Publikation “Unterstützungsstrukturen für Familien” vom Bundesforum Familie an die Vorsitzende des Familienausschusses übergeben

Am 15. Januar übergaben Elena Gußmann, die Projektkoordinatorin des Bundesforums Familie und Sven Iversen, Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft der deutschen Familienorganisationen die Abschlusspublikation der Ende 2023 abgeschlossenen Themenperiode an die Vorsitzende des Familienausschusses im Bundestag, Ulrike Bahr.

Übergabe der aktuellen BFF-Publikation an Ulrike Bahr

Bild: Dr. Ruth Vornefeld / Büro Ulrike Bahr

In den Jahren 2022/2023 arbeiteten die Mitglieder intensiv zum inhaltlichen Schwerpunkt „Unterstützungsstrukturen für Familien: Wie sind Angebotsstrukturen der Familienunterstützung in Deutschland konzipiert, organisiert und umgesetzt?“. Die nun übergebene Publikation „Unterstützungsstrukturen für Familien – Zielsetzungen, Zugänge, Angebote“ fasst den Prozess, der aus Fachveranstaltungen und Arbeitsgruppentreffen bestand, zusammen.

Bei der Übergabe unterstützen alle Beteiligten die im Bericht betonte Bedeutung des politischen Willens, präventive Maßnahmen umzusetzen. Dies stets zu betonen sei auch deshalb wichtig, weil deren Effekte oft schwer quantifizierbar seien und sich erst Jahre später zeigen. Im Bericht heißt es dazu: „There is no glory in prevention“. Gleichzeitig wird dort der zwingend notwendige gesamtgesellschaftliche, von den (monetären) Interessen von Einzelressorts befreite Blick hervorgehoben.

In einem zweiten Teil des Gesprächs wurde die neue Themenperiode des Bundesforum Familie in den Jahren 2024 und 2025 thematisiert: Familie und Klima. Hier begrüßten die Beteiligten die Themenwahl der Mitglieder des Bundesforums Familie und betonten die hohe Bedeutung für Familien. Insbesondere wird die nächsten Generationen wird dies existenziell beschäftigen, aber auch Älteren macht die klimatische Veränderung zu schaffen. Angesprochenw urde auch, dass zum Beispiel monetär benachteiligte Familien sowohl von den Auswirkungen des Klimawandels, als auch von den politischen Maßnahmen zu deren Abschwächung verhältnismäßig stärker getroffen als wohlhabende Familien, obwohl sie verhältnismäßig wenig zu deren Ursachen beitragen. Betont wurde auch, dass bei der Behandlung des Themas die Klimafolgenanpassung und der Klimaschutz sowohl auf der individuellen als auch auf der gesellschaftlich / politischen Ebene angesprochen werden müssen und auch die Rolle der Organisationen und Akteure selbst thematisiert werden sollten.

Die Ausschussvorsitzende wird im Anschluss an das Gespräch die Publikation des Bundesforums Familie an die einzelnen Mitglieder des Familienausschusses übergeben.

Diese kann hier auch als PDF abgerufen werden. Für Druckexemplare wenden Sie sich gerne an die Geschäftsstelle des Bundesforums Familie: info@bundesforum-familie.de.

Netzwerktreffen: Abschluss der Themenperiode „Unterstützungsstrukturen für Familien“ und Wahl des Schwerpunktthemas 2024/25 am 17. Oktober 2023

Rund 40 Teilnehmende aus den Mitgliedsorganisationen des Bundesforums Familie kamen am 17. Oktober 2023 im Centre Monbijou in Berlin Mitte zusammen. Inhalt des Netzwerktreffens war die abschließende Reflexion der Themenperiode 2022/23 sowie die Wahl des neuen Schwerpunktthemas für 2024/25.

Elena Gußmann (Bundesforums Familie) eröffnete die Veranstaltung mit einem Rückblick auf die vergangene Themenperiode. Politisch bewegte und beschleunigte Zeiten würden es vielen „leiseren“, aber nicht weniger wichtigen Themen schwermachen, ausreichend in Politik und Gesellschaft wahrgenommen zu werden. In der Arbeit von Unterstützungsstrukturen für Familien seien es aber gerade diese weniger schnellen und weniger lauten Aspekte wie Partizipation, Verbindlichkeit und Nachhaltigkeit, die den Unterschied machten. Für diese Hartnäckigkeit und Geduld erfordernden Themen brauche es mehr Aufmerksamkeit, aber auch Wissen.

Die inhaltliche Bearbeitung im Rahmen der Themenperiode sei durch die enorme Bandbreite und Heterogenität der Familienunterstützung anspruchsvoll gewesen. Im Laufe der zwei Jahre seien die Mitglieder des Bundesforums Familie mit drei Fachforen und zwei zusätzlichen Workshops zum Thema „Empowerment“ und „Sprachsensibilität“ dennoch zu einem guten fachlichen Austausch gelangt. Ein Anliegen des abschließenden Netzwerktreffens sei es, den zurückliegenden Diskussionsprozess mit zwei netzwerk-externen Sichtweisen zu betrachten, weshalb je ein*e Vertreter*in aus der Volkswirtschaft und der politischen Praxis eingeladen wurde. Die im Laufe der Themenperiode erarbeiteten zentralen Thesen könnten durch diese Blickwinkel nochmals überprüft und gegebenenfalls ergänzt werden, um die formulierte politische Argumentation zu stärken.

Teilnehmende diskutierenDie Geschäftsstelle des Bundesforums bedankte sich bei den beteiligten Vertreter*innen der Ad-Hoc-AGs für die engagierte Vor- und Nachbereitung der Veranstaltungen. Die gesammelten Ergebnisse des gemeinsamen Prozesses werden bis voraussichtlich Anfang des Jahres 2024 in Form einer Publikation veröffentlicht und an alle Mitgliedsorganisationen verschickt.

Impuls: Volkswirtschaftliche Perspektive auf die präventiven Effekte der Familienunterstützung

Die volkswirtschaftliche Perspektive auf die präventiven Effekte der Familienunterstützung stellte Dr. Wido Geis-Thöne vom Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) dar. Er betonte, dass Beratung, Begleitung und spezifische Hilfen für Familien in Konfliktsituationen darauf zielten, das Wohlergehen, die Gesundheit und die Leistungsfähigkeit von Eltern zu erhalten und eine gute Entwicklung von Kindern zu ermöglichen. Dieser präventive Ansatz hätte nicht nur für die Familien individuell positive Folgen, sondern führe auch volkswirtschaftlich langfristig zu Einsparungen im Gesundheits-, Bildungs- und Sozial- und Arbeitsmarktsystem führe. Beispielsweise würden Kinder, die psychisch und physisch gesund seien, im Bildungssystem zurechtkommen, ein stabiles soziales Netzwerk aufbauen, sich später besser am Arbeitsmarkt positionieren und Arbeits- und Innovationskraft aufbringen. Gelinge langfristige positive Entwicklung der Kinder, würden auch deren Kinder und Enkelkinder davon profitieren.

Problematisch für die politische Entscheidungsfindung seien jedoch vor allem zwei Faktoren: Zum einen seien diese ökonomischen Effekte nur schwer mit konkreten Zahlen unterlegbar. Ein Grund dafür sei, dass sich familienpolitische Maßnahmen auf Eltern und deren Beziehungen innerhalb und außerhalb der Familie auswirkten. Gerade weil Familien als integrales Element der Gesellschaft so vernetzt seien, habe die Forschung hier Schwierigkeiten. Zudem seien Unterstützungsleistungen oft an Schnittstellen von Familien- und anderen Politiken und könne daher nicht eindeutig zugeordnet werden. Ebenso sei nicht messbar, wie die  Entwicklung eines Kindes / einer Person ohne die Inanspruchnahme einer familiären Unterstützungsleistung erfolgt wäre. Trotz dieser starken Einschränkungen könnten dennoch einzelne fiskalischer Effekte familienpolitischer Leistungen ermittelt werden.

Zur Präsentation von Dr. Wido Geis-Thoene bitte auf das Bild klicken, PDF öffnet sich im Browser

Als zweiten wichtigen Punkt für die zu geringe Bereitschaft für entsprechende Investition in präventive Unterstützungsstrukturen hob Geis-Thöne hervor, dass es in der Tagespolitik eine dominierende Gegenwartspräferenz und die auf die Ausgaben im jeweiligen Haushalt verengte Perspektive gebe: Ausgaben für präventive familienunterstützende Maßnahmen würden zum einen in der Gegenwart anfallen und zum anderen überwiegend von den Kommunen getragen. Von zukünftigen Mehreinnahmen bzw. reduzierten Ausgaben würden jedoch oft die Sozialversicherungen und der Bundeshaushalt profitieren. Die Mittel stünden damit den Kommunen selbst nicht wieder zur Verfügung. Mit dem Wissen um diese Effekte müsse man sich um passende Ausgleichsmechanismen bemühen.

Geis-Thöne betonte zusammenfassend, dass die positiven Effekte von präventiver Familienunterstützung zwar vorhanden, jedoch nicht ausreichend quantifizierbar seien. Insofern seien qualitative Argumentationen und die Beforschung ganz konkreter Maßnahmen umso relevanter.

Impuls: Implementierung präventiver familienunterstützender Maßnahmen aus der Perspektive der politischen Praxis – das Beispiel Berlin

 Marianne Burkert-Eulitz, Sprecherin für Familie und Bildung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus, stellte den Prozess zur Entwicklung des Berliner Familienfördergesetzes vor, das zahlreiche präventive Maßnahmen beinhalte. Zu beachten sei jedoch, dass Berlin durch seine Funktion als Stadtstaat Vorteile gegenüber Flächenländern habe. Zudem habe Berlin eine hohe Zuzugsquote, wodurch Berlin von der präventiven Unterstützungsarbeit profitiere, die woanders geleistet wurde.

Burkert-Eulitz beschrieb, dass Anfang der 2000er Jahre weder die Familien noch der familiäre Sozialraum in die Jugendhilfe einbezogen worden seien und die Rechtsansprüche auf Jugendhilfe oft schwer umsetzbar waren. Im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg sei damals eine bezirksweite Arbeitsgemeinschaft gegründet als auch Qualitätszirkel zwischen Jugendamt und einzelnen Einrichtungen initiiert worden. Insgesamt seien ca. vier Mio. Euro in den Bereich der Familienunterstützung investiert worden.

Die Herausforderung sei gewesen, diese erfolgreichen Ansätze auf die Landesebene zu übertragen – auch, weil die Bedarfs- und Haushaltslage der Bezirke sehr heterogen sei. Dennoch sei ein Familienfördergesetz partizipativ erarbeitet worden, das unter anderem Anreize für Bezirke vorsieht, die sich selbstständig um die Umsetzung zu bemühen. So würden beispielweise in Kreuzberg Familienservicebüros bei Hort- und Kita-Anträgen unterstützen, in Mitte würde zu Fragen zur Familienkasse beraten. In das Gesetz einbezogen seien auch weitere Bereiche wie Elternbegleitung und Stadtteilmütter. Einige Familienzentren seien an Grundschulen angesiedelt. Um den unterschiedlichen Ausgestaltungen gerecht zu werden, sei 2020 ein „Flexibudget“ eingeführt worden, mit dem bedarfsorientierte Schwerpunktsetzungen auf Bezirksebene finanziert werden können.

Burkert-Eulitz hob hervor, dass das Familienfördergesetz in der öffentlichen Wahrnehmung wenig präsent gewesen sei, so. Dennoch – oder vielleicht gerade deshalb – werde es fraktionsübergreifend mitgetragen. Auch aktuell sei es Ziel, Regelungen, die zugleich verbindlich und flexibel seien, im Gesetz zu verankern. So soll unabhängig von den jeweiligen haushaltspolitischen Bedingungen dauerhaft die Stärkung von Familien finanziert werden.

Diskussion

 In den Diskussionen wurde betont, welche sozialen und finanziellen Argumente hilfreich sein könnten, eine frühzeitige Familienunterstützung zu etablieren. Ein Beispiel seien die hohen Kosten, die bei einer Inobhutnahme bei Kindeswohlgefährdung entstehen würden. Hervorgehoben wurde, dass je jünger die Familien seien und je früher diese kontaktiert würden, desto offener seien sie in der Annahme von unterstützenden Angeboten. Infrage gestellt wurde, ob eine kommunale Aufsichtsbehörde, die eine Umsetzung des gesetzlichen Auftrags sicherstellt, sinnvoll sein könnte. Eingeworfen wurde, dass unklar sei, wer die Rechtsansprüche einklage. Fraglich sei auch, wie mit der Einklagbarkeit umgegangen werden sollte, wenn entsprechende finanzielle Mittel fehlten. Andererseits würden Mittel die beim Bund bereitstünden, durch die Länder und Kommunen häufig nicht abgerufen. Das Beispiel Berlin sei positiv, durch die besonderen Voraussetzungen jedoch nicht einfach 1 zu 1 auf Flächenländer übertragbar. Als zentral wurde gesehen, wie sich die geteilte Verantwortung zwischen Bund, Ländern und Kommunen auch in den Strukturen sinnvoller abbilden ließe. Betont wurde dabei, dass der Bund hier noch mehr als Partner für Länder und Träger auftreten solle.

Wahl des Schwerpunktthemas für 2024/25

Im zweiten Teil des Netzwerktreffens stand die Wahl des neuen thematischen Schwerpunktes im Mittelpunkt. Elena Gußmann stellte den Auswahlprozess vor: Im Vorfeld wurden mehr als 40 Themenvorschläge von den Mitgliedsorganisationen eingereicht. Diese wurden durch den Beirat des Netzwerktreffens gesichtet und geclustert. Dabei wurden Querschnittsfelder identifiziert, die unabhängig von der Wahl bei jeder Thematik berücksichtigt werden sollten: 1) Armut, Ungleichheit und soziale Disparitäten, 2) Gesundheitliche Auswirkungen von Problemlagen, 3) Diversität von Familien und Intersektionalität, 4) Das Einnehmen einer selbstreflexiven Perspektive, 5) Bezug auf die europäische Ebene. Folgende vier Themenvorschläge wurden von Themenpatinnen aus den Mitgliedsorganisationen vorgestellt:

  1. Familien im Klimawandel
  2. Inklusion – Familiale Lebenszusammenhänge und ihre politische und gesellschaftliche Teilhabe
  3. Familien in der digitalen Welt
  4. Vereinbarkeit und Zeitpolitik: Sorgearbeit, Lohnarbeit, Ehrenamt

 

Nach einer Kleingruppenphase, in der alle Teilnehmenden jedes Thema kurz andiskutierten, wählten die Vertreter*innen den neuen Schwerpunkt: Familien im Klimawandel. Elena Gußmann verabschiedete sich von der Runde mit dem Ausblick, die zahlreichen Anregungen aus der Diskussion dazu zu nutzen, in Abstimmung mit dem Beirat einen spannenden Fahrplan für die neue Themenperiode zu entwerfen.

Fotos: Holger Agolph |  AGF

Fachforum am 16. Mai 2023: „Familienunterstützung finanzieren: Rahmenbedingungen, Umsetzungen, Ziele“

16.05.2023, Berlin | Das dritte und letzte Fachforum der Themenperiode „Unterstützungsstrukturen für Familien – Wege zu wirksamen Angeboten“ fand am 16. Mai 2023 im Festsaal der Berliner Stadtmission statt. Die über 40 Teilnehmer*innen aus den Mitgliedsorganisationen des Bundesforums diskutierten die rechtlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen von Familienunterstützung, deren Umsetzung und identifizierten gemeinsam notwendige Schritte in Richtung einer flächendeckenden, ausfinanzierten und nachhaltigen Angebotsstruktur für Familien.

Neben den finanziellen Mitteln standen auch Ressourcen wie Personal und strukturelle Fragestellungen im Zentrum der Veranstaltung. Den Auftakt machte Dr. Till Nikolka (Deutsches Jugendinstitut), der zu kommunalen Finanzen und Angebote der Kinder- und Jugendhilfe referierte. Anschließend gab Dr. Laura Castiglioni (Deutsches Jugendinstitut) Aufschluss über die Frage nach gesetzlichen Rahmenbedingungen und Umsetzungspflichten, die sich durch das SGB VIII ergeben. Auf diesen Input aufbauend, wurden konkrete Umsetzungsbeispiele aus Thüringen (Dr. Stefanie Hammer | Thüringer Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie) und NRW (Christina Wieda (Universität Speyer / Bertelsmann Stiftung) vorgestellt. Am Nachmittag eröffnete Christina Wieda die Diskussion über kommunales Handeln vor dem Hintergrund der Kooperationsgesetze im Sozialgesetzbuch. In einer World-Café-Diskussion entwickelten die Teilnehmer*innen konkrete Ideen, wie Familienunterstützung strukturell und finanziell besser in Recht und Gesellschaft verankert werden könnte.

Impulsvortrag: „Kommunale Finanzen und Angebote der Kinder- und Jugendhilfe“

Dr. Till Nikolka vom Deutschen Jugendinstitut präsentierte Forschungsergebnisse zu kommunalen Finanzen und Angeboten der Kinder und Jugendhilfe (KJH). In die Untersuchung einbezogen waren Daten von öffentlichen Ausgaben der Verwaltungshaushalte anhand der Einnahmen- und Ausgaben-Statistik der KJH, Ausgaben aller öffentlicher Träger der KJH sowie Regionalkennzahlen der amtlichen Statistik (2015—2020). Diese Daten wurden jeweils anhand der Gesamtvolumina pro Einwohnerzahl auf der Ebene der Landkreise und kreisfreien Städte berechnet. Dr. Till Nikolka gab zu bedenken, dass Ausgaben von freien Trägern und Eigenfinanzierungen nicht in diesen Statistiken erfasst seien. Als Forschungsergebnis habe sich ein deutlicher Anstieg von Ausgaben über die Jahre gezeigt. Dieser sei unter anderem durch die Aufnahme vieler unbegleiteter geflüchteter Jugendlicher zu erklären. Ein weiteres Ergebnis seien die sehr stark variierenden Höhen der Ausgaben pro Einwohner*in. Die Forschungsergebnisse ließen erkennen, so unterstrich Dr. Till Nikolka, dass insgesamt nicht zu wenig Geld im System der KJH für Familien vorhanden sei. Finanzielle Ressourcen für Angebote der KJH seien jedoch in den Regionen sehr unterschiedlich verteilt. Beforscht wurden daher die kausalen Verbindungen zwischen kommunalen Strukturen und der Ausgestaltung der Finanzierung. Schlussfolgernd sei erkennbar: die Konkurrenz um Mittel und Ressourcen steige, je höher die Kommunen belastet seien. Das SGB II und die Hilfen zur Erziehung stünden in Konkurrenz um eine konstante Mittelversorgung. Dies erkläre sowohl die große Variation der einzelnen kommunalen Ausgaben bei den Hilfen zur Erziehung als auch den Anstieg der Mittelausgaben über die Zeit sowie die Varianzen auf der Bundes- und Landesebene. Entscheidend sei daher gewesen, bei der Ergebnisbewertung strukturelle Unterschiede der Kommunen, Kreise und kreisfreien Städte zu berücksichtigen. Insbesondere bei den Hilfen zur Erziehung sei der strukturelle Aufbau innerhalb der Kreise und die wahrgenommene Zuständigkeit der Jugendämter entscheidend.

Dr. Till Nikolka (DJI)

Einschränkend gab Dr. Till Nikolka zu bedenken, dass aufgrund der Datenlage bisher nur eine rein deskriptive Darstellung jedoch keine umfassende Analyse der Zusammenhänge möglich sei. So sei zum Beispiel in den amtlichen Statistiken der KJH keine Differenzierung der Mittelherkunft möglich. Eine interregionale Vergleichbarkeit sei daher nicht gegeben. Auch seien die Produktkataloge der KJH der einzelnen Kommunen sehr unterschiedlich. Eine Datenerweiterung sei geplant, die zukünftig die Jahresrechnungsstatistiken der Kommunen sowie die Personalstatistik der nicht-stationären Einrichtungen der KJH berücksichtige. Zukünftig müsse die Datenqualität jedoch verbessert werden, um u.a. einzelne Themen der Sozialarbeit oder Finanzierungsvariationen, etwa die Kofinanzierung von Angeboten durch die Familien selbst, einzeln zu erfassen und auszuwerten.

Diskussion

Das Fachforum diskutierte die Ergebnisse von Dr. Till Nikolka insbesondere im Hinblick auf die Freiwilligkeit und die verpflichtenden Leistungen der Kommunen sowie auf die Herausforderungen föderaler Strukturen. Als problematisch wurde erkannt, dass laut den Ergebnissen primär die präventiven Maßnahmen von Kürzungen betroffen seien, bei invasiven Maßnahmen hingegen die Ausgaben stiegen. In diesem Zusammenhang wurde gefordert, dass es sei wünschenswert sei, empirisch zu belegen, dass höhere Ausgaben im präventiven Bereich Ausgaben im invasiven Bereich auf lange Sicht mindern.

Wahlmöglichkeit und Umsetzungspflicht

Die Freiwilligkeit und Verpflichtung der Länder und Kommunen zur Finanzierung und Ausgestaltung familiärer Unterstützungsstrukturen war Thema im Beitrag von Dr. Laura Castiglioni. Sie stellte den gesetzlich bindenden Rahmen des Bundes im § 16, SGB VIII vor, dessen rechtliche Stellung sowie die Rolle der Länder bei der Umsetzung. Dr. Laura Castiglioni stellte heraus, dass der allgemeinen Förderung der Erziehung in Familien eine präventive Funktion zugeordnet sei. Die im Gesetzestext formulierte Konkretisierung der Erziehungshilfen begründeten dafür eine Verbindlichkeit (Sollpflicht). Rechtlich festgehalten sei ebenso in § 16, Abs. 1, dass die näheren Ausführungen durch das Landesrecht geregelt seien. Durch diese Kombination entstehe die Schwierigkeit, dass kein individueller Rechtsanspruch bestehe, der das Recht für Familien einklagbar machen würde. Die Rechtslage zeige weiterhin Überschneidungen der Paragrafen § 16 und § 17 des SGB V III, so dass es zu einem fließenden Übergang zwischen präventiven und invasiven Angeboten komme. Entscheidend sei daher, wie die Länder diese rechtliche Lage handhaben.

Wie es aussehen kann, wenn die Länder diese Ausgestaltungsmöglichkeiten nutzen, zeigten anschließend zwei länderspezifische Umsetzungsbeispiele:

1. Thüringen: Familienförderungssicherungsgesetz

Dr. Stefanie Hammer, Referentin für Familien- und Seniorenpolitik im Thüringer Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie stellte das Thüringer Familienförderungssicherungsgesetz (ThürFamFöSiG) vor. Das erste ThürFamFöSiG (2006) sei nach einem Paradigmenwechsel 2018 neu aufgestellt und nach einer Modellphase seit 2019 in Kraft. Ziel des neuen Gesetzes sei eine bedarfsgerechte, Demografie feste und beteiligungsorientierte Familienförderung. Die Reform sei durch den Koalitionsvertrag 2014 angestoßen und unter Beteiligung aller Akteure entwickelt worden.

Dr. Stefanie Hammer (TMASGFF)

Der Paradigmenwechsel sei vom Land Thüringen als notwendig erachtet worden, um auf gesellschaftliche Veränderungen (z.B. neue Familienformen, demografischer Wandel) zu reagieren. Ein nun genutzter inklusiver Familienbegriff werde auch älteren Menschen gerecht, die jetzt explizit als Bestandteil der Familien verstanden würden. Um auch den heterogenen Lebensbedingungen in Thüringen (starke Stadt-Land-Unterschiede) gerecht zu werden, sei auf der Grundlage des Familienförderungssicherungsgesetzes eine regionale und überregionale Trennung der Familienförderung sowie eine regionale und überregionale Sozialplanung eingesetzt worden. Eine Bedarfsermittlung habe Aufschluss über unterschiedliche soziale Lagen gegeben. Durch den überregionalen Landesfamilienförderplan sowie einem überregionalen Landesfamilienrat wird die Finanzierung und Steuerung der Familienförderung auf überregionaler Ebene gewährleistet. Das Landesprogramm „Solidarisches Zusammenleben der Generationen“ ist für die Steuerung auf regionaler Ebene zuständig. Damit werden Projekte auf Mikro-, Meso- und Makroebene finanziert; auch die Finanzierung freiwilliger Leistungen ist möglich. Zuwendungsempfänger sind Landkreise und kreisfreie Städte, welche die Mittel an die Träger weitergeben. Damit hat das Land die Steuerung der Ausgaben teilweise an die Kommunen abgegeben.
Erfolgsfaktoren des neuen Familienfördergesetzes, so Dr. Stefanie Hammer, seien insbesondere der politische Wille, die gesetzliche Festlegung der Fördersumme von 10 Millionen Euro sowie die Vorerfahrung im Bereich der Sozialplanung auf kommunaler Ebene durch die ESF-Förderungen. Als regionale erfolgreiche Formate nannte Dr. Stefanie Hammer Dorfkümmerer, Familienlotsen, mobile Familienzentren oder das Netzwerk Pflege.

2. NRW: Landesinitiative „Kein Kind zurücklassen

Als zweites länderspezifisches Umsetzungsbeispiel stellte Christina Wieda von der Universität Speyer die Landesinitiative „Kein Kind zurücklassen“ aus NRW vor. Ziel sei, den Aufbau kommunaler, ämter- und rechtskreisübergreifender Präventionsketten zu fördern. In der Perspektive „vom Kind aus gedacht“ sollen so entlang des Lebenslaufes eines Kindes Präventionsketten ohne Brüche entstehen. Bis 2020 wurde die Landesinitiative durch die Bertelsmann Stiftung in der Modellphase forschend begleitet. Hinter der Idee der Modellinitiative, kommunale Angebote ineinandergreifen zu lassen, stehe der Gedanke, das Bundes- und Landesebene entlastet würden, wenn Prävention funktioniere.
Als Ergebnis des Projekts zeigte sich die Notwendigkeit eines „Ankerpunkts“ für die unterschiedlichen Lebensphasen. Regelinstitutionen (Schule, Kita, Jugendeinrichtungen) spielten daher für das Gelingen eine große Rolle. Elternbefragungen bestätigten außerdem die Bedeutung von Vertrauenspersonen. Problem sei nach wie vor die Versäulung der Institutionen auf EU-, Bundes- und Länderebene, die europäische Förderprogramme leider oft noch verstärkt würden. Im Ergebnis zeige sich, so Christina Wieda, dass gerade eine frühzeitig datenbasierte, bedarfsorientierte Planung Prävention begünstige.

Diskussion zum Thema Finanzierungsmodelle

In der anschließenden Diskussion wurde die „Pflichtleistung“ des § 16 im SGB VIII, insbesondere aber dessen mangelnde Umsetzung kritisch hinterfragt und diskutiert. In Folge der Novellierung des SGB VIII sei es die Aufgabe der Kreise und öffentlichen Träger, eine sozialräumliche Bestandsaufnahme zu machen und anhand der Themen, wie in SGB V III § 16 benannt, ihre Angebote zu gestalten. Wichtig sei außerdem, dass die Förderung von Familien selbstverständlich sein sollte und nicht an Defiziten festgemacht werden dürfe. In diesem Zusammenhang wurde der Begriff „Prävention“ kritisch diskutiert, da dieser ein defizitäres Menschenbild reproduziere.
Als Umsetzungs-Barriere wurde erkannt, dass es keine oder zu wenig Anreize für Entscheidungsträger*innen gebe, die Maßnahmen umzusetzen. Präventive Effekte seien zu wenig sichtbar, um damit zum Beispiel Wahlkampf machen zu können. Um hier mehr Sichtbarkeit und damit Handlungsspielräume zu entwickeln, sei Forschung wichtig. Es wurde angeregt, dass das Deutsche Jugendinstitut sich stärker diesem Bereich zuwenden könnte. Letztlich sei aber für einen Paradigmenwechsel der Familienförderung vor allem ein entsprechender politischer Wille notwendig.

Impulsvortrag: „Von der Familie aus denken: Kommunales Handeln vor dem Hintergrund der Kooperationsgesetze im Sozialgesetzbuch (SGB)“

Christina Wieda stellte ihre Forschung am Lehrstuhl für Sozialrecht und Verwaltungswissenschaften der Universität Speyer vor. Ausgangspunkt war die Aufgabenstellung laut Sozialgesetzbuch: Es solle dafür sorgen, dass jedem Kind die gleiche Voraussetzung für die freie Entfaltung der Persönlichkeit geschaffen werde und die dafür nötigen Angebote rechtzeitig und ausreichend zur Verfügung stehen. Der Aufbau kommunaler, ämter- und rechtskreisübergreifender Präventionsketten entlang des Lebenslaufes eines Kindes seien dafür sinnvoll.

Hinsichtlich der Sozialgesetzgebung seien dafür die Rahmenbedingungen (Auskunfts-, Beratungs-, Hinwirkungs- und Kooperationspflichten) vorhanden und Präventionsketten damit sozialrechtlich gut verankert.
Kommunen seien im Sinne der freien Selbstverwaltung somit in der Lage, Gesetze umzusetzen. Ein Realitätscheck auf Grundlage des Berichts zur Kinderarmut und dessen Auswirkungen auf Teilhabe, Bildung, Wohlbefinden und Gesundheit zeige aber: hier gebe es Handlungsbedarf. Umsetzungsprobleme lägen im Föderalismus und in der Ausgestaltung des Verwaltungsrechts. Auch wenn ein Gleichbehandlungsgrundsatz bestehe, könne dieser nicht immer überall gleich wahrgenommen werden oder sei den Betroffenen nicht bekannt. Beispielsweise würden die Leistungen der Bildung und Teilhabe weniger in Anspruch genommen, als diese den Familien eigentlich zustünden.

World-Café

Im anschließenden World-Café diskutierten die Teilnehmer*innen des Fachforums an vier Tischen konkrete Schritte und Handlungsempfehlungen. Diese bezogen sich jeweils auf die vier Ebenen: Bundesebene, Landesebene, kommunale Ebene und freie Akteurs-Ebene.

 

Abschlussdiskussion

„Was könnte direkt verändert werden?“, „Wer muss dafür aktiv werden?“ und „Was kann ich dafür tun?“ waren die einleitenden Fragen der Abschlussrunde, in der Elena Gußmann dazu einlud, die zuvor erarbeiteten Ideen zusammenzutragen. Als ein Ansatz wurde die Reformierung der föderalen Strukturen genannt, um zielgerichtet und ohne Reibungsverluste finanzieren zu können. Durch interkommunale Vernetzung, so ein weiterer Vorschlag, könnten sich Kommunen gegenseitig besser beraten und sich über gelingende Umsetzungspraktiken austauschen. Die Umverteilung von Finanzen sei jedoch ein zentraler Punkt, um strategisch anzusetzen: Konnexitätsprinzip und Kooperationsgebot wurden als wichtige Stichworte genannt, ebenso die Notwendigkeit eines Bundesrahmengesetzes und einer integrierten Sozialplanung. Inspiriert von den vorgestellten Familienfördergesetzen der Länder und deren positiven Effekten sowohl auf die strukturelle Fördersituation als auch auf die Sichtbarkeit von Familien auf politischer Ebene, wurde die Ausgestaltung eines Bundesfamilienfördergesetzes angedacht. Auf eine ganz andere Ebene zielte der Aufruf, mehr Aufmerksamkeit auf den Familienbegriff zu legen. Familie verwirkliche sich in einer Vielfalt von Erscheinungsformen und gehe durch viele verschiedene Lebensphasen (bspw. Pflegeaspekte), die zukünftig mehr in der Familienförderung berücksichtigt werden müssten. Familie solle neu gedacht, ihre Sichtbarkeit gestärkt werden. Familie als Verantwortungsgemeinschaft sei eine große, auch volkswirtschaftlich genutzte Ressource. Unbezahlte Sorgearbeit, die hauptsächlich immer noch von Frauen geleistet werde, sei weiterhin zu wenig berücksichtigt. Dies müsse sich in den politischen Entscheidungen widerspiegeln. Auch gelte es, die Wirtschaft mehr in die Verantwortung zu nehmen.

 

Fachforum am 14. März 2023: „Familienunterstützung verzahnen, verknüpfen, entsäulen: Potenziale und Ansätze aus der Familienbildung“

14.03.2023 | Im Rahmen des zweiten Fachforums der Themenperiode „Unterstützungsstrukturen für Familien – Wege zu wirksamen Angeboten“ kamen am 14. März 2023 knapp 50 Vertreter*innen aus den Mitgliedsorganisationen zusammen. Die Online-Veranstaltung thematisierte die Strukturen und Netzwerke von Familienunterstützung und fokussierte dabei insbesondere auf den Bereich der Familienbildung.

Wie wird Familienunterstützung organisiert? Welche Strukturen gibt es, die befördern oder verhindern, dass Angebote ineinandergreifen? Wie müssen Netzwerke strukturell gebaut sein, um Partizipation von Familien zu ermöglichen und Versorgungslücken zu schließen? Der Weg zu einer flächendeckend gelingenden Angebotslandschaft muss an den oft langfristig gewachsenen Strukturen ansetzen. Im System der unterstützenden Angebote spielt gerade die Familienbildung eine wichtige Rolle – historisch gesehen war es die Familienbildung, die stets auf neue gesellschaftliche Herausforderungen reagierte und so strukturelle Lücken auffangen konnte. Mit dieser Rolle gehen jedoch auch strukturelle Eigenheiten, Stärken und Schwächen einher. Das Fachforum hatte das Ziel, ausgehend von der aktuellen Lage der Familienbildung strukturelle Richtungsentscheidungen für familienunterstützende Angebote zu suchen. In einer Gesellschaft, in der sich sowohl Rahmenbedingungen als auch Ansprüche an Unterstützung dynamisch ändern, müssen Strukturen überdacht und angepasst werden.

Impulsvortrag: „Familienbildung – ein Modell für familienunterstützende Systeme?“

Anhand einer in Nordrhein-Westfalen durchgeführten Evaluation der Familienbildung ermöglichte Prof. Dr. Ute Müller-Giebeler (Technische Hochschule Köln) einen Einblick in das Arbeitsfeld und die aktuellen politischen Herausforderungen für die Familienbildung. Sie verdeutlichte, weshalb die Familienbildung ein weiblicher Arbeitsbereich sei und welche strukturell relevanten Konsequenzen sich daraus ergäben.

Die Familien und mit ihr die Familienbildung stehen laut Müller-Giebeler vor vielfältigen internen und externen Herausforderungen. Kritisch sei das Modernisierungsdefizit in der Familienbildung. Die Überzahl der kirchlichen Träger sei ein Indiz, dass sich die Trägerlandschaft nicht zusammen mit der Gesellschaft diversifiziere. Zudem stellten in der Personalstruktur erwerbstätige Mütter seit je her den größten Anteil. Aufgrund gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse habe sich die Rolle der Frauen jedoch gewandelt, weshalb sich die Möglichkeiten, sich ‚nebenfamiliär‘ zu engagieren, reduzierten. Diese gleichstellungspolitisch positive Entwicklung zöge somit personelle Engpässe nach sich, die durch externe Krisen wie zum Beispiel der Pandemie und der Inflation zugespitzt würden.

Frau Müller-Giebeler betonte das breite Spektrum an Alltagsthemen, die durch die Angebote der Familienbildung abgebildet würden. Dies stehe jedoch angesichts von unzureichenden Mitteln häufig im Konflikt mit der geforderten Professionalisierung. So sei zwar angesichts der Vielfalt der Herausforderungen und Themen eine Professionalisierung notwendig. Andererseits zeige sich jedoch, dass Beziehungen und idealistisches Engagement für eine erfolgreiche unterstützende Familienbegleitung weitaus relevanter seien. Wichtig sei es daher, auch bei einer Zunahme der Professionalisierung, die Stärke des (historisch) gewachsenen niedrigschwelligen Zugangs sowohl von Anbietenden als auch Annehmenden nicht aufzugeben. Hierfür seien die Netzwerke in den Sozialraum gut geeignet.

Als eine der neuen politischen Herausforderungen skizzierte Müller-Giebeler, dass das Selbstverständnis der Familienbildung zunehmend in Frage gestellt würde. Seit den 2000er Jahren gäbe es vermehrte Aufmerksamkeit für die Familienbildung. Jedoch rücke die Familie zunehmend Produktionsstätte von Humankapital in den Fokus statt als Ort kritischer Aufklärung und Bildung. Dies sei nicht mit der ursprünglichen Auffassung der Familienbildung vereinbar.

Für die Familienbildung betonte sie folgende charakteristische Strukturmerkmale:

  • gute Netzwerkstrukturen in den Sozialraum
  • hoher Idealismus als Arbeits- und Motivationsfaktor
  • authentische Arbeitsweise nah am lebensweltlichen Geschehen
  • relativ wenig Professionalisierung und relativ wenig hauptberuflich Angestellte
  • historisch gewachsene Peer-to-Peer-Ansätze
  • hohes Vertrauen der Zielgruppen

Diskussion: „Neue Anforderungen an Familienbildung“

Im Anschluss diskutierte das Fachforum die genannten vielfältigen Ansätze der Familienbildung.
Vielversprechend und gleichzeitig kritisch wurde der Ansatz der Familienbildung als „dritter Sozialraum“ gesehen, da die Familienbildung nachweislich überwiegend von Familien der Mittelschicht genutzt werde. Entsprechend spiegele der Sozialraum der Familienbildung nicht die gesellschaftliche und familiäre Heterogenität wider. Gleiches gelte entsprechend für das Personal. Ungelöst bliebe daher auch die Frage nach einer heterogenen Trägerlandschaft: Wie kann die Trägerlandschaft diverser werden? Als größtes Problem wurden die prekären nebenberuflichen bzw. nebenfamiliären Arbeitsbedingungen in der Familienbildung diskutiert. Diese Form der Nebenberuflichkeit könne hier nur unter Bedingungen „echter Selbstständigkeit“ mit entsprechend hohen Honoraren erhalten werden.

Hinsichtlich des angesprochenen strukturellen Dilemmas der Familienbildung sei einerseits sei eine Spezialisierung notwendig, um sich den Bedürfnissen der Familien besser anzupassen. Andererseits sollten breite und niedrigschwellige Angebote bereitgestellt werden, die von im Sozialraum angebundenen und vernetzten Akteuren gestaltet werden. Angemerkt wurde, dass die Geschichte der Familienbildung zugleich auch eine Geschichte der Frauenbildung und Frauenselbstbildung sei. Dies sei eine große Stärke – informelle Bildung solle eine höhere Anerkennung bekommen.

Einigkeit bestand in der Forderung, dass in der Familienbildung die häufige prekäre Beschäftigung von Frauen beendet werden müsse. Auch die Rolle des Ehrenamts wurde diskutiert: Es sei problematisch, wenn staatliche Aufgaben an das Ehrenamt ausgelagert würden, ohne dafür gleichzeitig gute Voraussetzungen zu schaffen. In diesem Zusammenhang wurde geäußert, dass die Familienbildung mit der Ehrenamtlichkeit im Prinzip von Familien selbst finanziert würden: Schließlich sei davon auszugehen, dass ehrenamtliche Tätigkeit Frauen meist nur dann möglich sei, wenn sich ich auf einen „Ernährer der Familien“ stützen könnten.

Austausch in Kleingruppen: „Unausgeschöpfte Potenziale“

Im zweiten Teil des Fachforums vertieften die Teilnehmer*innen herausfordernde Aspekte der Familienbildung anhand vier verschiedener Themen: Netzwerkarbeit, Personalstruktur, Digitalisierung und gesetzliche Ausgestaltung. Ein- und angeleitet wurde der Austausch von Themenpatinnen aus den Mitgliedsorganisationen des Bundesforums Familie.

Arbeitsgruppe 1: „Kommunale Netzwerke“

Nach einer kurzen Eröffnung der Fragestellung durch Britta Kreuzer (LAG Soziale Brennpunkte Niedersachsen) diskutierte die Kleingruppe die Rolle der Sozialraumorientierung für die Angebotsstrukturen von Familienunterstützung sowie die Bedingungen guter Zusammenarbeit zwischen Akteuren auf kommunaler Ebene.

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Es wurde betont, dass es eine verantwortliche Stelle geben müsse, die die Angebote kontinuierlich koordiniert, Netzwerke pflegt und um die Bedarfe der Familien weiß. Gesetzlich sei diese Rolle seit in Kraft treten des KJSG 2021 den Jugendämtern zugeschrieben – jedoch setzten nicht alle diesen Auftrag um. Hier brauche es länderübergreifenden Austausch, um gelingende Abläufe bekannt zu machen: So arbeite beispielsweise das bayerische Landesjugendamt eng mit den kommunalen Jugendämtern zusammen, um auf Bedarfslagen mit passenden Angeboten reagieren zu können und Ungleichgewichte in der regionalen Abdeckung abzubauen. Diskutiert wurde, inwiefern eine gute Vernetzung kommunaler Akteure wie z.B. dem Quartiersmanagement, der Gemeinwesenarbeit oder Beratungsstellen Zugang zu Personen schaffen kann, die sonst eher selten erreicht werden –sowohl als Nutzende als auch als potenzielle Familienbildner*innen, z.B. als Trainer*innen, Referent*innen oder Elternbegleiter*innen.

 

Arbeitsgruppe 2: „Personalstruktur in der Familienbildung mit Blick auf den Gender-Aspekt“

Die Kleingruppe rekapitulierte nach einem einleitenden Impuls von Ulrike Stephan (eaf | evangelische arbeitsgemeinschaft familie), dass sich Familienbildung durch einen strukturell bedingten hohen Anteil von (fluktuierenden) Teilzeit- und Honorarkräften sowie Ehrenamt auszeichne.

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Zudem sei aus historischen und strukturellen Gründen der Frauenanteil überdurchschnittlich hoch.  Vor diesem Hintergrund diskutierte die Kleingruppe die Dilemmata, die mit der strukturellen Verquickung von gesellschaftlichen Rollenbildern, (familien-)ökonomischen Realitäten und gesetzlichen Rahmenbedingungen einhergehen. Als besonders frustrierend wurde der Umstand genannt, dass diese, aus gleichstellungspolitischer Sicht untragbaren, Schräglagen in der Familienbildung selbst reproduziert würden: Frauen beschäftigten Frauen prekär. Durch die aktuelle Förderstruktur würden für die Familienbildung eben jene Frauen gewonnen, die Teil eines Familienbildes sind, das aus familienpolitischer Sicht immer weniger zu halten sei. Als wichtigste Stellschraube wurde die tarifgerechte Bezahlung genannt. Auf diese Weise könne (weiblicher) Altersarmut entgegnet werden und die Berufe würden für Männer attraktiver. Als weitere Stellschraube wurde die Sichtbarkeit der Familienbildung identifiziert – so gebe es zwar immer mehr männliche Fachkräfte, die in der Sozialen Arbeit oder als Erzieher arbeiteten, die Familienbildung sei aber in der Ausbildung als Arbeitsfeld zu wenig wahrnehmbar.

Das Problem sei außerdem, dass mit dem gesellschaftlichen Wandel von Rollenbildern, aber auch den aktuellen ökonomischen Herausforderungen (Stichworte Pandemie, Inflation) die Zahl der Ehrenamtlichen deutlich zurückgehe. Hier entstehe durch den Wegfall des freiwilligen Engagements eine sehr große Lücke, mit der man umgehen müsse. Hierfür könnten zum Beispiel die Schaffung von Arbeitsplätzen bzw. Bereitstellen von finanziellen Mitteln Ansatzpunkte sein. Hilfreich sei auch eine bessere gesellschaftliche Anerkennung und politische Ermöglichung von Lebensrealitäten, in denen Zeit und Raum für ehrenamtliches Engagement bliebe.

 

Arbeitsgruppe 3: „Digitalisierung“

Dr. Susanne Eggert (JFF | Institut für Medienpädagogik) leitete in die Diskussion mit der Frage ein, wie Digitalisierung sinnvoll strukturell in der Familienbildung verankert werden könnte.

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Übersichtsportale, eine digitale Angebotsstruktur, die Bewerbung der Angebote über Social Media: Digitalisierung biete auf verschiedenen Ebenen Chancen, Familienunterstützung wirksamer zu gestalten. Mit digitalen Angeboten könnten auch Personen erreicht werden, die bisher eher selten Angebote wahrgenommen hätten. Insgesamt seien bspw. mit der digitalen Familienbildung überproportional viele Männer erreicht worden. Auch Alleinerziehenden erhöhe ein digitaler Zugang die Teilnahmemöglichkeiten. Einschränkend wirke die digitale Ausstattung von Familien: Nicht alle Familien hätten die notwendige Hardware oder mediale Kompetenz um digitale Angebote entsprechend zu nutzen. Gerade im ländlichen Raum fehle oft die notwendige Internetverbindung.

Die Diskussionsrunde stellte fest: Digitalisierung gelte es zu gestalten. Hier könne viel aus der Corona-Zeit gelernt werden. Ebenso könnte an die bestehenden Kompetenzen der Eltern und damit bereits an verfügbare Lösungen gedacht werden. Dies ermögliche einen niedrigschwelligen Einstieg und knüpfe zugleich an die Lebenswelt der Zielgruppen an. In der Diskussion blieb jedoch die Blickrichtung offen: Sollten Familien für digitale Formate „fit“ gemacht werden, in dem Geräte, Software, Anwendungen, Kompetenzen, etc. verbessert werden? Oder sollten sich die Formate an den bestehenden Ressourcen der Familien orientieren? Es brauche digitale Lösungen, die technisch und im Sinne der Handlungskompetenz für die Familien leicht erreichbar seien. Dazu müssten digitale Angebote professioneller aufgebaut sein. Als Vorteil benannten die Diskutierenden, dass zielgruppengerechte Informations- bzw. Qualifizierungsangebote (z.B. für Multiplikator*innen und Eltern/Familien) digital gut angepasst werden könnten. Eine Verlagerung der Angebote ins Digitale sei sehr sinnvoll – jedoch nur unter der Voraussetzung, die Technikausstattung, Internet-Abdeckung, Datenschutz, Know-How, etc. sei gegeben. Die Teilnehmer*innen betonten zuletzt, dass sich viele positive soziale Wechselwirkungen des direkten Kontakts nicht in den digitalen Bereich übertragen ließen, Digitalisierung aber die Chance biete, die Vielfalt der Familienbildung sichtbar zu machen.

 

Arbeitsgruppe 4: „Gesetzliche Ausgestaltung“

Braucht es Nachbesserungen in den gesetzlichen Regelungen – wenn ja, welche? Wo sind konkrete Baustellen, woran wird gearbeitet? Sandra Clauß (Bundesarbeitsgemeinschaft Landesjugendämter) eröffnete die Diskussion mit einer generellen Einordnung der Lage der Familienbildung in Deutschland

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Sie erinnerte daran, dass es landesspezifisch sehr unterschiedliche Umsetzungen gebe. Eine gesetzliche Grundlage für die Familienbildung bestehe derzeit nur in Berlin: das Familienfördergesetz von 2019. Das Gesetz zur Förderung und Beteiligung von Familien solle die Qualität und die Finanzierung der Angebote der Familienförderung und damit auch der Familienbildung im Land Berlin sichern. Andere Länder wie Baden-Württemberg erarbeiteten derzeit vergleichbare Gesetzesentwürfe. Deutlich wurde, dass diese Unterschiedlichkeit besonders in finanzieller Hinsicht zu unterschiedlichen Ausgangslagen führe. Projektfinanzierungen, oft über Drittmittelförderungen, sei in vielen Ländern üblich, obwohl die Familienbildung eine stabile Grundfinanzierung benötige. Problematisch sei insbesondere die Notwendigkeit der Eigenanteile in der Projektfinanzierung. Diese könne insbesondere von kleineren Trägern oft nicht geleistet werden. In der Diskussion wurde betont, dass die Bedarfe aller Familien berücksichtigt werden müssten. Sinnvoll sei daher eine am Sozialraum orientierte Steuerung durch das Jugendamt. Problematisch sei, dass Familien auch sozialräumlich nicht immer erreichbar seien. Der Vorschlag, Programme für verschiedene Zielgruppen themenspezifisch zu konzipieren, wurde von den Teilnehmer*innen kontrovers diskutiert. Eine Ausrichtung nach aktuellen Themen sowie Programme für verschiedene Zielgruppen würde die Finanzierung noch komplizierter machen. Ein Perspektivwechsel hin zur Bedarfsorientierung ermögliche eine präventive Steuerung (wie in Berlin), in enger Zusammenarbeit mit dem Jugendamt. Zukünftig sei zudem denkbar, Familienbildung als aufsuchende Komm- und Gehstrukturen zu entwickeln. Alle genannten Veränderungen seien mit der jetzigen Ausgestaltung des Paragraph § 16 des SGB bereits möglich. Es sei keine Frage der finanziellen Ausstattung, sondern des politischen Willens.

 

Abschlussdiskussion im Plenum

Abschließend wurde in großer Runde diskutiert, inwiefern Stärken der Familienbildung auch auf andere Bereiche der Familienunterstützung übertragbar seien. Diese Transferfrage offenbarte gleich zwei Herausforderungen: Erstens seien die sehr heterogenen Strukturen der Familienbildung – die diverse Trägerlandschaft, die länderspezifischen Umsetzungen, die verschiedenen lokalen Gegebenheiten – kaum zu überblicken. Dadurch würde die Suche nach generellen Aussagen oder Lösungsansätzen erschwert. Zweitens würde die Familienbildung durch historisch gewachsene Spezifika charakterisiert, die heute im Rahmen von sich verändernden Bedingungen und wachsenden Ansprüchen unter starkem Druck stünden. Deutlich wurde, dass gerade der Bereich der Familienbildung strukturell von gesellschaftlichen Verhältnissen – Familienmodell, Geschlechterrollen, Bildungsbegriff – abhängig ist. Dies sind Problematiken, die nicht allein durch Richtungsentscheidungen innerhalb der Institutionen aufgelöst werden können. Ein politischer gesamtgesellschaftlicher Diskurs ist ebenfalls dafür zwingend notwendig.

Impulsworkshop am 28. Februar 2023: „Wenn die Familien wüssten, was wir in unseren Projektanträgen über sie schreiben, würden sie nicht mehr kommen“

Berlin, 20.03.2023 | Sprache in der sozialen Arbeit mit Familien – darüber wurde in einem Impulsworkshop des Bundesforums Familie am 28. Februar gesprochen. Er schloss sich an das Fachforum „Ansprache & Werthaltungen in der Familienunterstützung“ vom 20. Oktober 2022 an. Welche Wirkung kann Sprache haben und wie kann die Arbeit mit und für Familien durch eine sensible Sprache erleichtert werden? Hierzu diskutierten knapp 40 Teilnehmende online mit dem Referenten Prof. Dr. Christian Philipp Nixdorf.

Zu den Teilnehmenden zählten neben Vertreter*innen aus den Mitgliedsorganisationen des Bundesforums Familie auch Studierende und Kolleg*innen von Christian Nixdorf. Nach der Begrüßung vergegenwärtigte Projektkoordinatorin Elena Gußmann den Ursprung der Idee zu diesem Workshop.

Einleitung: Sprache im Fokus

Der Impulsworkshop sei eine Ergänzung zum Fachforum Ansprache & Werthaltungen am 20. Oktober 2022, so Elena Gußmann. Hier war das Thema Sprache kaum thematisiert worden – zumindest nicht systematisch. Punktuell wurde das Thema jedoch gestreift: So habe die Referentin Elizaveta Khan vom Integrations-Haus Köln betont, dass ihr Team den Begriff „Integration“‘ zwar ablehnen würde, ihn aber dennoch zur Ansprache ihrer Zielgruppe verwendete. Der Effekt dieses Signalwortes „Integrationdas ist was für uns, hier werden wir gemeint, da gehen wir hin“ sei hier in der Abwägung wichtiger als die korrekte Bezeichnung dessen, was in dieser Einrichtung gelebt werde. Ebenso berichtete Elizaveta Khan von einem täglichen sprachlichen „Spagat“: Sie müssten in Berichten und Anträgen die Klient*innen als defizitär darstellen, weil für die Behebung akuter Missstände eher Gelder flössen als für Präventivangebote. Aus diesem „2-Sprachen“ bzw. „2-Adressat*innen-System“ stamme der zugegebenermaßen etwas lange Titel dieser Veranstaltung, in der die Sprache im Zentrum stehe.

Impulsvortrag: Sprache und deren Wirkung im Sozialwesen

Der Workshop begann mit einem Impulsvortrag von Christian Nixdorf. Als Sozialwissenschaftler, Organisationspädagoge und Sozialarbeiter unterrichtet er als Professor für Soziale Arbeit und Integrationsmanagement an der Hochschule der Wirtschaft für Management in Mannheim. Er ist Autor des Buches „Sprachverwendung im Jobcenter – Wenn Kunden keine Kunden sind“ (2020). Für einen Kommentar war Sandra Clauß vom Landesjugendamt Rheinland und dem Beirat des Bundesforums Familie eingeladen, bedauerlicherweise konnte sie jedoch aus gesundheitlichen Gründen nicht teilnehmen.

Der Titel des Vortrags von Christian Nixdorf lautete „Sprache und deren Wirkung im Sozialwesen“. Christian Nixdorf stellte zu Beginn die These auf, dass der Sprache im Sozialwesen eine herausragende Bedeutung zukomme. Sozialarbeitende seien darauf angewiesen, dass Klient*in­nen bereit sind, mit ihnen zu sprechen. Diese Bereitschaft werde durch die Art beeinflusst, wie mit und über Klient*innen gesprochen wird. Kleine Unterschiede im Formulieren könnten große Wirkung haben – im Positiven wie im Negativen.

Sozial schwach: Unwort oder nicht?

Christian Nixdorf stellte Aussagen aus dem Bereich der sozialen Arbeit zum Ausdruck „sozial schwach“ vor (s. Präsentation, Folie 5) und fragte die Teilnehmenden: Wie verstehen Sie diesen Ausdruck „sozial Schwache“? Die Teilnehmenden antworteten:

  • „Menschen mit wenig sozialer Kompetenz und Empathie“
  • „Menschen mit wenig Empowerment, die kommen mit ihrem Leben nicht klar, brauchen Hilfe; aber besser wäre es, Elon Musk als sozial schwach zu bezeichnen“
  • „Menschen, die nicht sozial kompetent sind und andere ausgrenzen“
  • „Menschen, die sich nicht sozial verhalten.“

Christian Nixdorf bestätigte diese Assoziationen, die auftreten, wenn insbesondere in den Medien Arme als „sozial Schwache“ bezeichnet würden. In der Soziologie jedoch sei der Begriff nicht abwertend, sondern neutral beschreibend gemeint. In der Netzwerkforschung beziehe sich soziale Schwäche nicht auf individuelles (Fehl)verhalten, sondern auf das Fehlen von Strukturen und Kontakten, mit denen man Interessen durchsetzen oder Gehör finden kann. Arme hätten genauso wie andere Menschen starke soziale Beziehungen in ihrem nahen Umfeld (Familie, Freundschaften), aber weniger an schwachen sozialen Beziehungen und losen Kontakten zu Personen, die ihnen bei der beruflichen Entwicklung oder anderen Herausforderungen hilfreich sein können (Anwält*innen, Universitätsangehörige, Führungskräfte usw.). Arme oder in diesem Sinne sozial schwache Menschen seien strukturell benachteiligt.

Die Rahmung unserer Worte macht den Unterschied

Christian Nixdorf nannte weitere Beispiele für Ausdrücke und Formulierungen, die je nach fachlichem Hintergrund oder Milieu unterschiedlich aufgefasst würden. Auf die divergenten Verständnisse von sprachlichen Ausdrücken zu achten, sei im Sozialwesen sehr wichtig, so Nixdorf, weil das Sozialwesen oft mit Menschen zu tun habe, die Abwertung erfahren oder psychisch krank sind. Sie seien daher in besonderem Maße auf Sprache sensibilisiert. Es mache z. B. einen Unterschied, ob man sagt „Frau S. ist hilflos“ oder „Frau S. benötigt viel Unterstützung.“ Der Ausdruck „Systemsprenger“ wecke Zerstörungsassoziationen, wo eher Hilfeassoziationen angebracht wären.

Warum Worte im Sozialwesen so wichtig sind. Folie.

Die Herausforderung hierbei bestehe darin, dass das Reden von einer Normalität nötig ist, um einen Vergleichsmaßstab zu haben – das impliziere aber auch, dass das, was dieser Normalität nicht entspricht, anormal (und behandlungsbedürftig) sei. Probleme sollten benannt werden, aber um negative Assoziationen insbesondere bei den Klient*innen zu vermeiden, sollte auf die Rahmung oder Einbettung (engl. Framing) geachtet werden.

Framing/Rahmung „bezeichnet den Effekt, dass ein und dieselbe inhaltliche Information vom Empfänger unterschiedlich aufgenommen wird, je nachdem, wie sie (z. B. positiv oder negativ) formuliert oder (mit unterschiedlichen Begleitinformationen) verknüpft wird.“ (Schubert & Klein 2020)

Beispiel: Soziales Netz oder soziale Hängematte? Bei „soziales Netz“ sei das Framing Absicherung, die Wirkung Neutralität oder Zufriedenheit. Bei „soziale Hängematte“ hingegen sei das Framing Ausnutzung, und die Reaktion Wut über die „Sozialschmarotzer*innen“.

Christian Nixdorf führte diverse Begrifflichkeiten an, die Handlungsweisen und Überzeugungen professioneller Sozialer Arbeit beschreiben, wie Lebensweltorientierung, Ressourcenorientierung, Empowerment, etc. Diese Begriffe seien positiv besetzt und würden die Fähigkeiten der Klient*innen betonen. In der Praxis spräche man in der Sozialen Arbeit aber oft negativ über Klient*innen – das sei jedoch keine Anklage, denn es gebe Gründe dafür, z. B. Anreize bei der Antragstellung.

Fazit: Sprachsensibilität erleichtert die Arbeit

Sozialpädagogisch angemessen sei es, achtsam zu reflektieren, was trotz der Probleme noch alles möglich wäre – und das sprachlich abzubilden. Sprachsensibilität bedeute nicht Selbstzensur. Der Vorwurf der Sprachpolizei verkenne, dass es etwas mit Wertschätzung zu tun habe, wie gesprochen wird. Sprachsensibel vorzugehen sei gerade im Sozialwesen hilfreich, weil viele Klient*innen sie in ihrem Leben sonst oft eher selten erfahren. Eine sprachsensible Rahmung bedeute keinesfalls, alles durch die rosarote Brille zu sehen und Probleme schönzureden oder zu leugnen. Aber eine wirksame Unterstützung sei kaum möglich, wenn unsere Sprache zu sehr problemgeprägt sei. Klient*innen helfe eine lösungsorientierte Rahmung, da diese Machbarkeitsassoziationen wecke.

Diskussion: Menschenrechte der Kund*innen

Im Anschluss diskutierte die Runde zunächst, ob der Ausdruck „Kund*in“ für Unterstützungsnehmer*innen adäquat sei. Diese benenne die Menschen richtig als als Inanspruchnehmer*innen von Leistungen. Christian Nixdorf wies darauf hin, dass die „Kund*innen“ nur leider die Leistung oft nicht ablehnen dürften und dieser Umstand in dem Begriff nicht abgebildet werde. Eine andere Teilnehmerin hielt den Ausdruck „Kunde/Kundin“ für schwierig, „Ratsuchende“ sei besser geeignet als „Klient*innen“. Auch von „ALG II“ statt von „Hartz IV“ zu sprechen, mache etwas mit den Menschen.

Wie lassen sich nicht nur Fachkräfte, sondern auch große Träger für diese sprachlich wirkmächtigen Feinheiten sensibilisieren? Christian Nixdorf schlug vor, mit gutem Beispiel voranzugehen und in Briefen und Gesprächen auf eine sensible Sprache hinzuweisen. In seiner Zeit im Jobcenter habe er Briefe an die Leitung geschrieben und damit eine Änderung der Begriffe in offiziellen Schreiben erwirkt. Elena Gußmann fragte, ob es einen Code of Conduct oder Leitfaden gebe, der zu empfehlen sei. Christian Nixdorf nannte den Sprachleitfaden der Bundesagentur für Arbeit.

Fazit der Diskussion: an vielen Stellen intervenieren

Aus der Runde wurde auf das Problem hingewiesen, dass Alleinerziehende in der meist verwendeten Sprache oft kaum vorkämen, sie würden nicht mitgedacht. Hier müsse es eine Änderung geben, besonders in der Politik. Eine angemessene Sprache müsse als Menschenrecht gelten. Vorgeschlagen wurde, dass die Runde einen Brief an die Politik und die Medien für mehr Selbstreflektivität in der Sprache im Sozialwesen formulieren solle. Die Soziale Arbeit müsse sich ebenfalls verändern, das wäre eher intern zu bewerkstelligen. Christian Nixdorf teilte die Einschätzung, dass hierin eine große Chance läge – es sei auch die Verantwortung der Verbände. Man müsse selbst – da, wo man ist – aktiv werden und nicht auf die Aktivität von Anderen warten.

Download: Prof. Dr. Christian Philipp Nixdorf: „Sprache und deren Wirkung im Sozialwesen“ (Präsentation, 28.02.2023)

28. Februar 2023, online: Impulsworkshop „Wenn die Familien wüssten, was wir in unseren Projektanträgen über sie schreiben, würden sie nicht mehr kommen.“

Ein selbstreflexiver Blick auf den Sprachgebrauch in Unterstützungsstrukturen
28. Februar 2023 | 11:00-12:15 | online via zoom


Kontext

Wie über Personen und Kontexte gesprochen wird, ist keine Nebensache. Sprache bildet Werthaltungen ab, reproduziert Verhältnisse, Ausschlüsse und Stigmatisierungen und formt Erwartungen, Normen und Ideale. Dies kann subtil oder brutal, unbeabsichtigt oder ganz bewusst geschehen. Im Rahmen der aktuellen Themenperiode „Unterstützungsstrukturen für Familien – Wege zu wirksamen Angeboten“ soll daher der Zusammenhang von Sprache, Ansprache und gelingender Unterstützung genauer betrachtet werden. Die Veranstaltung antwortet damit auf Fragen, die in den Diskussionen des Fachforums „Ansprache und Werthaltungen in der Familienunterstützung“ am 20. Oktober 2022 identifiziert wurden.

Leitfragen

  • Wie kann vermieden werden, dass über Familien („Antrags-Prosa“, „Beantragungssprache“) anders gesprochen wird als mit Familien (wertschätzende Ansprache)?
  • Wie können Übersetzungsbedarfe zwischen unterschiedlichen Sprachen (Verwaltungssprache, juristische Sprache, Alltagssprache, etc.) reflektiert und ein Raum für diese Reflexion strukturell verankert werden?
  • Welche Ansätze gibt es, Unterstützung in Problemlagen anzubieten, ohne die Unterstützungsnehmenden zu problematisieren? („Das Problem ist strukturell“ statt „Die Familien sind problematisch“)

Der Impulsworkshop fokussiert auf die Kommunikation innerhalb der unterstützenden Strukturen und fragt, wie ein Bewusstsein für Sprache auf allen Ebenen geschaffen werden kann.

Input

Prof. Dr. Christian Philipp Nixdorf ist Sozialwissenschaftler, Organisationspädagoge, Sozialarbeiter und unterrichtet als Professor für Soziale Arbeit und Integrationsmanagement an der Hochschule der Wirtschaft für Management in Mannheim. Er ist Autor des Buches „Die Verwaltungssprache des Jobcenters – Semantik der Grundsicherungsarbeit“ (2020). Im Input wird am Beispiel der „sozialen Schwäche“ nicht nur dargelegt, warum bestimmte Begriffe, die täglich im Sozialwesen genutzt werden, problematisch sein können. Beleuchtet wird ebenfalls, wie die Herkunft der Begriffe und das jeweilige Framing zu unterschiedlichen Konnotationen führen kann. Wie kann ein professioneller, sprachsensibler Umgang mit den Widersprüchen gelingen?

Im Anschluss wird Sandra Clauß (Landesjugendamt Rheinland, Beirat Bundesforum Familie) den Input einordnend kommentieren und in eine offene Diskussion überleiten.

Ablauf des Workshops

11:00 Begrüßung und Einleitung: BFF Geschäftsstelle
11:10 Impuls: Prof. Dr. Christian Philipp Nixdorf
11:35 Kommentar: Sandra Clauß
11:45 Offene Diskussionsrunde
12:15 Abschluss

Anmeldung

Bitte melden Sie sich zur Veranstaltung bis an. Die Anmeldung ist bis zum 26.02.2023 möglich. Sie bekommen eine Bestätigung per Mail. Die Einwahldaten werden ebenfalls per Mail kurz vor der Veranstaltung allen angemeldeten Teilnehmer*innen zugesendet. Die Veranstaltung richtet sich an alle Mitglieder des Bundesforum Familie sowie die Studierenden von Prof. Dr. Christian Philipp Nixdorf.

Fachforum am 20. Oktober 2022: „Ansprache & Werthaltungen in der Familienunterstützung“

Berlin, 20.10.2022 | Knapp 40 Vertreter*innen aus den Mitgliedsorganisationen des Bundesforums Familie kamen anlässlich des ersten Fachforums der aktuellen Themenperiode „Unterstützungsstrukturen für Familien – Wege zu wirksamen Angeboten“ im Festsaal der Berliner Stadtmission zusammen. Im Fokus der fachlichen Diskussion stand der enge Zusammenhang zwischen der Wirksamkeit von Unterstützung und den Werthaltungen seitens der unterstützungsgebenden Fachkräfte sowie der Träger und Fördermittelgeber. Damit stellte das Fachforum bewusst eine selbstreflexive Perspektive in den Vordergrund: Welche Werthaltungen in den Organisationen führen zu Ansprachen, die eine Unterstützung ermöglichen oder verhindern? Wie kann hier Veränderung stattfinden?

Einleitung durch die Ad-Hoc-AG „Ansprache und Werthaltungen“

DSabine Felgenhauer (PEKiP)r. Verena Wittke (Arbeiterwohlfahrt Bundesverband) und Sabine Felgenhauer (PEKiP) stellten im Auftrag ihrer das Fachforum vorbereitenden Arbeitsgruppe den bisherigen Diskussionsstand vor: Im Austausch innerhalb der AG sei bewusst geworden, dass sowohl Wissen als auch Sensibilität für die unterschiedlichen Lebenslagen der Familien Voraussetzung für eine wirksame Zusammenarbeit sei. Zuschreibungen durch gesellschaftliche Familienbilder sowie die eigene sozial erworbene Werthaltung beeinflusse die Arbeit mit den Familien.

Von elementarer Bedeutung sei es daher, dass Institutionen bzw. deren Fachkräfte die eigenen Werthaltungen und die eigene „Hauskultur“ hinterfragten, da gerade hier etablierte Machtebenen oft unmerklich reproduziert würden. Es brauche diese kritische Beschäftigung mit „dem Eigenen“, um von einer zuschreibenden zu einer zuhörenden Unterstützungsstruktur zu kommen. Im Zuge dessen sei es wichtig, dass die Partizipation von Familien gestärkt werde – unter anderem dadurch, dass Familien ihren Unterstützungsbedarf selbst definieren können.

Dr. Verena Wittke (AWO Bundesverband)Im Kontext von Partizipation sei der Begriff des „Empowerments“ im Verlauf der bisherigen Themenperiode von den Mitgliedsorganisationen sehr kritisch diskutiert worden. Klar geworden sei, dass es in der Unterstützung von Familien eher um ein „Powersharing“ ginge: „Menschen oder Gruppen können nur sich selbst empowern und nicht von Anderen empowert werden“, so Dr. Verena Wittke. Im Sinne des Powersharings sei zufragen, wer in der Unterstützungs-Begegnung die Definitionsmacht habe, welche Privilegien die Fachkraft besitze (oder gerade nicht) und letztlich auch, wie und welche Ressourcen geteilt und verteilt werden könnten.

Als Ergebnis der AG-Diskussion wurden vier Fragen vorgestellt, die das Fachforum inhaltlich leiten sollten:

  1. Wie gehen wir mit der Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Lebenswelten um?
  2. Inwieweit ist die vielzitierte „Begegnung auf Augenhöhe“ in familienbegleitenden und -unterstützenden Angeboten möglich?
  3. Welche Bedeutung haben die Art der Sprache und die Wortwahl in der Ansprache von Familien?
  4. Partizipation – wer definiert Bedarfe und Themen? Wie können die Menschen vor Ort in Bedarfsentwicklung und Angebotsgestaltung einbezogen werden?

Ziel sei es, so Sabine Felgenhauer abschließend, in der Diskussion des Fachforums nicht nur theoretische Ansätze, sondern auch Umsetzungsideen zur Frage: „Was bedeutet Powersharing für die Arbeit mit Familien?“ zu finden.

Praxisimpuls „Partizipation als Antwort auf Hürden bei der Inanspruchnahme Früher Hilfen“

Till Hoffmann (NZFH)Till Hoffmann vom Nationalen Zentrum Frühe Hilfen (NZFH) stellte in seinem Beitrag am Beispiel der Frühen Hilfen vor, auf welche konkreten Hürden Unterstützungsstrukturen in der Praxis stoßen und zeigte auf, welche Bedeutung Werthaltungen und Ansprache in diesem Kontext einnehmen. Ein bekanntes Grundproblem sei das Präventionsdilemma – ein Effekt, der beschreibt, dass durch Präventionsmaßnahmen der Abstand zwischen erreichten ressourcen-starken und nicht erreichten ressourcen-schwachen Familien noch verstärkt wird. Um auf diese Problemlage zu antworten, setze das NZFH auf einen partizipativen Ansatz bei der Inanspruchnahme Früher Hilfen.

Das Nationale Zentrum Frühe Hilfen

Till Hoffman stellte zunächst den Aufbau und die Arbeit des NZFH vor. Der Aufbau der Frühen Hilfen werde in Form von Netzwerken gestaltet und koordiniert. Ausgangspunkt und Bestandteil seien dabei die bereits bestehenden kommunalen Strukturen. Die Kommune definiere den Bedarf an Frühen Hilfen und sei für deren Organisation zuständig. Frühe Hilfen würden dabei von allen Mitgliedern des Netzwerkes geleistet, die Kontakt zu psychosozial belasteten Familien und deren Kindern haben, insbesondere Kinderärzt*innen und Hebammen etc. Der Schwerpunkt der Arbeit läge bei den benachteiligten Familien, die Arbeit im Netzwerk der Frühen Hilfen richte sich jedoch prinzipiell an alle werdenden bzw. jungen Eltern und deren Kinder bis zum 3. Lebensjahr. Die regelmäßige Evaluation habe gezeigt, dass die Angebote eine hohe Akzeptanz erfahren und eine nachhaltige Wirkung entwickelten, so Till Hoffmann.

Partizipationsansatz

Der Ansatz des NZFH sehe vor, die Zusammenarbeit jeweils an den Ressourcen der Familie auszurichten, das Selbsthilfepotential zu stärken und in der Praxis an der elterlichen Verantwortung anzusetzen. Ziel sei es, durch einen niedrigschwelligen Zugang Hilfen für alle, insbesondere aber für psychosozial belastete Familien zu bieten. Partizipation sei hier auch auf der institutionellen und professionellen Ebene ein wichtiger Ansatz. Till Hoffmann stellte in dem Zusammenhang die Partizipationspyramide nach Straßburger und Rieger vor, welche die Stufen der Partizipation sowohl aus der Perspektive der Institutionen als auch der Bürger*innen beschreibt.

Partizipationspyramide nach Straßburger/Rieger (Hg.): Partizipation kompakt - Für Studium, Lehre und Praxis sozialer Berufe 2014, S. 232f.

Partizipationspyramide nach Straßburger/Rieger (Hg.): Partizipation kompakt – Für Studium, Lehre und Praxis sozialer Berufe 2014, S. 232f.

Partizipation brauche vor allem Zeit und Flexibilität, um der dafür notwendigen Interaktion Raum zu geben. Von den Fachkräften verlange der Ansatz mehr Risikobereitschaft und die Offenheit, auf die Lebensweltperspektive der Eltern einzugehen. Till Hoffman betonte, dass dies für Beratungssituationen in Zwangskontexten umso wichtiger sei. Dafür seien hohe soziale Kompetenzen sowie methodische Kenntnisse von den Fachkräften gefordert.

Erreichbarkeitsstudie

Till Hoffmann betonte, dass Partizipation und Erreichbarkeit sich wechselseitig bedingen. Um besser zu verstehen, warum Familien nicht erreicht und so auch nicht beteiligt werden können, gab das NZFH 2018 eine Erreichbarkeitsstudie in Auftrag, die subjektive Lebensrealitäten und Bedürfnisse von Familien erfragte. In einem Studiendesign wurden 123 Mütter mit Kindern im Alter von 0-3 Jahren in Form von häuslichen Interviews befragt. Die qualitative Studie bestand aus Leitfadeninterviews sowie standardisierten Fragebögen. Anhand der Erreichbarkeitsstudie konnten als Fazit verschiedene Hürden für die Inanspruchnahme Früher Hilfen abgeleitet werden: gesellschaftliche Rollenbilder wie „die gute Mutter“, die eigene soziale Identität, der Anspruch, es „alleine zu schaffen“. Ebenso bestehe eine Angst vor Stigmatisierung bei Inanspruchnahme Früher Hilfen, was wiederum zu Versagensgefühlen und Selbstzweifeln führe. Das Ziel Früher Hilfen müsse es daher sein, diese Zweifel, Sorgen und Ängste der Eltern bereits in der Ansprache und in der Kommunikation von Angeboten ernst zu nehmen und soweit möglich aufzufangen. Die Schaffung einer wertungsfreien und vertrauensbildenden Atmosphäre „auf Augenhöhe“ sei hier besonders wichtig. Für die konkrete Zusammenarbeit bedeute dies z.B. mit sprachlicher Sensibilität vorzugehen und das fachliche Wissen unterstützend anzubieten, anstatt zu belehren.

Partizipation sei immer eine Querschnittsaufgabe, die auf allen Netzwerkebenen verankert werden müsse. Um diese Verankerung zu unterstützen, habe das Netzwerk das Projekt „Qualitätsdialoge Frühe Hilfen“ entwickelt, das im Qualitätsrahmen im Zeitraum 2017—2021 umgesetzt wurde. Das Projekt entwickelte Praxismaterialien, die den Fachkräften ermöglichen, das Thema Partizipation und damit konkrete Vorgehensweisen zu deren Umsetzung gemeinsam im Netzwerk zu erarbeiten.

Diskussion

In der anschließenden Diskussion wurden einzelne Aspekte der Frühen Hilfen kritisch sowie im Hinblick auf ihre Übertragbarkeit auf andere Unterstützungsstrukturen diskutiert. Im Kontext von Werthaltungen diskutierten die Teilnehmenden das Verständnis von Augenhöhe, die Definitionen von Zielgruppen sowie den Umgang mit Diversität in der Zusammenarbeit mit den Familien.

Diskussion weiterlesen

Augenhöhe: Kontrovers diskutiert wurde insbesondere der Begriff der Augenhöhe. Einerseits sei fraglich, was genau unter Augenhöhe verstanden werde und ob andererseits Augenhöhe in einer asymmetrischen Begegnung von Unterstützungsnehmenden und –gebenden überhaupt möglich sei. Unabhängig davon sei es jedoch auf jeden Fall möglich und wichtig, eine respektvolle Beziehung zwischen Fachkräften und Familien zu entwickeln, in der beide Seiten als Expert*innen ihres Fachs bzw. ihrer Lebenswelt anerkannt werden. Seitens der Fachkräfte sei es wichtig, sich die Gründe für den eigenen Wissensvorsprung vor Augen zu führen. Insbesondere in der Frage, wer den Unterstützungsbedarf bestimmt, sei besondere Sensibilität gefordert.

Zielgruppen: Einerseits ermögliche eine Definition von Zielgruppen eine genauere Zuschreibung der Angebote und Bedarfe der Familien. Andererseits gehe mit der Definition von Zielgruppen häufig bereits eine Stigmatisierung einher. Wie die Erreichbarkeitsstudie des NZFH festgestellt habe, könne dieses Gefühl der (potentiellen) Stigmatisierung eine Hürde für die Inanspruchnahme von Hilfen darstellen. Dies führe letztlich zu einer Ablehnung von Hilfsangeboten. Fraglich sei daher, ob eine universelle Ausrichtung nicht besser sei. Till Hoffmann betonte, das Angebot des NZFH richte sich zwar im Schwerpunkt an psychosozial belastete Familien, sei aber vom Leitgedanken her ein Angebot für alle Familien. Bedeutend sei, dass die Zielgruppen in den Netzwerken vor Ort festgelegt werden, da diese den Bedarf und die Strukturen vor Ort kennen.

Diversity: Es wurde diskutiert, dass es im Sinne eines Diversity-Ansatzes notwendig sei, diesen auch im Monitoring der Netzwerkakteure zu berücksichtigen. Die Frühen Hilfen seien mit ihren Angeboten an alle Formen von Familien adressiert. Da die konkrete Ausgestaltung jedoch vor Ort stattfinde, variierten die Angebote je nach Bedarf der kommunalen Strukturen vor Ort. Hierzu verwies Till Hoffman an noch offene Kommunalbefragungen, die dazu mehr Ergebnisse bringen werden.

Erreichbarkeit: Deutlich wurde, dass der Aufbau von gut funktionierenden Netzwerken mit vermittelnden Akteuren vor Ort als ein wichtiges Kriterium für Unterstützung gelten muss. So könnten bspw. Familienhebammen den Bedarf in den Familien erkennen und Angebote unmittelbar an die Familien herantragen. Lotsendienste in den Geburtskliniken könnten eine ähnlich wichtige Funktion einnehmen. Die gelungene Erreichbarkeit durch die Frühen Hilfen müssten durch lebenslauforientierte Anschluss-Angebote weitergeführt werden. Wenn die Frühen Hilfen beendet seien, in der Regel mit dem erreichten 3. Lebensjahr, entstehe bisher unter Umständen ein Kompetenzverlust der teilnehmenden Eltern und Familien. Es werde hierzu bereits diskutiert, die Frühen Hilfen auf ein anderes Altersspektrum auszuweiten. Offen sei dazu die Finanzierung: Seit 2012 seien 50 Millionen Euro für Angebote für 0–3-Jährige bereits nicht ausreichend gewesen. Ohne finanzielle Absicherung könne das Angebot nicht ausgeweitet werden. Wie hier sinnvoll Übergänge geschaffen werden können, müssten die Kommunen klären.

Aufbau von wirksamen Strukturen: Es wurde die Möglichkeit diskutiert, dass bestimmte Angebote der Frühen Hilfen, wie zum Beispiel Familienhebammen, als Regelleistung angeboten werden könnten. Davon sei die derzeitige Versorgungslage noch weit entfernt, fehle an diesem Punkt doch die Finanzierung, die Fachkräfte und teils der strukturelle Aufbau. Um daran zu arbeiten, sei es notwendig, redundante Strukturen zu erkennen und Akteure wie Selbsthilfeinitiativen oder Kitas besser zu verknüpfen. Till Hoffman betonte die Notwendigkeit, die Konzeptionen der Frühen Hilfen durch Kommunalbefragungen mit der Realität abzugleichen und gegebenenfalls anzupassen. Problematisch sei es jedoch, dass die Befragung der kommunalen Akteure fast ausschließlich über kommunale Hilfen erfolge. Die Kinder- und Jugendhilfe sei jedoch auf allen Landes- und Bundesebenen anders. Förderale Strukturen seien hier für ein sehr heterogenes Bild in der Ausgestaltung der Netzwerke verantwortlich. Till Hoffmann verwies außerdem darauf, dass Partizipation auf Fachkräfte-Ebene im Kontakt mit den Familien mitgedacht werde, die Partizipationsmöglichkeiten innerhalb von Behörden jedoch sehr gering seien. Hier lohne eine weitere Diskussion.

Workshop-Phase

Am Nachmittag kamen die Teilnehmer*innen des Fachforums in zwei verschiedenen Workshops zusammen:

1. „Für oder mit? Familien erreichen, Familien beteiligen – eine Frage der Haltung?“

Britta Kreuzer von derBritta Kreuzer, Landesarbeitsgemeinschaft Soziale Brennpunkte Niedersachsen e.V. Landesarbeitsgemeinschaft Soziale Brennpunkte Niedersachsen e.V. und Jasmin Harbers, Koordinatorin der bundesweiten Programme „Griffbereit“ und „Rucksack KiTa“ im Landkreis Ammerland, stellten Projekte vor, deren kultursensible Ansätze in der Familienarbeit anschließend diskutiert wurden. Fokus der Programme sei ein Angebot an mehrsprachige Eltern, welches wiederum von mehrsprachigen Eltern umgesetzt werde.

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Das Angebot richte sich an Familien mit Kindern in einem Alter ab einem Jahr bis zur 2. Schulklasse. Die Eltern und Kinder fänden sich über ein Jahr in gemeinsamen festen Gruppen zusammen, die von Elternbegleiter*innen angeleitet würden. Die Gruppen seien mehrsprachig. Gemeinsam arbeiteten die Eltern an verschiedenen Themen zu Erziehungs- und Bildungsfragen, zum Angebot zählten zudem Spiele oder Gruppenaktivitäten (z.B. Eltern-Kind-Frühstück). Die Themen würden parallel der Themen in Kita, Schule und Elterngruppe festgelegt. Zur Umsetzung und Begleitung der Gruppen arbeiteten Elternbegleiter*innen mit den pädagogischen Fachkräften der jeweiligen Partnereinrichtung (Kita bzw. Schule) zusammen. Dafür würden Eltern aus den am Programm beteiligten Kitas und Schulen ausgebildet. Die pädagogischen Fachkräfte der Bildungseinrichtungen fungierten als Gruppenleiter.

Britta Kreuzer und Jasmin Harbers betonten, dass durch die Umsetzung dieses Peer-Ansatzes (von Eltern für Eltern) gleich mehrere Effekte erreicht würden, die für eine gelungene Ansprache und Werthaltung in der Familienarbeit zentral seien.

Die Augenhöhe würde unter anderem dadurch erreicht, dass Elternbegleiter*innen und Eltern beide mehrsprachig seien und aus dem gleichen Sozialraum stammten. Ohnehin entstehe durch die Sozialraumorientierung eine authentische Verbundenheit und Vertrauensstärkung zwischen den Eltern. Im Mittelpunkt der Zusammenarbeit stünden zwar die beteiligten Familien und deren Kinder, aber auch die Elternbegleiter*innen selbst würden dadurch in ihren Kompetenzen gestärkt. Die Eltern erlebten, dass ihre eigenen Lebenserfahrungen und ihre Erziehungskompetenz anerkannt werde und sie diese in die Förderung ihrer Kinder einbringen könnten. Eltern würden sich hier gleichzeitig als Teilnehmende und Mitgestaltende erleben. Das Programm verfolge einen Multiplikatorenansatz von Eltern für Eltern, statt Fachkräfte „von außen“ einzusetzen. Zudem würden die Elternbegleiter*innen durch die Qualifizierung Fachkompetenzen erlangen und sich für den ersten Arbeitsmarkt qualifizieren. Die Stärkung der Sprachbildung, insbesondere durch das mehrsprachige Angebot, stärke dabei die Familiensprache und verhelfe zur einer Anregung zur Spracherziehung.

Ein weiterer Leitgedanke sei, dass der partizipative Ansatz auf allen Ebenen Wirksamkeit entfalte: Die Eltern hätten Mitsprache und Gestaltungsspielraum in der Angebotsentwicklung. Die Familienbegleiter*innen würden als Akteure im Gemeinwesen wahrgenommen. Pädagogische Fachkräfte und Bildungsinstitutionen würden von der Wechselseitigkeit profitieren und sich hinsichtlich einer effektiveren Unterstützungsleistung weiterentwickeln. Für die Umsetzung des partizipativen Ansatzes sei das Projekt auf Offenheit und Flexibilität der Bildungseinrichtungen angewiesen. Es brauche eine hohe (Kultur-)Sensibilität sowie eine Bedarfsorientierung für die Erreichbarkeit der Familien und die Annahme der Angebote. Hervorgehoben wurde, dass generell eine stärkere Diversitätsorientierung der Bildungseinrichtungen notwendig sei, um Familien besser anzusprechen. Die Bildungseinrichtungen müssten sich stärker auf Mehrsprachigkeit und Vielfalt der Familien einstellen und diese als Ressource begreifen. Die Kultursensibilität sei insbesondere in der aufsuchenden Arbeit erforderlich. Programme wie „Griffbereit“ und „Rucksack-Kita“ seien grundsätzlich auf „Komm-Strukturen“ ausgelegt, könnten hier jedoch auch für „Geh-Strukturen“ einen Beitrag leisten: eine Hauskultur verändere sich, wenn dort regelmäßig mehrsprachige Familien teilnehmen würden.

Als herausfordernd für die Umsetzung des Programms wurden die sehr sprachheterogenen Gruppen sowie eine eingeschränkte Mobilität in den Flächenländern beschrieben. Letztlich sei auch eine Lebensweltorientierung nur realisierbar, wenn die Organisationsentwicklung personell und strukturell entsprechend aufgestellt sei. Britta Kreuzer hob hervor, dass sich in der Durchführung von derartigen Projekten stets folgende Fragen stellten:  Worum geht es in den Familien? Wie werden sie erreicht? Wo ist Beteiligung möglich? Welche Rahmenbedingungen gibt es?

Wünschenswert sei, dass die Programme langfristig wirken können. Dazu gehöre auch eine entsprechende Finanzierung. Statt als Einjahresprojekt über ein Bundes- oder Landesprogramm sei über die Anschubfinanzierung hinaus eine dauerhafte Finanzierung, zum Beispiel über kommunale Mittel notwendig. Dies sei auch gut begründbar, schließlich böten derartige Projekte für Kommunen einen vielfältigen Mehrwert. Positiv sei beispielsweise die Qualifizierung der Elternbegleiter*innen für den ersten Arbeitsmarkt, woraus sich für die Personen neue Zukunftsperspektiven ergeben würden. Für die Projekte hätte dies jedoch den praktischen Nachteil, dass qualifizierte Elternbegleiter*innen für das Projekt verloren gingen. Eine bessere finanzielle Entschädigung der Elternbegleiter*innen könnte dem entgegenwirken. Letztlich wurde herausgestellt, dass die Erreichbarkeit der Familien auch in diesem Programm auf dem Aufbau eines funktionierenden Netzwerkes angewiesen sei. Die Ansprache von Eltern erfolge in den Projekten vielfach über Mund-zu–Mund-Propaganda. Die Netzwerke müssten jedoch zunächst aufgebaut werden, wenn sie nicht ohnehin bereits vorhanden seien; Kinderärzte, Hebammen und Gynäkolog*innen sowie Stadtteilzentren, Familienzentren und aufsuchende Arbeit müssten dabei miteinbezogen werden.

 

2. „Powersharing in der Praxis“

Elizaveta Khan (In-Haus | Integrationshaus e.V.)Wie die eigene Werthaltung die Praxis konkret beeinflussen kann, zeigte Elizaveta Khan vom In-Haus | Integrationshaus e.V. in Köln. Das In-Haus ist interkulturelles Zentrum der Stadt Köln, Träger der freien Jugendhilfe und Integrationskursträger. Mit vielen Beispielen aus ihrer täglichen Arbeit stellte Elizaveta Khan im Workshop die im Integrationshaus gelebte Idee des Powersharings vor. Dabei wurden die Workshop-Teilnehmenden angeregt, die vorgestellten theoretischen Überlegungen in ihre jeweiligen persönlichen Tätigkeitsfelder zu übertragen.

Workshop-Bericht weiterlesen

Jede Ebene von Unterstützungsstruktur habe, so Khan, Macht in Form von Ressourcen, Zugängen, Mitteln und Räumen, die mit gesellschaftlich minorisierten Individuen und Gruppen geteilt werden könnten. Eine „Poweranalyse“ frage im ersten Schritt nach den Möglichkeiten und Spielräumen von Individuen und Institutionen, die eigene „Power“ (dazu gehören z.B. Handlungsmacht, Definitionsmacht, Spielräume, Möglichkeiten, Privilegien) zu erkennen und zu reflektieren. Im zweiten Schritt setze das „Powersharing“ die Erkenntnisse in die Praxis um. Damit bilde „Powersharing“ das unterstützende Gegenstück zum „Empowerment“, welches die Selbst-Ermächtigung von minorisierten Gruppen und Individuen bezeichne.

Die Förderung von Resilienz sei, so Elizaveta Khan, eines der ausgewiesenen Ziele sozialer Arbeit. Da sich Resilienz aus internen und externen Ressourcen ausbilde, müsse sich Soziale Arbeit vor allem auf die gerechte Verteilung von und dem Zugang zu Ressourcen fokussieren. Dazu gehöre zum Beispiel das Bereitstellen von Räumen, Mitteln oder auch juristischer Trägerschaft bei gleichzeitiger Abgabe von Entscheidungsmacht. An dieser Stelle bezog sich Khan auf das Neun-Stufen-Modell der Partizipation nach Roger Hart (1992) und Wolfgang Gernert (1993), das Entscheidungsmacht als höchste Form der Partizipation ausweist. Das Modell könne Unterstützungsgebenden als „Selbstcheck“ dienen, inwiefern die eigenen Angebote tatsächlich partizipativ gestaltet seien.

Neun-Stufen-Modell der Partizipation nach Roger Hart (1992) und Wolfgang Gernert (1993)

Neun-Stufen-Modell der Partizipation nach Roger Hart (1992) und Wolfgang Gernert (1993).  Quelle: Präsentation Elizaveta Khan.

Problematisch sei, so Elizaveta Khan, dass die derzeitigen Rahmenbedingungen echte Partizipation oft verhinderten – so müssten zum Beispiel in Förderanträgen Zielgruppen problematisiert und eine ressourcenorientierte Beschreibung vermieden werden, um erfolgreich zu sein: „Wenn die Familien wissen würden, wie wir in den Projektanträgen über sie schreiben, würden sie nicht mehr kommen“, so Elizaveta Khan. Auch benötigten partizipative Prozesse Zeit und Ergebnisoffenheit, was mit der Realität von Bewilligungszeiträumen und Projektvorgaben in Konflikt stünde.

Elizaveta Khan regte die Workshop-Teilnehmer*innen mit folgenden Fragen an, im eigenen Einflussbereich „Powersharing“ umzusetzen: „Was kann ich/meine Institution teilen?“ und „Wo stehen die Angebote meiner Institution im Neun-Stufen-Modell und wie könnte ich die nächste Stufe der Partizipation erreichen?“. Es gehe um einen gemeinsamen Lernprozess, der fortwährend diese Fragen stellt und Unterstützungsgebende ausbildet, die gut und aktiv Zuhören.

Abschlussdiskussion & Ausblick

Elena Gußmann, BFFElena Gußmann verabschiedete die Runde mit einer Zusammenfassung der wichtigsten Diskussionspunkte, die zugleich einen Ausblick auf die folgenden Fachforen darstellten: Es habe sich gezeigt, dass partizipative Ansätze und eine selbstkritische Auseinandersetzung mit eigenen Werthaltungen Voraussetzung für gelingende Familienunterstützung seien. Benannt wurde der Bedarf, Partizipationsmöglichkeiten nicht nur auf der Ebene der Fachkräfte im Blick zu haben. Auch auf der Verbands- und Leitungsebene sollten sich eine wertschätzende Haltung und Einflussnahme auf die Gestaltung von Rahmenbedingungen widerspiegeln. Welche finanziellen und strukturellen Veränderungen dafür notwendig seien, werde in folgenden Veranstaltungen der Themenperiode diskutiert.

Fotos: Holger Adolph, AGF

Impulsworkshop am 28. Juni 2022: „Empowerment als Leit- & Zielperspektive in der Familienunterstützung“

Berlin, 28.06.2022 | Das Bundesforum Familie hat sich für die Themenperiode 2022/23 die Frage zum Ziel gesetzt: Wie können Familien nicht nur gut betreut oder versorgt, sondern nachhaltig gestärkt und befähigt werden? Welche Haltungen, Strukturen und Ressourcen werden dafür in den Angeboten der Familienunterstützung benötigt? In diesem Zusammenhang ist häufig von „Empowerment“ die Rede. Doch was verbirgt sich hinter diesem Begriff? Zu dieser Frage diskutierten über 50 Teilnehmende aus den Mitgliedsorganisationen des Bundesforums Familie mit der Referentin Yasmine Chehata.

Bei der Kick-Off-Veranstaltung am 22. März 2022 war bereits eine erste Strukturierung der aktuellen Themenperiode erarbeitet worden. Der Beirat hatte in diesem Zusammenhang angeregt, dass für die nachfolgende Bearbeitung ein gemeinsamer Austausch zum Empowerment-Begriff grundlegend und zielführend sei. Dementsprechend lud die Geschäftsstelle die Mitgliedsorganisationen des Bundesforums Familie zu einem Impulsworkshop am 28. Juni 2022 mit Yasmine Chehata (TH Köln, Herausgeberin des Sammelbandes „Empowerment und Powersharing“ [2020]) ein.

Was ist Empowerment (nicht)?

Yasmine Chehata startete ihren Impulsvortag mit der Betonung ihrer Perspektive: Sie beziehe sich vor allem auf rassismuskritische Diskurse. Aus dieser Sicht ergebe sich die Notwendigkeit, auf die ursprüngliche Intention des Konzepts aufmerksam zu machen, wenn der Empowerment-Begriff übernommen werde. So sei das planmäßige Einwirken auf Andere kein Empowerment im eigentlichen Sinne. Empowerment sei weder eine vermittelbare Kompetenz noch ein in Methode umsetzbares Wissen. Aus ihrer Sicht sei es eine Verwechslung, Empowerment als Instrument zu verstehen, um Menschen in den bestehenden Verhältnissen anzuleiten und damit zu stärken. Stattdessen bezeichne der Empowerment-Ansatz, dass Menschen sich selbst stärkten, um bestehende Verhältnisse zu verändern. Dementsprechend verkenne die Nutzung des Empowerment-Begriffs durch z.B. staatlich institutionalisierte und/oder professionalisierte Akteure diese Idee von Selbstermächtigung und angestrebter struktureller Veränderung.

Yasmine Chehata betonte die Ursprünge des Begriffs in der Schwarzen Bürger*innenrechtsbewegung. Zwar habe sich seitdem der Begriff in seiner Nutzung und Ausprägung stark verändert, die Zielrichtung sei aus ihrer Sicht jedoch nach wie vor eine Veränderung der gesellschaftlichen sozialen und ökonomischen Verhältnisse. Dies sei unmittelbar verbunden mit Konfliktivität. Empowerment, so Chehata, sei daher kein friedliches Konzept. Es gehe nicht um individuelles Bewältigen von Benachteiligungen, sondern um kollektive Öffnung und Aneignung von Berechtigungsräumen. Diesen Zielhorizont definiere eine minorisierte Community selbst. Inwieweit also Empowerment als Leit- und Zielperspektive in der Familienunterstützung durch professionelle und/oder institutionalisierte Akteure sinnvoll sei, sei mindestens fraglich. Es müsse hinterfragt werden, mit welcher Absicht hier der Empowerment-Begriff genutzt werde.

Powersharing und Handlungsmöglichkeiten professionalisierter staatlicher Akteure

Yasmine Chehata betonte, dass wenn Empowerment im ursprünglichen Verständnis genutzt würde, ein „Empowern“ von Anderen unmöglich wäre. Empowerment sei daher nicht die Aufgabe professionalisierter bzw. staatlicher Institutionen. Sie schlug als Kompromissformulierung vor, dass diese jedoch „empowermentorientiert“ handeln könnten. Dies bedeute, Empowermentpraktiken zu flankieren und durch Abgabe von Ressourcen, Macht und Raum Platz für Empowermentprozesse zu schaffen. Es gelte, auf diese Weise an langfristigen Veränderungen mitzuwirken oder diese zumindest nicht zu stören. In diesem Zusammenhang stellte Yasmine Chehata den Begriff des Powersharings vor. Damit würden Praktiken bezeichnet, die das Teilen von Zugängen, Möglichkeiten und Positionen anstrebten und so Macht von den privilegierten Institutionen auf die marginalisierten Gruppen umverteilten. Powersharing sei somit empowermentorientiertes Handeln, das strukturell privilegierte Akteure zu Verbündeten werden lasse. Yasmine Chehata schlug vor, das Erkennen von Veränderungserfordernissen und die Beschäftigung mit dem Eigenen in den Mittelpunkt im Rahmen der Themenperiode stattfindenden Reflexion zu stellen. Eine kritische Auseinandersetzung solle vor allem die eigenen Normalitäten hinterfragen anstatt die Werte der sogenannten „Anderen“. Statt also beispielsweise die Werte der Unterstützungsnehmenden zu hinterfragen gelte es, die Werthaltungen innerhalb der Unterstützungsstrukturen auf den kritischen Prüfstand zu stellen.

Behutsame Verstehensprozesse

In einem anschließenden Kommentar verwies Beiratsmitglied Prof. Dr. Paul Mecheril auf die unterschiedlichen Wissensebenen im Raum. So sei sowohl die akademische wie auch die lebensweltliche Ebene anwesend und Wissen und Erfahrungen dementsprechend unterschiedlich verteilt. Gerade daher sei es wichtig, behutsam und mit genügend Zeit über dieses Thema zu reden, um gemeinsam zu reflektieren und zu verstehen. Organisationen und Institutionen hätten verständlicherweise die Sehnsucht, ihre Arbeit als „gute“ Arbeit zu legitimieren. Diese Legitimation sei mit einem Empowerment-Ansatz, wie ihn Yasmine Chehata vorgestellt habe, nicht zu bekommen. In dem Sinne gebe es keine gute, d.h. „empowernde“ Institution in einem ungerechten System. Der Begriff Empowerment könne daher bestenfalls als Reflexionsinstrument dienen, um zu untersuchen, ob nicht auch unter der Überschrift „Empowerment“ strukturelle Benachteiligungen reproduziert würden. Diese Frage gelte es auszuhalten.

Diskussion

Die Impulse regten eine lebendige Diskussion unter den Teilnehmenden an. Grundtenor zahlreicher Wortmeldungen war ein gesteigertes Interesse an dem Ansatz des Powersharings, gleichsam wurde mehrfach auf die Problematik hingewiesen, dass der Input durch die akademische Sprache nur schwer zugänglich gewesen sei. Es bestehe großes Interesse an der Thematik in leichterer oder leichter Sprache für die Diskussionsteilnehmenden selbst, aber auch, um über die Veranstaltung hinaus möglichst viele Menschen auf dem Weg dieser Reflexion mitzunehmen.

Hervorgehoben wurde außerdem die Diversität der Organisationen im Bundesforum Familie. Hier seien sowohl sozialstaatliche Akteure als auch Selbstvertretungen anwesend und zusammen im Dialog. Die Stärke des Bundesforums sei, dass hier ergebnisoffen und in Anerkennung unterschiedlicher Perspektiven diskutiert würde. Es wurde nachgedacht, inwiefern das Bundesforum als Plattform noch attraktiver für selbstorganisierte Akteure marginalisierter Familien werden könne oder solle.

Ein vieldiskutierter Aspekt beleuchtete das Problem einiger Verbände und Organisationen, zugleich diskriminierte und diskriminierende Struktur zu sein. So liefen teilweise auch Selbstvertretungen benachteiligter Gruppen in ihren eigenen Strukturen Gefahr z.B. klassistische oder rassistische Ausschlüsse zu (re-)produzieren. Es gelte, sich jeweils zugleich selbstbehauptend und selbstkritisch zu bewegen. Konkurrenz oder Hierarchisierung unter verschiedenen benachteiligten Familien sei nicht zielführend. Zusammenarbeit und die Anerkennung anderer Akteure sei hier ein wichtiges Ziel, so einige Stimmen der Diskussionsrunde.

Diskutiert wurden auch pragmatische Möglichkeiten der Umsetzung. Was tun, wenn „von außen“ nicht empowert werden könne, die Gelder jedoch „von außen“ kämen? Wie sähe eine sinnvolle Förderung und Stärkung von Familien ohne Einmischung in der Praxis aus? Wie ließe diese sich organisieren?

Fazit und Anregungen zur weiteren Themenbearbeitung

Dr. Laura Block verabschiedete die Runde mit einem kleinen Fazit. Die Intention der Veranstaltung sei mitunter gewesen, eine selbstkritische Reflexion für die Arbeit mit und für Familien anzustoßen und Denkimpulse zu setzen. Dies sei in jedem Fall erreicht worden. Eine Zusammenfassung der Diskussion als Grundlage für die weitere Bearbeitung scheine ausgehend von der Vielzahl der Perspektiven und Wortmeldungen zwar schwierig, aber einige Punkte hätten sich deutlich gezeigt: 1. Es bestehe großes Interesse an einer sprachlich niedrigschwelligeren Vermittlung der dargestellten Konzepte von Empowerment und Powersharing. 2. Es brauche auch im Weiteren eine selbstkritische Auseinandersetzung mit den eigenen Strukturen, um Schwachstellen in der Familienunterstützung zu erkennen. 3. Familienunterstützung müsse, um nachhaltig zu sein, die Familien nicht nur innerhalb des Systems stärken, sondern auch verbesserte Bedingungen, d.h. strukturelle Veränderungen des Systems zum Ziel haben. Bei diesen Prozessen gelte es im Sinne des Powersharing-Ansatzes, benachteiligten Familien sowie entsprechenden Selbstorganisationen mehr (Gestaltungs-)raum zu erschließen.

Kick-Off-Veranstaltung am 22. März 2022: „Empowerment durch Unterstützungsstrukturen – Zugänge schaffen und Familien stärken“

Berlin, 22.03.2022 | Wie können Familien nachhaltig gestärkt werden? Wie erreicht Unterstützung die Familien, die sie brauchen? Und welche impliziten Annahmen stecken bereits in der Formulierung „Familien, die sie brauchen“? Was für normative, strukturelle und finanzielle Faktoren spielen eine Rolle bei der Gestaltung und Umsetzung von Unterstützungsangeboten? Zu diesen Fragen kamen die Mitglieder des Bundesforums Familie zur Auftaktveranstaltung der Themenperiode 2022/23 zusammen.

Begrüßung und Einleitung

Dr. Laura Block begrüßte die große Runde von über 50 Teilnehmenden aus den Mitgliedsorganisationen, die sich im digitalen Raum eingefunden hatte. Das rege Interesse bestätige die hohe Relevanz des im November 2021 auf dem Netzwerktreffen des Bundesforums Familie gewählten Themas für die Arbeit der Mitgliedsorganisationen. Die Kick-Off-Veranstaltung setze sich das Ziel, gemeinsam das Thema in seinen Aspekten zu diskutieren und aus den vielseitigen Beiträgen eine Grundlage für die weitere Bearbeitung in der Themenperiode zu schaffen. Der Beirat des Bundesforums Familie habe dazu im Vorfeld bereits einen Zugang erarbeitet, der heute vorgestellt und weiterentwickelt werden solle.

Ulrike Bahr, MdB (Vorsitzende des Familienausschusses des Deutschen Bundestags und Mitglied des BFF-Beirats) betonte in einem Grußwort die Wichtigkeit von Stabilität und Resilienz gerade in den aktuellen krisenhaften Zeiten. Dafür spiele die Stärkung von Familien eine wichtige Rolle. Die Verzahnung von Politik und zivilgesellschaftlichen Akteuren und die Zusammenarbeit mit der Wissenschaft sei dabei unabdingbar – sie wolle mit ihrer frisch aufgenommenen Beiratstätigkeit im Bundesforum Familie hierfür einen Beitrag leisten. So werde sie die Ergebnisse des Bundesforums Familie gerne an die Mitglieder des Familienausschusses weiterleiten – wie die eben erschienene Publikation „Platz für Familie“ der Themenperiode 2020/21.

Einführung: Ergebnisse des 9. Familienberichts zum Themenfeld Unterstützungsstrukturen

Titelbild der Präsentation von Dagmar Müller (DJI)

Präsentation von Dagmar Müller zum Download

Um dem Anspruch einer engen Zusammenarbeit mit der Wissenschaft gerecht zu werden und der Diskussion einen inhaltlichen Einstieg zu bieten, stellte Dagmar Müller vom Deutschen Jugendinstitut (DJI) die für das Thema Unterstützungsstrukturen relevanten Ergebnisse des Neunten Familienberichts vor. Als drei Kerndiagnosen der Sachverständigen-kommission seien der steigende Anspruch an Elternschaft, die zunehmende Diversität von Familien und die wachsende soziale Ungleichheit zu nennen. Diese Gemengelage sei deswegen problematisch, da die Intensivierung von Elternschaft vor dem Hintergrund ungleicher sozioökonomischen Voraussetzungen zu einer vermehrten psychosozialen Belastung in vielen Familienzusammenhängen führe. Hier gelte es zu entlasten: Die Empfehlung der Kommission ziele vor allem auf die Gewährleistung wirtschaftlicher Absicherung von Familien, aber auch auf Verbesserungen bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf und Anreize beim Elterngeld. Dagmar Müller betonte die Bedeutung der Befähigung durch Familienbildung und -beratung und der Weiterentwicklung der Hilfen zur Erziehung. Hierbei müsse das Präventionsdilemma berücksichtigt und entsprechend gegengesteuert werden, etwa durch die (Um-)Gestaltung der Zugänge und Settings von Unterstützungsangeboten. Der Familienbericht zeige, dass sowohl digitale Angebote als auch offene Angebote wie Familiencafés und Familienzentren hier einen wichtigen Beitrag leisteten. Allerdings gebe es auch Lücken: Beratungen in Trennungssituationen, bei der Nutzung digitaler Medien und Angebote für die Phase der Pubertät gebe es zu wenig und Väter würden immer noch schwer erreicht. Zudem müsse der Ausbau von Präventionsketten verstärkt werden.

Diskussion zur weiteren Themenbearbeitung

Die Ergebnisse des Familienberichts zeigten, dass das Thema „Empowerment durch Unterstützungsstrukturen“ einen Nerv treffe, so Sandra Clauß (Bundesarbeitsgemeinschaft Landesjugendämter und Mitglied des BFF-Beirats). Wie kann dieses sehr komplexe Thema gewinnbringend eingegrenzt und durch das Bundesforum Familie bearbeitet werden? Sandra Clauß stellte dafür einen Vorschlag für einen Zugang vor, der im Nachgang zum Netzwerktreffen am 22.11.2021 durch den Beirat erarbeitet worden war. Bestimmend seien darin die Wahrnehmung von Ambivalenzen im System der Familienunterstützung. Diese sollten mit selbstkritischem Blick reflektiert werden. Es gehe etwa darum, Stigmatisierungen in den Unterstützungsangeboten offenzulegen, beispielsweise durch die Frage, mit welchem Bild von Armut gearbeitet werde. Diese reflektierende Perspektive böte sich speziell nach der akuten Erfahrung der COVID-19-Pandemie an. Nach diesem „Stresstest“ der Strukturen brauche es jetzt ein Innehalten mit der Frage, was eine nachhaltig stärkende Unterstützung für Familien behindert und was sie gelingen lässt.

Mit diesen Leitfragen wurden die Teilnehmenden in kleinere Break-Out-Gruppen eingeladen. In einer ersten Phase diskutierten die Kleingruppen „Hürden, Barrieren und Restriktionen“, die gelingenden Unterstützungsstrukturen im Weg stehen. In einer zweiten Phase wurde nach „Wegen, Brücken und Spielräumen“ gefragt, die Familien stärken könnten. Nach jeder Phase wurden die Teilnehmenden eingeladen, ihre individuellen Ergebnisse schriftlich festzuhalten und über ein Umfrage-Tool der Geschäftsstelle des Bundesforums zukommen zu lassen.

Schlagwortwolke "Unterstützungsstrukturen"

Ausblick

Die reichhaltigen Rückmeldungen aus den Kleingruppen werden nun durch die Geschäftsstelle strukturiert und ausgewertet und daraus in enger Absprache mit dem Beirat ein Fahrplan für die inhaltliche Bearbeitung erstellt. Voraussichtlich wird die weitere Arbeit zunächst in Ad-Hoc-AGs stattfinden, die durch die Mitglieder des Bundesforums gestaltet werden. Zur konkreten Mitarbeit in diesen AGs werden die Mitglieder zeitnah eingeladen. Im Oktober 2022 wird das diesjährige Netzwerktreffen geplant, welches hoffentlich wieder als Präsenzveranstaltung in Berlin stattfinden wird. Sobald der definitive Termin feststeht, wird er an alle Mitgliedsorganisationen kommuniziert werden.