinderarmut und dessen Auswirkungen auf Teilhabe, Bildung, Wohlbefinden und Gesundheit zeige aber: hier gebe es Handlungsbedarf. Umsetzungsprobleme lägen im Föderalismus und in der Ausgestaltung des Verwaltungsrechts. Auch wenn ein Gleichbehandlungsgrundsatz bestehe, könne dieser nicht immer überall gleich wahrgenommen werden oder sei den Betroffenen nicht bekannt. Beispielsweise würden die Leistungen der Bildung und Teilhabe weniger in Anspruch genommen, als diese den Familien eigentlich zustünden.

World-Café

Im anschließenden World-Café diskutierten die Teilnehmer*innen des Fachforums an vier Tischen konkrete Schritte und Handlungsempfehlungen. Diese bezogen sich jeweils auf die vier Ebenen: Bundesebene, Landesebene, kommunale Ebene und freie Akteurs-Ebene.

 

Abschlussdiskussion

„Was könnte direkt verändert werden?“, „Wer muss dafür aktiv werden?“ und „Was kann ich dafür tun?“ waren die einleitenden Fragen der Abschlussrunde, in der Elena Gußmann dazu einlud, die zuvor erarbeiteten Ideen zusammenzutragen. Als ein Ansatz wurde die Reformierung der föderalen Strukturen genannt, um zielgerichtet und ohne Reibungsverluste finanzieren zu können. Durch interkommunale Vernetzung, so ein weiterer Vorschlag, könnten sich Kommunen gegenseitig besser beraten und sich über gelingende Umsetzungspraktiken austauschen. Die Umverteilung von Finanzen sei jedoch ein zentraler Punkt, um strategisch anzusetzen: Konnexitätsprinzip und Kooperationsgebot wurden als wichtige Stichworte genannt, ebenso die Notwendigkeit eines Bundesrahmengesetzes und einer integrierten Sozialplanung. Inspiriert von den vorgestellten Familienfördergesetzen der Länder und deren positiven Effekten sowohl auf die strukturelle Fördersituation als auch auf die Sichtbarkeit von Familien auf politischer Ebene, wurde die Ausgestaltung eines Bundesfamilienfördergesetzes angedacht. Auf eine ganz andere Ebene zielte der Aufruf, mehr Aufmerksamkeit auf den Familienbegriff zu legen. Familie verwirkliche sich in einer Vielfalt von Erscheinungsformen und gehe durch viele verschiedene Lebensphasen (bspw. Pflegeaspekte), die zukünftig mehr in der Familienförderung berücksichtigt werden müssten. Familie solle neu gedacht, ihre Sichtbarkeit gestärkt werden. Familie als Verantwortungsgemeinschaft sei eine große, auch volkswirtschaftlich genutzte Ressource. Unbezahlte Sorgearbeit, die hauptsächlich immer noch von Frauen geleistet werde, sei weiterhin zu wenig berücksichtigt. Dies müsse sich in den politischen Entscheidungen widerspiegeln. Auch gelte es, die Wirtschaft mehr in die Verantwortung zu nehmen.

 

Fachforum am 14. März 2023: „Familienunterstützung verzahnen, verknüpfen, entsäulen: Potenziale und Ansätze aus der Familienbildung“

14.03.2023 | Im Rahmen des zweiten Fachforums der Themenperiode „Unterstützungsstrukturen für Familien – Wege zu wirksamen Angeboten“ kamen am 14. März 2023 knapp 50 Vertreter*innen aus den Mitgliedsorganisationen zusammen. Die Online-Veranstaltung thematisierte die Strukturen und Netzwerke von Familienunterstützung und fokussierte dabei insbesondere auf den Bereich der Familienbildung.

Wie wird Familienunterstützung organisiert? Welche Strukturen gibt es, die befördern oder verhindern, dass Angebote ineinandergreifen? Wie müssen Netzwerke strukturell gebaut sein, um Partizipation von Familien zu ermöglichen und Versorgungslücken zu schließen? Der Weg zu einer flächendeckend gelingenden Angebotslandschaft muss an den oft langfristig gewachsenen Strukturen ansetzen. Im System der unterstützenden Angebote spielt gerade die Familienbildung eine wichtige Rolle – historisch gesehen war es die Familienbildung, die stets auf neue gesellschaftliche Herausforderungen reagierte und so strukturelle Lücken auffangen konnte. Mit dieser Rolle gehen jedoch auch strukturelle Eigenheiten, Stärken und Schwächen einher. Das Fachforum hatte das Ziel, ausgehend von der aktuellen Lage der Familienbildung strukturelle Richtungsentscheidungen für familienunterstützende Angebote zu suchen. In einer Gesellschaft, in der sich sowohl Rahmenbedingungen als auch Ansprüche an Unterstützung dynamisch ändern, müssen Strukturen überdacht und angepasst werden.

Impulsvortrag: „Familienbildung – ein Modell für familienunterstützende Systeme?“

Anhand einer in Nordrhein-Westfalen durchgeführten Evaluation der Familienbildung ermöglichte Prof. Dr. Ute Müller-Giebeler (Technische Hochschule Köln) einen Einblick in das Arbeitsfeld und die aktuellen politischen Herausforderungen für die Familienbildung. Sie verdeutlichte, weshalb die Familienbildung ein weiblicher Arbeitsbereich sei und welche strukturell relevanten Konsequenzen sich daraus ergäben.

Die Familien und mit ihr die Familienbildung stehen laut Müller-Giebeler vor vielfältigen internen und externen Herausforderungen. Kritisch sei das Modernisierungsdefizit in der Familienbildung. Die Überzahl der kirchlichen Träger sei ein Indiz, dass sich die Trägerlandschaft nicht zusammen mit der Gesellschaft diversifiziere. Zudem stellten in der Personalstruktur erwerbstätige Mütter seit je her den größten Anteil. Aufgrund gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse habe sich die Rolle der Frauen jedoch gewandelt, weshalb sich die Möglichkeiten, sich ‚nebenfamiliär‘ zu engagieren, reduzierten. Diese gleichstellungspolitisch positive Entwicklung zöge somit personelle Engpässe nach sich, die durch externe Krisen wie zum Beispiel der Pandemie und der Inflation zugespitzt würden.

Frau Müller-Giebeler betonte das breite Spektrum an Alltagsthemen, die durch die Angebote der Familienbildung abgebildet würden. Dies stehe jedoch angesichts von unzureichenden Mitteln häufig im Konflikt mit der geforderten Professionalisierung. So sei zwar angesichts der Vielfalt der Herausforderungen und Themen eine Professionalisierung notwendig. Andererseits zeige sich jedoch, dass Beziehungen und idealistisches Engagement für eine erfolgreiche unterstützende Familienbegleitung weitaus relevanter seien. Wichtig sei es daher, auch bei einer Zunahme der Professionalisierung, die Stärke des (historisch) gewachsenen niedrigschwelligen Zugangs sowohl von Anbietenden als auch Annehmenden nicht aufzugeben. Hierfür seien die Netzwerke in den Sozialraum gut geeignet.

Als eine der neuen politischen Herausforderungen skizzierte Müller-Giebeler, dass das Selbstverständnis der Familienbildung zunehmend in Frage gestellt würde. Seit den 2000er Jahren gäbe es vermehrte Aufmerksamkeit für die Familienbildung. Jedoch rücke die Familie zunehmend Produktionsstätte von Humankapital in den Fokus statt als Ort kritischer Aufklärung und Bildung. Dies sei nicht mit der ursprünglichen Auffassung der Familienbildung vereinbar.

Für die Familienbildung betonte sie folgende charakteristische Strukturmerkmale:

  • gute Netzwerkstrukturen in den Sozialraum
  • hoher Idealismus als Arbeits- und Motivationsfaktor
  • authentische Arbeitsweise nah am lebensweltlichen Geschehen
  • relativ wenig Professionalisierung und relativ wenig hauptberuflich Angestellte
  • historisch gewachsene Peer-to-Peer-Ansätze
  • hohes Vertrauen der Zielgruppen

Diskussion: „Neue Anforderungen an Familienbildung“

Im Anschluss diskutierte das Fachforum die genannten vielfältigen Ansätze der Familienbildung.
Vielversprechend und gleichzeitig kritisch wurde der Ansatz der Familienbildung als „dritter Sozialraum“ gesehen, da die Familienbildung nachweislich überwiegend von Familien der Mittelschicht genutzt werde. Entsprechend spiegele der Sozialraum der Familienbildung nicht die gesellschaftliche und familiäre Heterogenität wider. Gleiches gelte entsprechend für das Personal. Ungelöst bliebe daher auch die Frage nach einer heterogenen Trägerlandschaft: Wie kann die Trägerlandschaft diverser werden? Als größtes Problem wurden die prekären nebenberuflichen bzw. nebenfamiliären Arbeitsbedingungen in der Familienbildung diskutiert. Diese Form der Nebenberuflichkeit könne hier nur unter Bedingungen „echter Selbstständigkeit“ mit entsprechend hohen Honoraren erhalten werden.

Hinsichtlich des angesprochenen strukturellen Dilemmas der Familienbildung sei einerseits sei eine Spezialisierung notwendig, um sich den Bedürfnissen der Familien besser anzupassen. Andererseits sollten breite und niedrigschwellige Angebote bereitgestellt werden, die von im Sozialraum angebundenen und vernetzten Akteuren gestaltet werden. Angemerkt wurde, dass die Geschichte der Familienbildung zugleich auch eine Geschichte der Frauenbildung und Frauenselbstbildung sei. Dies sei eine große Stärke – informelle Bildung solle eine höhere Anerkennung bekommen.

Einigkeit bestand in der Forderung, dass in der Familienbildung die häufige prekäre Beschäftigung von Frauen beendet werden müsse. Auch die Rolle des Ehrenamts wurde diskutiert: Es sei problematisch, wenn staatliche Aufgaben an das Ehrenamt ausgelagert würden, ohne dafür gleichzeitig gute Voraussetzungen zu schaffen. In diesem Zusammenhang wurde geäußert, dass die Familienbildung mit der Ehrenamtlichkeit im Prinzip von Familien selbst finanziert würden: Schließlich sei davon auszugehen, dass ehrenamtliche Tätigkeit Frauen meist nur dann möglich sei, wenn sich ich auf einen „Ernährer der Familien“ stützen könnten.

Austausch in Kleingruppen: „Unausgeschöpfte Potenziale“

Im zweiten Teil des Fachforums vertieften die Teilnehmer*innen herausfordernde Aspekte der Familienbildung anhand vier verschiedener Themen: Netzwerkarbeit, Personalstruktur, Digitalisierung und gesetzliche Ausgestaltung. Ein- und angeleitet wurde der Austausch von Themenpatinnen aus den Mitgliedsorganisationen des Bundesforums Familie.

Arbeitsgruppe 1: „Kommunale Netzwerke“

Nach einer kurzen Eröffnung der Fragestellung durch Britta Kreuzer (LAG Soziale Brennpunkte Niedersachsen) diskutierte die Kleingruppe die Rolle der Sozialraumorientierung für die Angebotsstrukturen von Familienunterstützung sowie die Bedingungen guter Zusammenarbeit zwischen Akteuren auf kommunaler Ebene.

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Es wurde betont, dass es eine verantwortliche Stelle geben müsse, die die Angebote kontinuierlich koordiniert, Netzwerke pflegt und um die Bedarfe der Familien weiß. Gesetzlich sei diese Rolle seit in Kraft treten des KJSG 2021 den Jugendämtern zugeschrieben – jedoch setzten nicht alle diesen Auftrag um. Hier brauche es länderübergreifenden Austausch, um gelingende Abläufe bekannt zu machen: So arbeite beispielsweise das bayerische Landesjugendamt eng mit den kommunalen Jugendämtern zusammen, um auf Bedarfslagen mit passenden Angeboten reagieren zu können und Ungleichgewichte in der regionalen Abdeckung abzubauen. Diskutiert wurde, inwiefern eine gute Vernetzung kommunaler Akteure wie z.B. dem Quartiersmanagement, der Gemeinwesenarbeit oder Beratungsstellen Zugang zu Personen schaffen kann, die sonst eher selten erreicht werden –sowohl als Nutzende als auch als potenzielle Familienbildner*innen, z.B. als Trainer*innen, Referent*innen oder Elternbegleiter*innen.

 

Arbeitsgruppe 2: „Personalstruktur in der Familienbildung mit Blick auf den Gender-Aspekt“

Die Kleingruppe rekapitulierte nach einem einleitenden Impuls von Ulrike Stephan (eaf | evangelische arbeitsgemeinschaft familie), dass sich Familienbildung durch einen strukturell bedingten hohen Anteil von (fluktuierenden) Teilzeit- und Honorarkräften sowie Ehrenamt auszeichne.

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Zudem sei aus historischen und strukturellen Gründen der Frauenanteil überdurchschnittlich hoch.  Vor diesem Hintergrund diskutierte die Kleingruppe die Dilemmata, die mit der strukturellen Verquickung von gesellschaftlichen Rollenbildern, (familien-)ökonomischen Realitäten und gesetzlichen Rahmenbedingungen einhergehen. Als besonders frustrierend wurde der Umstand genannt, dass diese, aus gleichstellungspolitischer Sicht untragbaren, Schräglagen in der Familienbildung selbst reproduziert würden: Frauen beschäftigten Frauen prekär. Durch die aktuelle Förderstruktur würden für die Familienbildung eben jene Frauen gewonnen, die Teil eines Familienbildes sind, das aus familienpolitischer Sicht immer weniger zu halten sei. Als wichtigste Stellschraube wurde die tarifgerechte Bezahlung genannt. Auf diese Weise könne (weiblicher) Altersarmut entgegnet werden und die Berufe würden für Männer attraktiver. Als weitere Stellschraube wurde die Sichtbarkeit der Familienbildung identifiziert – so gebe es zwar immer mehr männliche Fachkräfte, die in der Sozialen Arbeit oder als Erzieher arbeiteten, die Familienbildung sei aber in der Ausbildung als Arbeitsfeld zu wenig wahrnehmbar.

Das Problem sei außerdem, dass mit dem gesellschaftlichen Wandel von Rollenbildern, aber auch den aktuellen ökonomischen Herausforderungen (Stichworte Pandemie, Inflation) die Zahl der Ehrenamtlichen deutlich zurückgehe. Hier entstehe durch den Wegfall des freiwilligen Engagements eine sehr große Lücke, mit der man umgehen müsse. Hierfür könnten zum Beispiel die Schaffung von Arbeitsplätzen bzw. Bereitstellen von finanziellen Mitteln Ansatzpunkte sein. Hilfreich sei auch eine bessere gesellschaftliche Anerkennung und politische Ermöglichung von Lebensrealitäten, in denen Zeit und Raum für ehrenamtliches Engagement bliebe.

 

Arbeitsgruppe 3: „Digitalisierung“

Dr. Susanne Eggert (JFF | Institut für Medienpädagogik) leitete in die Diskussion mit der Frage ein, wie Digitalisierung sinnvoll strukturell in der Familienbildung verankert werden könnte.

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Übersichtsportale, eine digitale Angebotsstruktur, die Bewerbung der Angebote über Social Media: Digitalisierung biete auf verschiedenen Ebenen Chancen, Familienunterstützung wirksamer zu gestalten. Mit digitalen Angeboten könnten auch Personen erreicht werden, die bisher eher selten Angebote wahrgenommen hätten. Insgesamt seien bspw. mit der digitalen Familienbildung überproportional viele Männer erreicht worden. Auch Alleinerziehenden erhöhe ein digitaler Zugang die Teilnahmemöglichkeiten. Einschränkend wirke die digitale Ausstattung von Familien: Nicht alle Familien hätten die notwendige Hardware oder mediale Kompetenz um digitale Angebote entsprechend zu nutzen. Gerade im ländlichen Raum fehle oft die notwendige Internetverbindung.

Die Diskussionsrunde stellte fest: Digitalisierung gelte es zu gestalten. Hier könne viel aus der Corona-Zeit gelernt werden. Ebenso könnte an die bestehenden Kompetenzen der Eltern und damit bereits an verfügbare Lösungen gedacht werden. Dies ermögliche einen niedrigschwelligen Einstieg und knüpfe zugleich an die Lebenswelt der Zielgruppen an. In der Diskussion blieb jedoch die Blickrichtung offen: Sollten Familien für digitale Formate „fit“ gemacht werden, in dem Geräte, Software, Anwendungen, Kompetenzen, etc. verbessert werden? Oder sollten sich die Formate an den bestehenden Ressourcen der Familien orientieren? Es brauche digitale Lösungen, die technisch und im Sinne der Handlungskompetenz für die Familien leicht erreichbar seien. Dazu müssten digitale Angebote professioneller aufgebaut sein. Als Vorteil benannten die Diskutierenden, dass zielgruppengerechte Informations- bzw. Qualifizierungsangebote (z.B. für Multiplikator*innen und Eltern/Familien) digital gut angepasst werden könnten. Eine Verlagerung der Angebote ins Digitale sei sehr sinnvoll – jedoch nur unter der Voraussetzung, die Technikausstattung, Internet-Abdeckung, Datenschutz, Know-How, etc. sei gegeben. Die Teilnehmer*innen betonten zuletzt, dass sich viele positive soziale Wechselwirkungen des direkten Kontakts nicht in den digitalen Bereich übertragen ließen, Digitalisierung aber die Chance biete, die Vielfalt der Familienbildung sichtbar zu machen.

 

Arbeitsgruppe 4: „Gesetzliche Ausgestaltung“

Braucht es Nachbesserungen in den gesetzlichen Regelungen – wenn ja, welche? Wo sind konkrete Baustellen, woran wird gearbeitet? Sandra Clauß (Bundesarbeitsgemeinschaft Landesjugendämter) eröffnete die Diskussion mit einer generellen Einordnung der Lage der Familienbildung in Deutschland

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Sie erinnerte daran, dass es landesspezifisch sehr unterschiedliche Umsetzungen gebe. Eine gesetzliche Grundlage für die Familienbildung bestehe derzeit nur in Berlin: das Familienfördergesetz von 2019. Das Gesetz zur Förderung und Beteiligung von Familien solle die Qualität und die Finanzierung der Angebote der Familienförderung und damit auch der Familienbildung im Land Berlin sichern. Andere Länder wie Baden-Württemberg erarbeiteten derzeit vergleichbare Gesetzesentwürfe. Deutlich wurde, dass diese Unterschiedlichkeit besonders in finanzieller Hinsicht zu unterschiedlichen Ausgangslagen führe. Projektfinanzierungen, oft über Drittmittelförderungen, sei in vielen Ländern üblich, obwohl die Familienbildung eine stabile Grundfinanzierung benötige. Problematisch sei insbesondere die Notwendigkeit der Eigenanteile in der Projektfinanzierung. Diese könne insbesondere von kleineren Trägern oft nicht geleistet werden. In der Diskussion wurde betont, dass die Bedarfe aller Familien berücksichtigt werden müssten. Sinnvoll sei daher eine am Sozialraum orientierte Steuerung durch das Jugendamt. Problematisch sei, dass Familien auch sozialräumlich nicht immer erreichbar seien. Der Vorschlag, Programme für verschiedene Zielgruppen themenspezifisch zu konzipieren, wurde von den Teilnehmer*innen kontrovers diskutiert. Eine Ausrichtung nach aktuellen Themen sowie Programme für verschiedene Zielgruppen würde die Finanzierung noch komplizierter machen. Ein Perspektivwechsel hin zur Bedarfsorientierung ermögliche eine präventive Steuerung (wie in Berlin), in enger Zusammenarbeit mit dem Jugendamt. Zukünftig sei zudem denkbar, Familienbildung als aufsuchende Komm- und Gehstrukturen zu entwickeln. Alle genannten Veränderungen seien mit der jetzigen Ausgestaltung des Paragraph § 16 des SGB bereits möglich. Es sei keine Frage der finanziellen Ausstattung, sondern des politischen Willens.

 

Abschlussdiskussion im Plenum

Abschließend wurde in großer Runde diskutiert, inwiefern Stärken der Familienbildung auch auf andere Bereiche der Familienunterstützung übertragbar seien. Diese Transferfrage offenbarte gleich zwei Herausforderungen: Erstens seien die sehr heterogenen Strukturen der Familienbildung – die diverse Trägerlandschaft, die länderspezifischen Umsetzungen, die verschiedenen lokalen Gegebenheiten – kaum zu überblicken. Dadurch würde die Suche nach generellen Aussagen oder Lösungsansätzen erschwert. Zweitens würde die Familienbildung durch historisch gewachsene Spezifika charakterisiert, die heute im Rahmen von sich verändernden Bedingungen und wachsenden Ansprüchen unter starkem Druck stünden. Deutlich wurde, dass gerade der Bereich der Familienbildung strukturell von gesellschaftlichen Verhältnissen – Familienmodell, Geschlechterrollen, Bildungsbegriff – abhängig ist. Dies sind Problematiken, die nicht allein durch Richtungsentscheidungen innerhalb der Institutionen aufgelöst werden können. Ein politischer gesamtgesellschaftlicher Diskurs ist ebenfalls dafür zwingend notwendig.

Impulsworkshop am 28. Februar 2023: „Wenn die Familien wüssten, was wir in unseren Projektanträgen über sie schreiben, würden sie nicht mehr kommen“

Berlin, 20.03.2023 | Sprache in der sozialen Arbeit mit Familien – darüber wurde in einem Impulsworkshop des Bundesforums Familie am 28. Februar gesprochen. Er schloss sich an das Fachforum „Ansprache & Werthaltungen in der Familienunterstützung“ vom 20. Oktober 2022 an. Welche Wirkung kann Sprache haben und wie kann die Arbeit mit und für Familien durch eine sensible Sprache erleichtert werden? Hierzu diskutierten knapp 40 Teilnehmende online mit dem Referenten Prof. Dr. Christian Philipp Nixdorf.

Zu den Teilnehmenden zählten neben Vertreter*innen aus den Mitgliedsorganisationen des Bundesforums Familie auch Studierende und Kolleg*innen von Christian Nixdorf. Nach der Begrüßung vergegenwärtigte Projektkoordinatorin Elena Gußmann den Ursprung der Idee zu diesem Workshop.

Einleitung: Sprache im Fokus

Der Impulsworkshop sei eine Ergänzung zum Fachforum Ansprache & Werthaltungen am 20. Oktober 2022, so Elena Gußmann. Hier war das Thema Sprache kaum thematisiert worden – zumindest nicht systematisch. Punktuell wurde das Thema jedoch gestreift: So habe die Referentin Elizaveta Khan vom Integrations-Haus Köln betont, dass ihr Team den Begriff „Integration“‘ zwar ablehnen würde, ihn aber dennoch zur Ansprache ihrer Zielgruppe verwendete. Der Effekt dieses Signalwortes „Integrationdas ist was für uns, hier werden wir gemeint, da gehen wir hin“ sei hier in der Abwägung wichtiger als die korrekte Bezeichnung dessen, was in dieser Einrichtung gelebt werde. Ebenso berichtete Elizaveta Khan von einem täglichen sprachlichen „Spagat“: Sie müssten in Berichten und Anträgen die Klient*innen als defizitär darstellen, weil für die Behebung akuter Missstände eher Gelder flössen als für Präventivangebote. Aus diesem „2-Sprachen“ bzw. „2-Adressat*innen-System“ stamme der zugegebenermaßen etwas lange Titel dieser Veranstaltung, in der die Sprache im Zentrum stehe.

Impulsvortrag: Sprache und deren Wirkung im Sozialwesen

Der Workshop begann mit einem Impulsvortrag von Christian Nixdorf. Als Sozialwissenschaftler, Organisationspädagoge und Sozialarbeiter unterrichtet er als Professor für Soziale Arbeit und Integrationsmanagement an der Hochschule der Wirtschaft für Management in Mannheim. Er ist Autor des Buches „Sprachverwendung im Jobcenter – Wenn Kunden keine Kunden sind“ (2020). Für einen Kommentar war Sandra Clauß vom Landesjugendamt Rheinland und dem Beirat des Bundesforums Familie eingeladen, bedauerlicherweise konnte sie jedoch aus gesundheitlichen Gründen nicht teilnehmen.

Der Titel des Vortrags von Christian Nixdorf lautete „Sprache und deren Wirkung im Sozialwesen“. Christian Nixdorf stellte zu Beginn die These auf, dass der Sprache im Sozialwesen eine herausragende Bedeutung zukomme. Sozialarbeitende seien darauf angewiesen, dass Klient*in­nen bereit sind, mit ihnen zu sprechen. Diese Bereitschaft werde durch die Art beeinflusst, wie mit und über Klient*innen gesprochen wird. Kleine Unterschiede im Formulieren könnten große Wirkung haben – im Positiven wie im Negativen.

Sozial schwach: Unwort oder nicht?

Christian Nixdorf stellte Aussagen aus dem Bereich der sozialen Arbeit zum Ausdruck „sozial schwach“ vor (s. Präsentation, Folie 5) und fragte die Teilnehmenden: Wie verstehen Sie diesen Ausdruck „sozial Schwache“? Die Teilnehmenden antworteten:

  • „Menschen mit wenig sozialer Kompetenz und Empathie“
  • „Menschen mit wenig Empowerment, die kommen mit ihrem Leben nicht klar, brauchen Hilfe; aber besser wäre es, Elon Musk als sozial schwach zu bezeichnen“
  • „Menschen, die nicht sozial kompetent sind und andere ausgrenzen“
  • „Menschen, die sich nicht sozial verhalten.“

Christian Nixdorf bestätigte diese Assoziationen, die auftreten, wenn insbesondere in den Medien Arme als „sozial Schwache“ bezeichnet würden. In der Soziologie jedoch sei der Begriff nicht abwertend, sondern neutral beschreibend gemeint. In der Netzwerkforschung beziehe sich soziale Schwäche nicht auf individuelles (Fehl)verhalten, sondern auf das Fehlen von Strukturen und Kontakten, mit denen man Interessen durchsetzen oder Gehör finden kann. Arme hätten genauso wie andere Menschen starke soziale Beziehungen in ihrem nahen Umfeld (Familie, Freundschaften), aber weniger an schwachen sozialen Beziehungen und losen Kontakten zu Personen, die ihnen bei der beruflichen Entwicklung oder anderen Herausforderungen hilfreich sein können (Anwält*innen, Universitätsangehörige, Führungskräfte usw.). Arme oder in diesem Sinne sozial schwache Menschen seien strukturell benachteiligt.

Die Rahmung unserer Worte macht den Unterschied

Christian Nixdorf nannte weitere Beispiele für Ausdrücke und Formulierungen, die je nach fachlichem Hintergrund oder Milieu unterschiedlich aufgefasst würden. Auf die divergenten Verständnisse von sprachlichen Ausdrücken zu achten, sei im Sozialwesen sehr wichtig, so Nixdorf, weil das Sozialwesen oft mit Menschen zu tun habe, die Abwertung erfahren oder psychisch krank sind. Sie seien daher in besonderem Maße auf Sprache sensibilisiert. Es mache z. B. einen Unterschied, ob man sagt „Frau S. ist hilflos“ oder „Frau S. benötigt viel Unterstützung.“ Der Ausdruck „Systemsprenger“ wecke Zerstörungsassoziationen, wo eher Hilfeassoziationen angebracht wären.

Warum Worte im Sozialwesen so wichtig sind. Folie.

Die Herausforderung hierbei bestehe darin, dass das Reden von einer Normalität nötig ist, um einen Vergleichsmaßstab zu haben – das impliziere aber auch, dass das, was dieser Normalität nicht entspricht, anormal (und behandlungsbedürftig) sei. Probleme sollten benannt werden, aber um negative Assoziationen insbesondere bei den Klient*innen zu vermeiden, sollte auf die Rahmung oder Einbettung (engl. Framing) geachtet werden.

Framing/Rahmung „bezeichnet den Effekt, dass ein und dieselbe inhaltliche Information vom Empfänger unterschiedlich aufgenommen wird, je nachdem, wie sie (z. B. positiv oder negativ) formuliert oder (mit unterschiedlichen Begleitinformationen) verknüpft wird.“ (Schubert & Klein 2020)

Beispiel: Soziales Netz oder soziale Hängematte? Bei „soziales Netz“ sei das Framing Absicherung, die Wirkung Neutralität oder Zufriedenheit. Bei „soziale Hängematte“ hingegen sei das Framing Ausnutzung, und die Reaktion Wut über die „Sozialschmarotzer*innen“.

Christian Nixdorf führte diverse Begrifflichkeiten an, die Handlungsweisen und Überzeugungen professioneller Sozialer Arbeit beschreiben, wie Lebensweltorientierung, Ressourcenorientierung, Empowerment, etc. Diese Begriffe seien positiv besetzt und würden die Fähigkeiten der Klient*innen betonen. In der Praxis spräche man in der Sozialen Arbeit aber oft negativ über Klient*innen – das sei jedoch keine Anklage, denn es gebe Gründe dafür, z. B. Anreize bei der Antragstellung.

Fazit: Sprachsensibilität erleichtert die Arbeit

Sozialpädagogisch angemessen sei es, achtsam zu reflektieren, was trotz der Probleme noch alles möglich wäre – und das sprachlich abzubilden. Sprachsensibilität bedeute nicht Selbstzensur. Der Vorwurf der Sprachpolizei verkenne, dass es etwas mit Wertschätzung zu tun habe, wie gesprochen wird. Sprachsensibel vorzugehen sei gerade im Sozialwesen hilfreich, weil viele Klient*innen sie in ihrem Leben sonst oft eher selten erfahren. Eine sprachsensible Rahmung bedeute keinesfalls, alles durch die rosarote Brille zu sehen und Probleme schönzureden oder zu leugnen. Aber eine wirksame Unterstützung sei kaum möglich, wenn unsere Sprache zu sehr problemgeprägt sei. Klient*innen helfe eine lösungsorientierte Rahmung, da diese Machbarkeitsassoziationen wecke.

Diskussion: Menschenrechte der Kund*innen

Im Anschluss diskutierte die Runde zunächst, ob der Ausdruck „Kund*in“ für Unterstützungsnehmer*innen adäquat sei. Diese benenne die Menschen richtig als als Inanspruchnehmer*innen von Leistungen. Christian Nixdorf wies darauf hin, dass die „Kund*innen“ nur leider die Leistung oft nicht ablehnen dürften und dieser Umstand in dem Begriff nicht abgebildet werde. Eine andere Teilnehmerin hielt den Ausdruck „Kunde/Kundin“ für schwierig, „Ratsuchende“ sei besser geeignet als „Klient*innen“. Auch von „ALG II“ statt von „Hartz IV“ zu sprechen, mache etwas mit den Menschen.

Wie lassen sich nicht nur Fachkräfte, sondern auch große Träger für diese sprachlich wirkmächtigen Feinheiten sensibilisieren? Christian Nixdorf schlug vor, mit gutem Beispiel voranzugehen und in Briefen und Gesprächen auf eine sensible Sprache hinzuweisen. In seiner Zeit im Jobcenter habe er Briefe an die Leitung geschrieben und damit eine Änderung der Begriffe in offiziellen Schreiben erwirkt. Elena Gußmann fragte, ob es einen Code of Conduct oder Leitfaden gebe, der zu empfehlen sei. Christian Nixdorf nannte den Sprachleitfaden der Bundesagentur für Arbeit.

Fazit der Diskussion: an vielen Stellen intervenieren

Aus der Runde wurde auf das Problem hingewiesen, dass Alleinerziehende in der meist verwendeten Sprache oft kaum vorkämen, sie würden nicht mitgedacht. Hier müsse es eine Änderung geben, besonders in der Politik. Eine angemessene Sprache müsse als Menschenrecht gelten. Vorgeschlagen wurde, dass die Runde einen Brief an die Politik und die Medien für mehr Selbstreflektivität in der Sprache im Sozialwesen formulieren solle. Die Soziale Arbeit müsse sich ebenfalls verändern, das wäre eher intern zu bewerkstelligen. Christian Nixdorf teilte die Einschätzung, dass hierin eine große Chance läge – es sei auch die Verantwortung der Verbände. Man müsse selbst – da, wo man ist – aktiv werden und nicht auf die Aktivität von Anderen warten.

Download: Prof. Dr. Christian Philipp Nixdorf: „Sprache und deren Wirkung im Sozialwesen“ (Präsentation, 28.02.2023)

04./05. September 2023, Hannover: „Hybride Familien? Familienbildung und -beratung digital“ Fachtagung des Deutschen Vereins

Fachtagung Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V.
„Hybride Familien? Familienbildung und – beratung digital“| 04. – 05. September 2023 | Ganztags | Wyndham Hannover Atrium | Karl Wiechert-Allee 68, Hannover

Digitale Angebote sind aus der Familienbildung und -beratung nicht mehr wegzudenken und werden spätestens seit der Corona-Pandemie verstärkt nachgefragt. Auch die Ergebnisse der Erhebung im Auftrag des Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zum Stand der Familienberatung in Deutschland verweisen auf die Notwendigkeit, diese Angebote auszubauen und auf die Chancen die damit verbunden sind, möglichst viele Familien zu erreichen. Der Deutsche Verein möchte auf einer Fachtagung verschiedene best practice Beispiele vorstellen und gemeinsam mit Fach- und Führungskräften aus den Bereichen Familienförderung, Familienbildung und Familienberatung über die Herausforderungen und Chancen solcher Angebote diskutieren.

Anmeldung bitte bis: 04.07.2023, 23:59 Uhr
Mehr Informationen auf der Website des Deutschen Vereins

Viel Austausch und wichtige Einblicke bei Fachforum „Familienzusammenführung von Geflüchteten“

Berlin, 03. Mai 2017:
Was bedeutet es konkret für eine Familie, wenn sie den Prozess der Familienzusammenführung durchläuft? Wo liegen bei der Familienzusammenführung von Geflüchteten in der Praxis die Spannungsfelder und Herausforderungen? Was müsste in der Handhabung der Familienzusammenführung verändert werden? Über diese und weitere Fragen diskutierten die rund 40 Teilnehmer_innen beim Fachforum „Familienzusammenführung von Geflüchteten“ des Bundesforums Familie am 03. Mai 2017.

Die Veranstaltung wurde eingeleitet von einer thematischen Hinführung „Familienzusammenführung als familienpolitisches Thema?“ von Hiltrud Stöcker-Zafari (Verband binationaler Familien und Partnerschaften, iaf e.V.). Darin erläuterte sie das Spannungsverhältnis der Zuständigkeiten beim Thema Familienzusammenführung zwischen Familienpolitik und Innenpolitik und gab einen kurzen historischen Einblick in Familienzusammenführungsprozesse der letzten 40 Jahre in Deutschland. Abschließend ging sie auf die besondere Bedeutung ein, die der Familiennachzug bei Geflüchteten für das Ankommen in einer Gesellschaft hat.

Es folgte ein Impulsreferat von Rebecca Einhoff (UNHCR) zum Thema „Familienzusammenführung von Flüchtlingen: Rechtliche Rahmenbedingungen und praktische Hindernisse“ (PDF). Dabei gab Rebecca Einhoff einen Überblick über die völkerrechtlichen Grundsätze zur Familienzusammenführung und erläuterte die unterschiedlichen Definitionen des Familienbegriffs der verschiedenen internationalen Konventionen, Institutionen und Organe. Einhoff berichtete, dass die Einheit der Familie in völkerrechtlichen Dokumenten zwar geschützt werde, „Familienzusammenführung“ jedoch in nur wenigen Dokumenten ausdrücklich Erwähnung finde. Sie stellte ausführlich die völkerrechtlichen, europäischen und nationalen Grundsätze zur Familienzusammenführung dar und verdeutlichte, unter welchen Voraussetzungen sie möglich sei und welche Bestimmungen dabei gelten. Dabei wies sie darauf hin, dass es in der Praxis der Familienzusammenführung große Probleme vor allem mit den unterschiedlichen Terminvergabesystemen und den langen Wartezeiten auf Termine und Verfahren gebe. Auch die praktische Erreichbarkeit der deutschen Auslandsvertretungen (insbesondere im Libanon und der Türkei) stelle oftmals ein großes Hindernis für eine rasche Familienzusammenführung dar.

Anschließend ging Einhoff näher auf aktuelle rechtliche Probleme in Deutschland aus Sicht von UNHCR ein, die vor allem mit der engen Definition des Familienbegriffs (z.B. der Schwierigkeit, Geschwisterkinder von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen (UMF) gemeinsam mit den Eltern nachziehen zu lassen) sowie auch mit der aktuellen Aussetzung der Familienzusammenführung von Personen mit subsidiärem Schutz zusammenhängen. Auch die Zumutbarkeit der Pass- und Dokumentenbeschaffung (Identitätsnachweis, Nachweis der familiären Verbindungen) und alternative Formen der Glaubhaftmachung seien problematisch. Zum Abschluss gab Einhoff einen kurzen Exkurs zu den Grundsätzen der Familienzusammenführung im Rahmen der Dublin-III-Verordnung und zu anderen Aufnahme- bzw. Einreisemöglichkeiten für Familienangehörige (Resettlement, Humanitäre Aufnahmeprogramme, Aufnahmeprogramme der Bundesländer etc.).

In Anschluss fand die anregende Podiumsdiskussion „Familienzusammenführung von Geflüchteten: Chancen und Herausforderungen“ mit Karim Al Wasiti (Flüchtlingsrat Niedersachsen), Mohammed Jouni (Jugendliche Ohne Grenzen), Sebastian Muy (BBZ – Beratungs- und Betreuungszentrum für junge Flüchtlinge und Migrant*innen), Gerhard Scholz (Ausländerbehörde München) und Ulrike Wolz (Landesjugendamt Berlin) statt.

Gerhard Scholz, der seit 1992 in der Ausländerbehörde München arbeitet, beschrieb die enorme Erhöhung des Arbeitsumfangs und die damit einhergehenden großen personellen Herausforderungen, die mit dem aktuellen Anstieg der Anzahl Geflüchteter aus Syrien einhergingen. Er berichtete von teilweise sehr langen Wartezeiten für die Familienangehörigen bei den Auslandsvertretungen, denen dann wiederum lange Bearbeitungszeiten bei den Ausländerbehörden folgen würden, sodass der Prozess des Familiennachzugs insgesamt zu lange dauere.

Dabei sei das grundsätzliche Problem des Zuzugs nicht neu. So sei es gleich zu Beginn seiner Arbeit bei der Ausländerbehörde im Zuge der Balkankrise zu einer großen Zuwanderung von geflüchteten Familien gekommen. Einige Aspekte hätten sich jedoch seit der damaligen Zeit verbessert, beispielsweise sei das Thema Beschäftigung von Geflüchteten viel besser aufgegriffen worden. Auch die Einsicht, dass Deutschland Zuwanderer_innen brauche, habe sich deutlich zum Positiven gewandelt. Vieles sei jedoch nach wie vor verbesserungsfähig: wünschenswert wären z. B. Verwaltungsanweisungen oder eine entsprechende Gesetzgebung, die mehr Klarheit in die Familienzusammenführung bringen würde, vor allem beim Thema Nachzug von Geschwisterkindern.

Sebastian Muy stellte seine Arbeit beim Beratungszentrum BBZ vor, wo er seit Oktober 2014 tätig ist. Die größte Gruppe, die er dort berate, seien syrische Geflüchtete. Er habe im Prozess der Familienzusammenführung Wartezeiten von 15 Monaten bis zu zwei Jahren miterlebt. Daneben stelle die Aussetzung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten eines der größten Probleme dar. Dies sei vor allem für unbegleitete Jugendliche und deren Familien hoch problematisch, da diese nach Vollendung des 18. Lebensjahres den Anspruch auf Nachzug der Eltern verlören. Er betonte, dass Familiennachzug oftmals auch außerhalb der Kernfamilie von den Geflüchteten erwünscht sei. Dass dem nicht stattgegeben wird, liege am engen Familienbegriff des Aufenthaltsgesetzes und der restriktiven Auslegung der bestehenden Härtefallregelungen. In jüngster Zeit würden die Behörden zunehmend die Visaanträge von Geschwistern von UMF ablehnen und damit selbst Kernfamilien auseinanderreißen.

Muy wünschte sich, dass Gesetze, Behörden und Gerichte den Familien jenen Wert beimessen, den sie – unter anderem nach der UN-Kinderrechtskonvention – tatsächlich haben, anstatt Familien auseinander zu reißen. Dabei müsse die Situation der Familienangehörigen im Ausland ebenso berücksichtigt werden wie die emotionale Belastung und der Druck, dem sich insbesondere unbegleitete Minderjährige in Deutschland ausgesetzt fühlten. Viele wagten es daher nicht, ihren Eltern das Ausmaß der Hürden und Schwierigkeiten zu berichten. Dies stelle oftmals eine Zerreißprobe für die gesamte Familie dar.

Karim Al Wasiti berichtete, dass die Familienzusammenführung ein wichtiges Arbeitsfeld des Flüchtlingsrats Niedersachsen sei und er das Thema seit Anfang der Krise in Syrien intensiv begleite. Seit Anfang 2016 arbeite er sogar hauptsächlich im Thema Familienzusammenführung zu anerkannten Flüchtlingen in den Feldern Beratung, Begleitung und Öffentlichkeitsarbeit. Der Flüchtlingsrat formuliere durch enge Begleitung dieses Prozesses politische Forderungen, damit das Recht auf Familienzusammenführung für anerkannte Flüchtlinge und subsidiär Geschützte nicht durch jahrelange Wartezeiten, bürokratische Hürden und gesetzliche Verschärfungen auf die lange Bank geschoben werde. Zusammen mit anderen Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationen, Wohlfahrtverbänden und Kirchen habe der Flüchtlingsrat daran gearbeitet, dass Angehörige von syrischen Geflüchteten in Deutschland durch Aufnahmeprogramme einreisen könnten.

Al Wasiti kritisierte, dass viele Menschen, die eigentlich einen Anspruch auf Familiennachzug nach Deutschland hätten, diesen aufgrund immenser bürokratischer Hürden nicht einlösen könnten. So seien 200.000 Menschen aus Syrien und dem Irak nach Genfer Flüchtlingskonvention im Jahr 2016 in Deutschland anerkannt worden, während im selben Zeitraum nur 48.000 Visa an die anspruchsberechtigten Angehörigen erteilt worden seien. Er bemängelte ebenfalls, dass seit Sommer 2016 neue Dimensionen der Verhinderung von Familiennachzug zu UMF durch Ausnutzung von Gesetzeslücken durch das Verwaltungshandeln zu beobachten seien. Dabei würden den Eltern dieser UMF Visa erteilt, den minderjährigen Geschwistern aber nicht. Deshalb stünden diese Eltern oftmals vor einer schwierigen Entscheidung: Sie müssten sich zwischen dem Zusammenleben mit einem Teil ihrer Kinder und dem Zusammenleben als Ehepaar entscheiden. Er appellierte dementsprechend deutlich an die Familienverbände, sie sollten verstärkt zusammenarbeiten und ihre Forderungen deutlich lauter werden lassen.

Ulrike Wolz stellte dar, dass in ihrer Arbeit beim Landesjugendamt Berlin die hochgradig schutzbedürftigen unbegleitete minderjährige Flüchtlinge von besonderer Relevanz seien. Das Landesjugendamt sei zunächst für sie zuständig und übernehme dann die Verteilung auf die Bezirke. Auch in ihrer Arbeit sei Familienzusammenführung bislang kein großes Thema gewesen. Nun schlage es immer mehr auf, denn die meisten UMF äußerten sehr rasch den Wunsch nach Familiennachzug. Problematisch sei aber auch die innerdeutsche Familienzusammenführung, da im Gesetz nicht näher definiert sei, wer genau als Verwandte_r gelte und wer nicht. Eine Zusammenführung sei dadurch in manchen Fällen ausgeschlossen gewesen, auch wenn es tatsächlich Verwandte in anderen deutschen Städten gab und alle Beteiligten eine Zusammenführung wünschten. Besonders problematisch sei es, wenn sich innerhalb des Prozesses der Familienzusammenführung die Zuständigkeiten der Behörden ändere. Auch gebe es in allen Bundesländern unterschiedliche Regelungen, die sich wiederum ebenfalls viel Fluktuation unterlägen, beispielsweise habe sich die Anerkennung des afghanischen Identitätsdokuments Tazkira in Berlin zweimal kurzfristig geändert. Wolz äußerte den Wunsch, die innerdeutsche Familienzusammenführung leichter zu ermöglichen. Auch müssten die Ausländerbehörden und die Jugendämter besser zusammenarbeiten und die Prozesse der Familienzusammenführung insgesamt besser begleitet werden.

Mohammed Jouni stellte die von ihm mit gegründete Organisation Jugendliche ohne Grenzen vor. Seit 2004 betreibe die Organisation Lobbyarbeit zu den Themen Bildung und Ausbildung, Duldung und Bleiberecht. Bis 2014 sei der Begriff der Duldung weitestgehend unbekannt gewesen. Das habe sich mittlerweile geändert und die Öffentlichkeit sei inzwischen viel besser informiert.

Aus der Praxis schilderte er eine große Intransparenz bei der Terminvergabe und von Agenturen, die sich durch Familienzusammenführungsprozesse bereichern wollten. Die Situation von UMF, die einen Nachzug ihrer Familie begehrten, sei besonders problematisch: Es sei nahezu unmöglich, mit 17,5 Jahren noch einen Aufenthaltstitel zu bekommen. Es gebe auch Probleme bei der Alterseinschätzung, teilweise dauere der Prozess zwei Jahre. Dann seien die Betroffenen bereits volljährig und damit ihre letzte Chance auf einen Aufenthaltstitel entfallen würde. Jouni berichtete auch von der hohen Erwartungshaltung der Eltern an die Jugendlichen, sie schnellstmöglich nachzuholen und von dem enormen Druck, der dadurch auf den Jugendlichen laste. Innerhalb kürzester Zeit müssten sie die deutsche Sprache erlernen, ins Schul- oder Ausbildungssystem finden und sich mit den bürokratischen Hürden des Familiennachzugs auseinandersetzen. Diese hohen Anforderungen führten teils zu Depressionen und Belastungsstörungen. Von den Beratungsorganisationen erfordere dies in der Beratung oft sehr spezielle Qualifikationen in einzelnen Fragen. Gleichzeitig müsse man jedoch auch bedenken, was konkret mit den jungen Menschen passiert, wenn tatsächlich die ganze Familie nachkäme und sie dann die gesamte Verantwortung für die Familie trügen. Jouni wünschte sich eine schnelle Überarbeitung der momentan unzureichenden Gesetzeslage und einen sofortigen Stopp der Aussetzung des Familiennachzugs bei subsidiärem Schutz: Familienzusammenführung sei ein Grundrecht und ein Menschenrecht.

Anmerkungen aus dem Plenum

Im Plenum wurde betont, dass der Fokus bei der Diskussion zum Thema Familienzusammenführung nicht allein auf unbegleitete minderjährige Geflüchtete gesetzt werden sollte. Es gebe auch viele begleitete minderjährige Geflüchtete, die ebenfalls wichtige Bedarfe hätten. Dennoch schätzten die Teilnehmer_innen die langen Wartezeiten und die hohen bürokratischen Hürden im Familienzusammenführungsprozess als dramatisch und dringend reformbedürftig ein. Es sei zudem wichtig, sich die Geflüchteten und ihre Familien genau anzuschauen, denn entgegen der oftmals vorherrschenden öffentlichen Meinung würden nicht alle Transferleistungen beziehen und seien „bildungsfern“. Sprachprobleme würden häufig mit „Bildungsferne“ gleichgesetzt, dies sei problematisch.

Insgesamt wurde resümiert, dass es sich beim Familiennachzug um ein altbekanntes und aus familienpolitischer Sicht hochgradig wichtiges Thema handele, dass jedoch bislang nicht genügend im Fokus stehe. Bedauerlicherweise finde eine Bündelung der Zuständigkeiten nicht statt und die Stimme der Familienpolitik sei dabei insgesamt deutlich zu leise. Die Verantwortung könne jedoch auch nicht allein beim Gesetzgeber gesucht werden. „Was können die Organisationen des Bundesforums Familie ganz konkret dafür tun, damit Familienzusammenführung besser gelingen kann?“

In ihrem Abschlusskommentar nahm Dr. Karin Jurczyk (Deutsches Jugendinstitut), die Themen Sicherheit, Angst und Sorge um die Angehörigen in den Fokus. Ein wichtiger Aspekt dabei müsse es sein, dass Familienpolitik, Asylpolitik und Integrationspolitik mehr und effektiver zusammenarbeiten und die Familienpolitik als „weiches“ Politikfeld sich dabei offensiver und selbstbewusster behaupte. Sie ging auch auf die Frage ein, was konkret mit geflüchteten Familien passiere, wenn sie nach Deutschland gekommen sind. „Wie kann dann die ganze Familie gestützt werden?“ Bei diesen Fragen müsse auch die sozio-ökonomische und kulturelle Vielfalt von Familien  und die Vielfalt der Familienformen (z.B. Alleinerziehende) hinsichtlich ihrer Bedarfe, aber auch ihrer Ressourcen – auch und gerade beim Thema Bildung – deutlicher berücksichtigt  werden.

Spannende Inputs und Diskussionen beim Fachforum „Zugänge von geflüchteten Kindern und Jugendlichen zu Regelangeboten der Bildung“

Berlin, 06. Dezember 2016:
Wie wird der Zugang von geflüchteten Kindern und Jugendlichen zu Kindertagesbetreuung und Schule gewährleistet? Was sind die bestehenden Herausforderungen und welche Lösungsansätze gibt es? Um diese Fragen drehte sich das zweite Fachforum des Bundesforums Familie im Themenzyklus „Familie und Flucht“ am 6. Dezember 2016. Rund 40 Teilnehmer_innen aus den Mitgliedsorganisationen nahmen die Gelegenheit zum Informationsaustausch und zur Vernetzung wahr.

In einem ersten spannenden Impulsvortrag berichtete Rainer Ohliger (Netzwerk Migration in Europa) über die formalen und strukturellen Zugänge und Hürden, denen Geflüchtete im Bildungsbereich begegnen. Grundlage seiner Ausführungen bildete die Arbeit der Robert Bosch Expertenkommission zur Neuausrichtung der Flüchtlingspolitik. Dabei sei zu bedenken, dass noch nicht ausreichend quantitative Daten vorlägen, um belastbare Aussagen zu treffen. Ausgehend von den bisherigen Forschungsergebnissen könne man aber in etwa damit rechnen, dass die Zahl der Kinder in der Kindertagesbetreuung um 1,4 – 3,5 Prozent und die Zahl der zu beschulenden Kinder um 0,6 – 1,4 Prozent steige, wenn die seit 2015 nach Deutschland geflüchteten Kinder und Jugendliche in den Bildungsinstitutionen ankämen. Die Institution Schule sei, auch aufgrund der relativ geringen zusätzlichen Schüler_innen bei ansonsten sinkenden Schüler_innenzahlen, vergleichsweise gut in der Lage, die Herausforderungen zu bewältigen. Größere Probleme seien in der Kindertagesbetreuung zu sehen, denn es gebe generell hier zu wenig Plätze, zu wenig Personal und einen großen Bedarf an interkultureller Qualifikation der bereits hoch beanspruchten Fachkräfte.

Kompetenzen der pädagogischen Fachkräfte spielten auch im zweiten Impulsvortrag „Kinder geflüchteter Familien in der Kita“ von Petra Wagner (Fachstelle Kinderwelten, Institut für den Situationsansatz) eine Rolle. Sie erläuterte den Ansatz der vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung, der dazu befähigen soll, Diversität zu respektieren und Diskriminierungen zu widerstehen. Der Leitsatz „Alle Kinder sind gleich, jedes Kind ist besonders!“ verdeutliche die Spannung zwischen der Anerkennung gleicher Rechte und der Notwendigkeit, dabei die unterschiedlichen Lebensumstände von Kindern und Familien zu berücksichtigen. Anhand von praktischen Beispielen machte Wagner deutlich, wie Gemeinsamkeiten und Anknüpfungspunkte gefunden und thematisiert werden können. Kitas und Schulen könnten so zu Orten „kultureller Demokratie“ werden. Dies erfordere kontinuierliche Aushandlungsprozesse zwischen den Familienkulturen und den institutionellen Kulturen, mit einer Orientierung an der Leitlinie „Vielfalt respektieren, Ausgrenzung widerstehen!“. Konkret bestehe dies darin, Unterschiede weder zu ignorieren noch überzubetonen, sondern respektvoll zum Thema zu machen. Gleichzeitig gelte es, Ausgrenzung und Diskriminierung zu erkennen und zu bekämpfen – und nicht den geflüchteten Familien die Schuld für (bildungs-)politische Versäumnisse zu geben.

Die beiden Hauptvorträge wurden ergänzt durch Praxisbeispiele aus den Mitgliedsorganisationen des Bundesforums Familie. Dr. Apolonia Franco Elizondo berichtete von Sprachlernangeboten für geflüchtete Familien, die die IMPULS Deutschland Stiftung organisiert. Eine Mitarbeiterin des Zentralrats der Muslime in Deutschland stellte das Patenschaftsprojekt „Wir sind Paten“ vor. Die Vernetzung und fachliche Begleitung von Modellkitas in Berlin, die mit geflüchteten Kindern arbeiten, war Gegenstand des Inputs von Marlies Knoops von der Bundesvereinigung Evangelischer Tageseinrichtungen für Kinder. Dass geflüchtete Kinder aber auch in der Kindertagespflege unterkommen können und welche Schritte aktuell zur Vernetzung und Unterstützung der Tagespflegepersonen wie auch der geflüchteten Familien unternommen werden, verdeutlichte Ilka Ruhl vom Bundesverband für Kindertagespflege.

Nach der Mittagspause kamen die Teilnehmer_innen in zwei parallelen Foren mit Expert_innen zusammen. Forum 1 hatte die frühkindliche Bildung zum Thema, in Forum 2 wurde zum Themenbereich Schule diskutiert. In beiden Gruppen waren die leitenden Fragen: Was sind die Faktoren, die dazu beitragen, dass Zugänge zu Bildungsangeboten geschaffen und genutzt werden? Wo liegen die Herausforderungen? Was muss geschehen, dass bestehende Probleme bewältigt werden können?

Dr. Jürgen Wüst von der Karl-Kübel-Stiftung moderierte das Forum 1 zum Bereich frühkindliche Bildung. Zwei Expertinnen eröffneten hier die Diskussion. Helena Saba stellte die Aktivitäten von „Willkommen KONKRET“ vor, dem Berliner Bündnis für Kinder geflüchteter Familien, einer zivilgesellschaftlichen Initiative von Menschen aus der frühpädagogischen Praxis und Theorie, aus Verwaltung, Therapie sowie Fort- und Weiterbildung. Das Bündnis arbeite gemeinsam daran, allen in Berlin lebenden Kindern von Beginn an Zugang zu frühkindlicher Bildung, Erziehung und Betreuung zu verschaffen und ihnen die Rechte zu sichern, die ihnen laut Kinderrechtskonvention zustehen. Sie machte deutlich, welche Akteure an der Inklusion von Kindern in Einrichtungen frühkindlicher Bildung beteiligt sind und wie wichtig deren Vernetzung ist, nicht zuletzt auch um sich gegenseitig in den entsprechenden Praxisfeldern zu unterstützen und zu stärken. Maria Korte-Rüther vom Niedersächsischen Institut für frühkindliche Bildung und Entwicklung (nifbe) ergänzte dies mit Erfahrungen aus der Qualifizierung und Vernetzung von Fachkräften und Einrichtungen. Die Kita sei ein, wenn nicht sogar der Ort der Vielfalt von Anfang an. Hier kämen Familien und Kinder aus den unterschiedlichsten Ländern und Kulturen, mit unterschiedlichsten sozio-ökonomischen Hintergründen und unterschiedlichsten körperlichen und geistigen Fähigkeiten zusammen, um gemeinsam zu spielen und zu lernen, um Freundschaften zu knüpfen und Freude zu haben. Zurzeit würden in Niedersachsen beispielsweise etwa 200 Multiplikator_innen im Rahmen der Qualifizierungsinitiative des Kultusministeriums „Vielfalt fördert! Vielfalt fordert“ fortgebildet, um Fachkräfte beim Umgang mit Diversität in Kitas zu unterstützen. Dabei seien die Reflexion des professionellen Selbstverständnisses und der eigenen pädagogischen Orientierungen zentrale Bestandteile der folgenden Qualifizierungen in den Einrichtungen. Zudem gehe es zentral um die Frage, welchen Beitrag die Einrichtungen darüber hinaus leisten können, um sich in den Sozialraum zu öffnen.

Forum 2, welches parallel stattfand und von Dr. Mehmet Alpbek (FÖTED) moderiert wurde, hatte die Zugänge von geflüchteten Kindern und Jugendlichen zur Schule im Blick. Hier berichtete zunächst Lara Stothfang, Grundschullehrerin in Berlin, von ihren Erfahrungen mit geflüchteten Kindern in der Schule und der von ihr ins Leben gerufenen Initiative HUCKEPACK, die sehr erfolgreich Patenschaften an geflüchtete Kinder zwischen 6 und 18 Jahren in Berlin vermittelt. Die ehrenamtlichen Pat_innen würden sich etwa einmal wöchentlich mit ihren Patenkindern treffen und gemeinsam Freizeitaktivitäten unternehmen, sowie sie beim Deutschlernen und auch bei schulischen Belangen unterstützen. Die erklärten Ziele der Initiative seien es, Geflüchtete Willkommen zu heißen, ihnen das Ankommen zu erleichtern, Vorurteile abzubauen, Kinder zu stärken und einen gegenseitigen Austausch zu fördern, indem Barrieren abgebaut würden. Anschließend schilderte Tom Erdmann (GEW Berlin) die gewerkschaftliche Sichtweise auf die Zugänge von jungen Geflüchteten zur Schule im Land Berlin. Das System der sogenannten „Willkommensklassen“, in denen geflüchtete Kinder separat unterrichtet werden und dort vor allem die deutsche Sprache lernten, sei in den letzten zwei Jahren rasant ausgebaut worden: mittlerweile gebe es 1000 solcher Klassen mit insgesamt etwa 12000 geflüchteten Schüler_innen in Berlin. Allerdings fehlten vielerorts geeignete Lehrkräfte für diese Klassen, auch würde der Unterricht bei Erkrankung der Lehrkräfte oft nicht vertreten, sondern falle aus. Wichtig sei der GEW ein Ausbau von Erzieher_innenstellen im Ganztagsbereich, eine deutliche Stärkung der Schulpsychologie wie auch ein klarer Abschiebestopp für Kinder. Sybille Siegling, Referentin beim Sekretariat der Kultusministerkonferenz, legte abschließend die teils recht unterschiedlichen Bemühungen der Bundesländer im Bereich der schulischen Inklusion junger Geflüchteter dar. So greife die Schulpflicht beispielsweise in Hamburg „ab dem ersten Tag“, in vielen anderen Ländern erst nach Zuweisung der geflüchteten Kinder in die Kommunen, wenn diese „ihren gewöhnlichen Aufenthalt“ dort etabliert hätten. Flächendeckend gebe es in allen Ländern den Anspruch, so schnell wie möglich alle Kinder zu beschulen. Die angewandten Sprachförderkonzepte seien aufgrund der Gegebenheiten vor Ort vielfältig. Leider fehle bislang aber eine konsistente wissenschaftliche Evaluation der eingesetzten Methoden und Praktiken, um entsprechende Empfehlungen aussprechen zu können. Als vorteilhaft hob Siegling hervor, dass sich durch die notwendige Handhabe des Zuzugs geflüchteter Kinder vielerorts neue Kommunikations- und Kooperationsstrukturen auf kommunaler Ebene gebildet hätten, was auch für andere Bereiche durchaus positive Synergien freisetzen könne.

Die Leitfragen der Foren wurden in der abschließenden Fishbowl-Diskussion mit allen Teilnehmenden noch einmal aufgegriffen. Dabei wurde deutlich, dass der Bedarf in erster Linie auf personeller Seite gesehen wird. Zum einen sei es unbedingt notwendig, über ausreichend personelle Ressourcen verfügen zu können, um mit der Diversität in den Bildungsinstitutionen angemessen umzugehen. Zum anderen bedürfe es bei den Fachkräften einer bestimmten Haltung als Teil ihrer Professionalität, die es zu entwickeln gelte. Elemente einer solchen Haltung seien Offenheit und Augenhöhe. „Der eigentliche Gelingensfaktor ist, dass wir es wirklich wollen!“, formulierte es eine Teilnehmerin.

Ausführlicher Bericht der Auftaktveranstaltung „Familie und Flucht“

„Familie und Flucht“ – für dieses Rahmenthema hatte sich die Netzwerkversammlung des Bundesforums Familie im Dezember 2015 ausgesprochen. Am 12. April trafen sich die Netzwerkpartner nun erneut im Centre Monbijou in Berlin, um den Fahrplan für die kommenden zwei Jahre zu konkretisieren. In dieser Themenperiode wird die Arbeit des Bundesforums stärker als in der Vergangenheit auf Veranstaltungen und Fachforen mit Ad-hoc-Arbeitsgruppen zu deren Vorbereitung und inhaltlichen Auswertung ausgerichtet sein. Dies hatte der Beirat vorgeschlagen, um die Arbeitsweise des Bundesforums der gesellschaftlichen Dynamik des Themenfeldes und dem hohen Bedarf der Mitgliedsorganisationen an Input und Austausch anzupassen.

Doch wo stehen die Mitglieder des Bundesforums beim Thema Familie und Flucht? Inwiefern ist die Arbeit der Verbände und Institutionen von den aktuellen Fluchtbewegungen betroffen? Vor welchen Herausforderungen stehen sie? Auf welche Erfahrungen können sie, kann das Bundesforum Familie zurückgreifen? Diese Fragen wurden im ersten Veranstaltungsteil der Auftaktveranstaltung behandelt. Fünf Vertreter_innen verschiedener Mitglieder des Bundesforums berichteten auf dem Podium exemplarisch aus ihren Organisationen.

Dr. Heidemarie Arnhold vom Arbeitskreis Neue Erziehung (ANE) legte dar, dass die IMG_4613Elternarbeit schon immer damit konfrontiert gewesen sei, dass Familien mit einem Migrationshintergrund besondere Bedürfnisse hätten, dass diese jedoch ganz unterschiedlich seien und man nicht von einer homogenen Gruppe ausgehen könne. Fluchterfahrung sei ebenfalls kein neues Thema, aber die Bedeutung habe in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Als kleiner Verein könne man ihm nicht an allen Stellen angemessen begegnen. Als größte Herausforderung nannte Arnhold die enorme Sprachenvielfalt. Um Familien über Unterstützungsangebote zu informieren, brauche man einheitliche Übersetzungen bestimmter sozialstaatlicher Begrifflichkeiten. Der ANE habe dafür ein internes Glossar entwickelt, damit die eigenen Handreichungen einheitlich seien. Andere Institutionen verwendeten jedoch teilweise andere Übersetzungen.

Sebastian Ludwig erläuterte, dass auch bei der Diakonie das Thema Flucht Konjunktur habe. Die Diakonie unterstütze geflüchtete Menschen durch verschiedenste Strukturen vor Ort wie spezielle Beratungsangebote zu Asylverfahren. Auch „reguläre“ Angebote wie Schwangerschaftskonfliktberatung oder Jugendhilfe würden zunehmend von geflüchteten Menschen genutzt. Im Diakonie Bundesverband werde zum Thema Flucht außerdem gezielt Lobbyarbeit betrieben. Familienbezug habe aus seiner Sicht vor allem das Thema Familienzusammenführung sowie die Bedingungen, unter denen Familien in Unterkünften zusammenleben. Hierzu habe die Diakonie eine gemeinsame Initiative mit dem BMFSFJ zu Schutzmaßnahmen in Einrichtungen vorangetrieben.

Das Paritätische Bildungswerk hingegen sei wiederum auf einer anderen Ebene mit dem Thema konfrontiert, nämlich in den Fortbildungen für Erzieher_innen, ergänzte Maria Rocholl. Diese seien außerordentlich herausgefordert, wenn es darum gehe, mit geflüchteten Familien umzugehen. Es sei zum einen eine Haltung vonnöten, die von Offenheit und interkulturellen Kompetenzen geprägt ist, zum anderen brauche es auch Kenntnisse über die spezifischen Bedürfnisse von geflüchteten Kindern, die eventuell traumatisiert seien, sowie über Unterstützungsangebote, auf die weiterverwiesen werden könne. All dies sei kaum zu gewährleisten in der derzeitigen Situation, in der nahezu alle Stellen überlastet seien und an allen Ecken und Enden Personal fehle. Hierin liege die nächste Herausforderung: Welche Aufgaben können an ehrenamtliches Personal übertragen werden? Was kann das Ehrenamt gut leisten, wozu braucht es Profis? Welche Begleitung brauchen beide Seiten?

Die Notwendigkeit von Begleitung und Supervision betonte auch Andrea Domke von der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung (bke). Die Mitarbeiter_innen der Beratungsstellen seien bei Familien mit Fluchterfahrung oft mit großem Leid konfrontiert, mit dem es umzugehen gelte. Da die Sprache das Medium der Beratung sei, liege in der Sprachvermittlung die größte Herausforderung. Hier gelte es flexibel zu sein, die drittbeste mögliche Lösung sei besser als gar keine Lösung. Sie teile ebenfalls die Erfahrung, dass die Gruppe der Geflüchteten keineswegs homogen sei. Dies sei stets im Hinterkopf zu behalten, um auf die spezifischen Bedürfnisse einer jeden Familie gezielt eingehen zu können.

Eine weitere Dimension, auf der Verbände mit dem Thema Familie und Flucht betroffen sein können, brachte Hiltrud Stöcker-Zafari vom Verband binationaler Familien und Partnerschaften (iaf) ein. Bei ihnen gehörten häufig Verwandte der eigenen Verbandsmitglieder zur Gruppe der Geflüchteten. Die iaf biete für Geflüchtete Information, Beratung und Sprachvermittlung. Verbandsspezifisch seien hier die Themen Trennung und Eheschließung. Insgesamt stelle die iaf eine allgemeine Verunsicherung bei interkulturellen Fragen fest. Die notwendige Aufklärung sei ein „Fass ohne Boden“.

Im anschließenden Plenum wurde deutlich, wie breit das Themenfeld Familie und Flucht IMG_4607abzustecken ist. Aufgezeigt wurde unter anderem, dass es kaum Erkenntnisse dazu gebe, wie viele Geflüchtete mit Behinderung es gebe und wie auf deren Bedürfnisse in den Aufnahmeeinrichtungen eingegangen werde. Klar wurde, dass die jüngste Fluchtbewegung an keiner Organisation vorbeigegangen ist und sogar das Potenzial hat, einen Verband intern zu verändern. Eine Teilnehmerin berichtete beispielsweise, dass das Thema Flucht ihren Verband im letzten Jahr stark politisiert habe. Es habe sich nun im Verband eine Arbeitsgruppe „Gesellschaftspolitik“ gegründet, die sich inzwischen nicht mehr nur mit dem Thema Flucht, sondern auch mit den Themen Armut und Arbeit auseinandersetze. Der Verband habe zudem einen Pool an ehrenamtlichen Supervisoren und Coaches gebildet, um Ehrenamtliche in der Arbeit mit Geflüchteten zu stärken. Die Einschätzung des Podiums, dass eine solche Begleitung der Menschen, die mit geflüchteten Menschen arbeiten (sowohl ehrenamtlich als auch professionell), von enormer Bedeutung sei, wurde von mehreren Seiten bekräftigt.

Zuspruch erhielt auch der Vorschlag, den Blick darauf zu richten, was unsere Gesellschaft zusammenhält. Die Fluchtthematik spalte das Land, deswegen sei es wichtig, sich mit so grundlegenden Fragen auseinanderzusetzen wie: In was für einer Gesellschaft wollen wir leben? Was verbindet uns? In einer solchen konstruktiven Debatte gelte es auch, die Ressourcen und Potentiale in den Fokus zu rücken, die von den Zugewanderten mitgebracht würden. Konsens herrschte ebenfalls darüber, dass das Bundesforum dabei zu politischen Schlussfolgerungen gelangen solle.

Der zweite Veranstaltungsteil widmete sich der Frage, welche Teilaspekte des breiten Themenfeldes Familie und Flucht vom Bundesforum genauer zu diskutieren seien. Hierfür standen acht Stellwände zur Verfügung, um darauf die Unterthemen und konkreten Fragestellungen festzuhalten, zu denen sich die Teilnehmer_innen Veranstaltungen des Bundesforums wünschten. Der Beirat hatte im Vorfeld die Themenbereiche Arbeit & Qualifikation, Bildung, Gesundheit & Krankheit, Sprache, Trauma & Gewalt sowie Wohnen identifiziert, welche jeweils an einer IMG_4665Stellwand diskutiert werden konnten. Darüber hinaus standen zwei „Blankotafeln“ zur Verfügung, um Fragestellungen außerhalb dieser Themen zu erörtern. Es gab auf jeder Stellwand zudem die Möglichkeit, Expert_inn_en zu benennen sowie die Bereitschaft zur Mitarbeit an der Vor- und Nachbereitung der zu planenden Fachforen zu erklären, welche von den Teilnehmenden rege genutzt wurde. Besonders viel Andrang herrschte beim Thema Bildung, aber auch die „Blankotafeln“ für alle Fragestellungen, die sich nicht den sechs genannten Oberthemen zuordnen ließen, fanden viel Anklang. Hier wurde unter anderem über Rassismus und Diskriminierung lebhaft diskutiert. Die in diesem zweiten Teil der Veranstaltung entstandenen Poster dienten im Nachgang des Auftakttreffens dem Beirat als Grundlage für die Entscheidung, mit welchen Themen sich die kommenden Veranstaltungen des Bundesforums befassen werden. Die ersten beiden Fachforen sind für Herbst 2016 geplant und werden die Themen Bildungszugang und Wertebildung behandeln.

Material- und Linksammlung „Familie und Flucht“: Allgemein – Informationssammlungen

•     Broschüre „Flucht, Asyl und Integration. Die Flüchtlingsinitiativen der Bertelsmann Stiftung“ (Bertelsmann Stiftung)
Nachdem im Herbst 2015 die große Zahl an zufluchtsuchenden Menschen Deutschland erreichte, hat die Bertelsmann Stiftung kurzfristig beschlossen, sich dieser Herausforderung zu widmen. Sie möchte durch praktische, alltagsorientierte Projekte schnelle und konkrete Hilfe leisten, gleichzeitig aber auch dazu beitragen, die neue Situation zu analysieren und langfristig nachhaltige Handlungsempfehlungen zu entwickeln. Dazu wurden zunächst über 30 Projektinitiativen entwickelt. Die Broschüre gibt eine detaillierte Übersicht über Ansätze und Zielsetzungen.

•      Übersicht aller Arbeitshilfen des Paritätischen Gesamtverbands in der Flüchtlingshilfe (Der Paritätische Gesamtverband)

•     Dossier „Für Menschen, die bei uns ankommen“ (Sozialdienst katholischer Frauen Gesamtverein)
Auf der Themenseite sind Informationen zur Arbeit mit geflüchteten Menschen zusammengestellt. Das Augenmerk als Frauen- und Fachverband gilt in besonderer Weise der praktischen Hilfe für Menschen, die hier vorübergehend oder dauerhaft leben, besonders der Frauen und Mädchen.

•     Materialsammlung zum Thema „Flüchtlinge“ (Pestalozzi-Fröbel-Verband | pfv)
Der pfv hat verschiedenste Materialen und hilfreiche Links – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – für Fachkräfte der Jugendhilfe sowie für engagierte Bürger_innen, die sich um Menschen mit Fluchterfahrung kümmern, zusammengestellt.

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Abschließende Diskussion im Plenum

Das Plenum des Bundesforums Familie während der Netzwerkversammlung 2014

Das Plenum des Bundesforums Familie während der Netzwerkversammlung 2014

Die abschließende Diskussion drehte sich um drei zentrale Aspekte. Zum einen diskutierte das Plenum die Bedeutung von Partizipation für Inklusion mit den drei Referent/innen. Hierzu wurde festgestellt, dass Partizipation deutlich mehr sei als nur Teilhabe: es gehe vielmehr um Mitentscheidung beziehungsweise Mitbestimmung. Auch in der BRK spiele Partizipation eine bedeutende Rolle, so definiere die BRK in ihrer Präambel Behinderung Resultat der Interaktion zwischen Menschen mit Einschränkungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren, die die volle und effektive Partizipation an der Gesellschaft auf gleicher Basis mit anderen behindere. Dr. Wrase verwies in diesem Zusammenhang darauf, dass es Ziel von Inklusion sei, die größtmögliche Partizipation zu ermöglichen. Die Partizipation selbst sei also das Ziel, währenddessen Inklusion die Ausgestaltung der Systeme beträfe, um eben jenes Ziel zu erreichen. Im Umkehrschluss sei Inklusion nur dann erreichbar, wenn – am Beispiel der inklusiven Schule – Eltern und Kinder an dem Prozess der Ausgestaltung eines inklusiven Bildungssystems partizipieren könnten, im Sinne von mitentscheiden.

Ein zweiter Diskussionsstrang befasste sich mit der Frage, wie es zu dem aktuell bestehenden Bildungssystem Deutschlands gekommen sei, schließlich sei die deutsche Sonder- oder Förderschule weltweit einmalig. Dr. Arnade beleuchtete den Sachverhalt historisch und hielt fest, dass auch mit Ende des nationalsozialistischen Deutschlands 1945 leider nicht automatisch das damals vorherrschende Gedankengut „Behindertes Leben ist minderwertig“ in der Gesellschaft ausgelöscht gewesen sei. So hätten die Sonderschulen zu Beginn auch eine ganz klare Schutzfunktion gehabt. Die Entwicklung in Deutschland sei an dieser Stelle einfach stehen geblieben. Prof. Dr. Eckert gab vor diesem Hintergrund auch zu bedenken, dass das deutsche Schulsystem Inklusion in sich nicht vorgesehen habe, schließlich beruhe es mit seinen Gymnasien, Haupt- und Realschulen grundsätzlich auf dem Prinzip von homogenen Lerngruppen. Das angelsächsische Schulsystem beispielsweise sei mit seinen comprehensive schools und dem Prinzip der möglichst langen gemeinsamen Beschulung für Inklusion deutlich besser geeignet, bestätigte auch Dr. Wrase. Hierüber entspann sich zudem die Frage inwieweit die in Deutschland stark ideologisch aufgeladene Debatte über die inklusive Schule ihre Berechtigung in der BRK habe, ob also ein Elternwahlrecht in der Konvention vorgesehen sei. Dr. Arnade führte hierzu aus, dass mit der Ratifizierung der BRK sich die Staaten ganz klar zu einem inklusiven Bildungssystem verpflichteten, ein Elternwahlrecht sehe die BRK nicht vor. Wie in der öffentlichen Debatte gab es auch im Plenum zu diesem Punkt unterschiedliche Meinungen, aber unabhängig von der Frage ob zwei parallel bestehende Schulsysteme als wünschenswert betrachtet wurden, waren sich alle Beteiligten darin einig, dass die Elternperspektive von zentraler Bedeutung für die Ausgestaltung von Inklusion ist.

Auf dem Podium: Prof. Dr. Andreas Eckert, Dr. Michael Wrase, Dr. Sigrid Arnade (v.l.n.r.)

Auf dem Podium: Prof. Dr. Andreas Eckert, Dr. Michael Wrase, Dr. Sigrid Arnade (v.l.n.r.)

Mit der ganz praktischen Umsetzung der BRK in der Realität beschäftigte sich ein dritter Aspekt der Diskussion und zwar mit der Frage nach der Deutung der Formulierung „im Rahmen des Möglichen und Zumutbaren“. So sei eben jene Formulierung häufig ein Hinderungsgrund in der Umsetzung inklusiver Maßnahmen vor Ort, da sie interpretierbar wäre. Dr. Wrase räumte ein, dass diese konkrete Passage bewusst so gehalten wäre um der Individualität der Kinder gerecht werden zu können. Allerdings gäbe es durchaus Konkretisierungen. So müssten die Vorkehrungen zu den individuellen Beeinträchtigungen passen. Im Sinne des Zumutbaren müsse sich das Niveau aktuell dem der Förderschulen entsprechen. Dr. Arnade fügte hinzu, dass die BRK sehr wohl darauf einginge, dies jedoch nicht ins deutsche Recht übertragen sei. So sollte der Aspekt der Vorkehrungen in das Behindertengesetz und der der Vorhaltung dieser in das AGG aufgenommen werden, um eine Ahndung zu ermöglichen.

Die Diskussion schloss damit, dass viele bisher unbefriedigende Punkte bei der Umsetzung von Inklusion durch die Einführung der „großen Lösung“ und eine Lockerung im Kooperationsverbot zwischen Bund und Ländern erreicht werden könnte.

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Andreas Eckert: Lebenslagen von Familien mit einem Kind mit einer Behinderung

Den dritten und letzen Input an diesem Tag hielt Prof. Dr. Andreas Eckert von der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik in Zürich. Als Pädagoge beleuchtete er die Lebenslagen von Familien mit einem Kind mit Behinderung vor dem Hintergrund der UN-BRK. Zunächst ordnete er hierzu die Begriffe „Familie“ und „Behinderung“ im Zusammenhang mit der BRK ein. So hielt er fest, dass Behinderung ein sehr relativer Begriff sei, bei dem es um die Wechselwirkung zwischen Bedingungen, Hilfsangeboten und subjektiver Wahrnehmung ginge. Befasse man sich mit Familien mit Behinderung müsse die Ressourcenperspektive im Vordergrund stehen und nicht die Belastung, so würden sich die betroffenen Familien selbst zwar in einem „ständigen Spannungsfeld von besonderen Herausforderung und einem hohen Zufriedenheitserleben“ aber eben doch als „ganz normale Familie“ sehen. Dabei müsse des Weiteren beachtet werden, dass auch Familien mit Behinderung eine heterogene Gruppe seien – ebenso wie andere Familien auch – die sich nur in einem Kriterium, dem der Behinderung, glichen. Seine Einleitung rundete er schließlich mit der Erwähnung der Denkschrift der Bundesregierung zur BRK ab. Dort, so Prof. Dr. Eckert, würde explizit auf Familien eingegangen. Im Mittelpunkt stünde hier der Kooperationsgedanke zwischen Eltern und Fachkräften. Augenscheinlich wird dies beispielsweise an den Artikeln 7 und 23:

„Auch die Eltern sollen intensiv in Planung und Gestaltung der Hilfen einbezogen werden. Dabei soll den besonderen Bedürfnissen der Eltern und Kinder Rechnung getragen.“

sowie Artikel 25:

„Die individuell erforderlichen Leistungen werden in Zusammenarbeit mit den Eltern in einem interdisziplinär entwickelten Förder- und Behandlungsplan zusammengestellt.“

Prof. Dr. Andreas Eckert, Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik Zürich

Prof. Dr. Andreas Eckert, Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik Zürich

Im zweiten Teil seines Vortrages stellte Prof. Dr. Eckert die Besonderheiten von Familien mit einem Kind mit Behinderung mit den Ressourcen der Familien und ihren Bedürfnissen gegenüber. So entstünden Besonderheiten insbesondere in der Alltagsgestaltung je nach individueller Behinderung des Kindes sowie der Lebenssituation der Familie als Ganzes. Oft würden sich Eltern zudem mit unterschiedlichen Wertvorstellungen auseinandersetzen müssen. Denn häufig seien die in der Gesellschaft vorherrschenden Wertvorstellungen mit einem Kind mit Behinderung nicht erfüllbar und würden beispielsweise kollidieren mit denen auf Geschwisterkindern ohne Behinderung angewendeten Werten. Nach seiner Erfahrung führt diese Auseinandersetzung oft zu einer Weiterentwicklung der Eltern. Eine weitere Besonderheit sei die Veränderung sozialer Beziehungen. Dabei sei zu bedenken, dass auch hier die Heterogenität der Familien zum Tragen käme und nicht alle Eltern gleich handeln würden. Vielfach jedoch würden sich die sozialen Beziehungen dahingehend verändern, dass Eltern den Kontakt zu anderen Familien in ähnlichen Situationen suchen würden, da man in diesem Umfeld weniger erklären müsse. Anhand dieser Auflistung der Besonderheiten werde eines deutlich, so Prof. Dr. Eckert: Es gebe bei Familien mit Behinderung nicht per se mehr Belastungen wohl aber ein erhöhtes Potential möglicher Belastungen. Für die Familienförderung und die Unterstützung von Familien mit Kindern mit Behinderung sei nun eine Analyse der vorhandenen Ressourcen besonders wichtig. Hier stellte er eine Auflistung von Ressourcen in der Bewältigung möglicher Belastungen von Retzlaff (2010) vor, anhand derer deutlich wurde, dass die Familien selbst eine zentrale Rolle hierbei spielen, beispielsweise seien der familiäre Zusammenhalt, die Zufriedenheit mit der Partnerschaft und die ausgeglichene Balance familiärer Bedürfnisse wichtige Ressourcen. Daneben käme es insbesondere auch auf die sozialen Unterstützungssysteme an. Letzter Punkt in diesem Dreiklang sind die Bedürfnisse von Eltern mit behindertem Kind, die es zu beachten gebe. Derer gibt es nach Prof. Dr. Eckert vier und zwar: Informationsgewinnung (zum besseren Verständnis, wenn zum Beispiel die intuitiven Erziehungskompetenzen nicht mehr greifen), Beratung (zentrale Ansprechpartner/innen), Entlastung (durch professionelle Angebote) sowie Kommunikation und Kontaktgestaltung im Zusammenspiel von Eltern und Fachkräften.

Familienorientierung in der Kooperation

Legt man dies nun einer familienorientierten Kooperation zwischen Eltern und Fachleuten zugrunde, ergeben sich nach Sarimski und anderen (2013) eine Vielzahl möglicher positiver Beiträge, zum Beispiel eine durch Vertrauen, Respekt, Ehrlichkeit und offene Kommunikation charakterisierte Beziehungsgestaltung, die bedürfnisorientierte Mobilisierung von Ressourcen in interdisziplinären Kooperationen oder auch die Unterstützung der Familien bei der selbstständigen Lösung ihrer Probleme. Herunter gebrochen auf die UN-BRK wiederum wären entsprechend die nachfolgenden Ableitungen denkbar:

  • Bereitstellung (früher) Beratungs- und Informationsangebote für Eltern mit einem Kind mit einer Behinderung,
  • Einbeziehung von Elternpositionen in eine „wertschätzende“ Inklusionsdebatte – Auseinandersetzung mit divergenten Vorstellungen,
  • Elternwahlrecht bei der Entscheidung zwischen inklusiven und speziellen institutionellen Settings,
  • sowie Kooperation und Vernetzung als Leitidee.

Der Input von Prof. Dr. Andreas Eckert zum Download.

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Sigrid Arnade: Die UN-BRK aus der Perspektive der Zivilgesellschaft

Dr. Sigrid Arnade, Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben Deutschland (ISL) e.V.

Dr. Sigrid Arnade, Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben Deutschland (ISL) e.V.

Dr. Sigrid Arnade, Geschäftsführerin der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland, knüpfte ihren Vortrag nahtlos an den Dr. Wrases an. So griff sie die Anmerkungen Dr. Wrase zur fehlerhaften Übersetzung der BRK auf und wusste zu berichten, dass die vorliegende amtliche Übersetzung nicht aus Unkenntnis entstanden sei, sondern durchaus in vollem Bewusstsein der Kultusminister/innen vorgenommen worden wäre. So sei unter anderem auf eine korrekte Übersetzung des Begriffs „assistance“ mit „Assistenz“ verzichtet worden. Stattdessen finde sich in der amtlichen Übersetzung „Hilfe“, was einen deutlich geringeren Grad der Selbstbestimmung impliziert. Es existiere jedoch eine sogennante Schattenübersetzung des NETZWERKS ARTIKEL 3. Daran anschließend brachte Dr. Arnade den Teilnehmenden den Inklusionsbegriff aus Sicht der Zivilgesellschaft näher und zog dabei das Modell von Katarina Tomasevski (2002) heran, welche vier Entwicklungsstadien des Rechtes auf Bildung unterscheide. Beginnend mit der Exklusion über die Separation, also einem allgemeinen Recht auf Bildung für alle in unterschiedlichen Systemen, gehe das Modell über das dritte Stadium, das mit „Assimilation durch Integration“ gleichgesetzt werden könne, bis hin zur wirklichen Gleichberechtigung, die schließlich durch ein inklusives Schulsystem erreicht wird. Gleichberechtigung wird in diesem vierten Stadium dadurch erreicht, dass sich die Gesellschaft ändert und nicht die Individuen an die Gesellschaft angepasst werden. Dabei stellte Dr. Arnade deutlich heraus, dass Inklusion mehr ist als das Recht von Kindern auf Bildung. So betreffe Inklusion neben der Bildung und Ausbildung auch Bereiche wie Gesundheit, Erwerbstätigkeit, Familienleben, Mobilität, Kommunikation, Rechtsstellung und gelte für alle Menschen, unabhängig von Behinderungen, Geschlecht, sozialer und kultureller Hintergründe sowie Lebensphasen.

Die BRK und der Parallelbericht der BRK-Allianz

In einem nächsten Schritt ging sie auf die BRK und die Verweise innerhalb der Konvention zu „Familie“ ein. Hier benannte sie die Artikel 22, 23 und 28 als zentral. In diesen wird auf die Aspekte der Privatsphäre, der Wohnung und der Familie sowie des angemessenen Lebensstandards und sozialer Schutz eingegangen. Von hier aus führte Dr. Arnade die Teilnehmenden weiter zu den Vorstellungen der Zivilgesellschaft hinsichtlich der Umsetzung der BRK in Deutschland. So habe sich die sogenannte BRK-Allianz bestehend aus rund 80 Verbänden, von ABiD/ISL über Gewerkschaften bis hin zur Wohlfahrts- und Elternverbänden, gegründet, aus deren Feder auch der Parallelbericht „Für Selbstbestimmung, gleiche Rechte, Barrierefreiheit, Inklusion!“ stammt und deren Sprecherin sie ist. So müssten die ratifizierenden Staaten innerhalb von zwei Jahren einen ersten Bericht zur Umsetzung der BRK bei der UN vorlegen und neben dem Bericht seitens der Regierung gebe es auch immer einen Bericht der Zivilgesellschaft. Auf Basis dieser beiden Berichte stehe im April 2015 ein konstruktiver Dialog zwischen UN, Bundesregierung und der Zivilgesellschaft an. In diesem Zusammenhang ging Dr. Arnade auf die Forderungen der BRK-Allianz in Bezug auf Familien ein, dazu gehören: die Regelung der Frühförderung als Komplexleistung, die Realisierung der „großen Lösung“, die Verankerung von Elternassistenz und begleiteter Elternschaft, die Aufnahme des Menschenrechts auf Familienplanung und Elternschaft in entsprechende Aus- und Fortbildungen sowie die einkommens- und vermögensunabhängige Gewährung von Teilhabeleistungen.

In ihren letzen beiden Punkten ging sie auf die Bereiche Frühförderung sowie Elternassistenz und begleitete Elternschaft näher ein. Größtes Problem seien bei der Frühförderung die Schnittstellen zwischen Leistungsträgern, die den Zugang zu den seit 2001 als Komplexleistung im SGB IX verankerten Angeboten erschwerten. Lediglich in „Sonderwelten“, also im Bereich der Förderschule, funktioniere das System, die Inklusion aber werde massiv erschwert. Dr. Arnade sieht hier akuten gesetzgeberischen Handlungsbedarf. Hinsichtlich Elternassistenz und begleiteter Elternschaft würde die BRK zur Bereitstellung dieser Leistungen verpflichten, jedoch gebe es in deutschen Gesetzen keine eindeutigen Regelungen. Entsprechend müssten Eltern immer wieder aufs Neue mit Behörden um Assistenzleistungen kämpfen und auch vor Gericht erstreiten. Dr. Arnade schloss ihren Vortrag mit der Hoffnung auf Besserung durch das Bundesteilhabegesetz, an dem aktuell gearbeitet werde und mit dem unter anderem auch die „große Lösung“ forciert werden solle.

Der Input von Dr. Sigrid Arnade zum Download. Mehr Informationen zur BRK-Allianz und dem Parallelbericht unter www.brk-allianz.de. Der Parallelbericht kann auch als gedruckte Version bei der Aktion Mensch bestellt werden. Die Schattenübersetzung der Konvention vom NETZWERK ARTIKEL 3 steht als PDF zur Verfügung oder beim Netzwerk bestellt werden.

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Michael Wrase: Inklusion als (Menschen-)Recht?!

Dr. Michael Wrase, WZB

Dr. Michael Wrase, WZB

Dr. Michael Wrase vom WZB eröffnete das Thema mit einem interessanten Blick auf die rechtlichen Auswirkungen der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) auf den Begriff der Inklusion. Durch die UN-BRK sei Inklusion zu einem rechtsverbindlichen Begriff geworden, der beispielsweise bezogen auf das Bildungssystem in Deutschland zu grundlegenden Veränderungen führe. Dr. Wrase erläuterte den Anwesenden zunächst, warum er sich im Weiteren auf den englischen Originaltext der UN-BRK beziehe. So sei die englische Version zum einen die rechtsverbindliche Version der UN-BRK, zum anderen sei die deutsche Übersetzung leider teilweise unpräzise und beinhalte beispielsweise nicht den Begriff „Inklusion“, stattdessen würde lediglich von „Integration“ gesprochen. Nach diesem Exkurs erläuterte er in einem ersten Schritt, wie sich Rechtsbegriffe im engeren und im weiteren Sinne definierten. So seien Rechtsbegriffe im engeren Sinne juristisch unmittelbar von Bedeutung sowie juristisch zu interpretieren und anzuwenden, das heißt sie ziehen Rechtsfolgen nach sich. Als Beispiel für einen derartigen Rechtsbegriff im engeren Sinne führte Dr. Wrase die nachfolgende Passage der UN-BRK an:

„States parties shall ensure an inclusiveeducation system at all levels”.

Hierbei handele es sich um einen Rechtsbegriff im engeren Sinne, der schließlich auch in Art. 24 Abs. 2 BRK konkretisiert wird. Rechtsbegriffe im weiteren Sinne wiederum eröffneten über das positive Recht hinausgehende Sinnverständnisse, seien Leitbilder für ganze Rechtsgebiete (wie das „Behindertenrecht“) und könnten als Interpretationshilfen dienen. Beispielhaft hierfür sei der Artikel 3 „General principles“, in dem es heißt:

“The principles of the present Convention shall be:
a. Respect for inherent dignity, individual autonomy including the freedom to make one’s own choices, and independence of persons;
b. Non-discrimination;
c. Full and effective participation and inclusion in society”

Im Weiteren skizzierte Dr. Wrase das Konzept der Inklusion. So bedeute Inklusion als „Form der Berücksichtigung von Personen in Sozialsystemen“ (Stichweh 2005) – oder wie Dr. Wrase konkretisierte, von Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit – die gleichberechtigte soziale Teilhabe aller zu ermöglichen. Es gehe also immer um Inklusion versus Exklusion. Entsprechend sei laut Dr. Wrase ein System dann exkludierend, wenn es menschlich-sozialer Vielfalt, also Diversität, nicht ausreichend Rechnung trage. Diesem Konzept folgend führe auch die UN-BRK den Gegenbegriff in einem Diskriminierungsverbot in Art. 5 Abs. 2 konkret aus. Diese Diskriminierung wird in Art. 2 genauer definiert:

„’Discrimination on the basis of disability’ means any distinction, exclusion or restriction on the basis of disability which has the purpose or effect of impairing or nullifying the recognition, enjoyment or exercise, on an equal basis with others, of all human rights and fundamental freedoms in the political, economic, social, cultural, civil or any other field. It includes all forms of discrimination, including denial of reasonable accommodation”.

Der Gleichheitsbegriff gehe hier also sehr weit, so Wrase. So berücksichtige substantielle (materielle) Gleichheit sowohl die gegenwärtigen Strukturen als auch vergangene Benachteiligungen und fordere eine systemische Anpassung.

Gleichheitskonzepte im Wandel

Um die Bedeutung und das Innovative dieser Gleichheitsdefinition angemessen würdigen zu können, veranschaulichte Dr. Wrase die Entwicklung des Gleichheitskonzeptes im vergangenen Jahrhundert. So hätte zu Beginn des 20. Jahrhunderts die staatsbürgerliche Gleichheit gegolten, im Rahmen derer es gleiche Behandlung nur im Rahmen geltender Gesetze gab. Dem folgte nach Ende des Zweiten Weltkrieges die formale Gleichheit im Sinne eines Menschenrechtes. Zentral war hier das Differenzierungsverbot, insbesondere aufgrund von Rasse, Herkunft und Geschlecht, kurzum die Gleichheit gegenüber dem Gesetz. Während der Gleichberechtigungs- beziehungsweise Gleichstellungsbewegung hätte die formal-materielle Gleichheit vorgeherrscht, die sich insbesondere in dem Verbot mittelbarer (faktischer) Diskriminierung niederschlug. Grundgedanke war hier, dass durch Regelungen, die die spezifische Lebenssituation nicht berücksichtigen, keine wirksame Gleichheit erzeugt werden kann. Mit der UN-BRK sei man nun an dem Punkt der materiellen Gleichheit. Das wiederum hieße, exkludierende Systeme müssten umgestaltet werden und wenn diese Umgestaltung unterlassen werde, komme das Diskriminierung gleich. Es gehe also um die Gleichheit innerhalb der Sozialsysteme, nicht durch Maßnahmen außerhalb der Systeme, die der Verschiedenheit Rechnung trügen – wie das beispielsweise im Fall der Förderschulen der Fall sei. Mit dem Ansatz der Umgestaltung bestehender Systeme gehe Inklusion deutlich über formale Gleichbehandlung hinaus und müsse dazu führen, dass existierende Prozesse wie zum Beispiel arbeitsorganisatorische Abläufe, hinterfragt würden.

Welche Maßnahmen die UN-BRK nun vorsieht, um Diskriminierung zu verhindern, führte Dr. Wrase zum Schluss seines Vortrages aus. An dieser Stelle ging er näher auf den Art. 24 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit Abs. 2 BRK ein. So sei hier beispielsweise festgeschrieben, dass Menschen mit Behinderung nicht vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden dürfen, Zugang zu inklusiven, qualitativ hochwertigen und kostenfreien Grundschul- und weiterführender Bildung haben und den die benötigte Unterstützung erhalten sowie angemessene Einrichtungen entsprechend der individuellen Erfordernisse vorgehalten werden müssen. Darüber hinaus müssen individuelle Unterstützungsmaßnahmen in Bereichen vorgehalten werden, die der Steigerung der akademischen und sozialen Entwicklung dienen.

Dr. Wrase schloss seinen Input damit, dass auch wenn die UN-BRK hauptsächlich Auswirkungen auf die Inklusion innerhalb des Bildungssystems habe, sie dennoch den Blick für Inklusion als solche entscheidend weite.

Der Input von Dr. Michael Wrase zum Download

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